Drei Orangen, zwei Zitronen: −
Bald nicht mehr verborgne Gleichung,
Formeln, die die Luft bewohnen,
Algebra der reifen Früchte!
Licht umschwirrt im wespengelben
Mittag lautlos alle Wesen.
Trockne Blumen ruhn im selben
Augenblick auf trocknem Wind.
Drei Orangen, zwei Zitronen.
Und die Stille kommt mit Flügeln.
Grün schwebt sie durch Ulmenkronen,
Selges Schiff, matrosenheiter.
Und der Himmel ist ein blaues
Auge, das sich nicht mehr schließt
Über Herzen: ein genaues
Wunder, schwankend unter Blättern.
Drei Orangen, zwei Zitronen: −
Mathematisches Entzücken,
Mittagsschrift aus leichten Zonen!
Zunge schweigt bei Zunge. doch
Alter Sinn gurrt wie ein Tauber.
Obwohl in diesem Gedicht von Karl Krolow (1915 – 1999) vordergründig von Früchten die Rede ist, weist es eher auf eine subtile Mathematik einfacher Zahlen hin. Denn von Früchten, deren Farbe, Geschmack, Geruch… ist nicht die Rede. Wohl aber von den ersten Primzahlen, 2, 3 und 5. Denn das Gedicht ist aus Zweier- und Dreierelementen aufgebaut. Drei Strophen, die 1., die 3. und die 5. beginnen leitmotivisch mit den Worten „Drei Orangen, zwei Zitronen“ getrennt von zwei Strophen, der 2. und der 4. die den Kontext des „Geschehens“ umreißen. Jede Strophe hat 4 Zeilen, von denen je zwei den Endreim enthalten. Um die Mittelachse der dritten Strophe gruppieren sich die jeweils oben und unten angrenzende 2. und 4. sowie die 1. und 5. Strophe, die auch inhaltlich in Beziehung stehen.
Der Vers mit der Primzahl 5 schließt nicht nur das Gedicht ab, sondern enthält als Summe auch noch die den Versaufbau und die leitmotivischen 2 Zitronen und 3 Orangen prägenden Primzahlen 2 und 3.
Dass die Mathematik eine besondere Rolle in dem durch die 5 Südfrüchte durchwirkten Gedicht eine besondere Rolle spielt, zeigen die im Kontrast dazu vorkommenden Begriffe „Gleichung“, „Formeln“, „Algebra“, die im „Mathematischen Entzücken“ ihren emotionalen Höhepunkt finden. Die drei süßen Orangen werden gewissermaßen durch die 2 sauren Zitronen geschmacklich auf die Neutralität einer Einheit reduziert, die einem in Form eines beziehungsreichen Zahlenspiels bleibt.
Ich bekomme immer nur Hautpflegettipps anbei….
Mathematik aber auch Physik hat immerfort lyrische Ausläufer.
Beides braucht das aber nicht !!
Das ist meine feste Meinung!
Es braucht das nicht, denn Mathematik ist in sich „lyrisch“ genug.
„Selges“?
Das verstehe ich nicht. Hast Du dich da verschrieben, Joachim?!
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Mathematik und Physik sind Hervorbringungen derselben Kultur, in der auch Dichtung und Lyrik, sowie Kunst und Musik ihre Wirkung entfalten. Ich vermute, dass sie sich auch gegenseitig bedingen. Daher weiß ich nicht, ob sie sich nicht auch wechselweise brauchten, nicht explizit und selten so sichtbar wie in dem Krolowschen Gedicht.
„Selges“ ist meines Erachtes ein Wortspiel des Dichters, das wie die Wasserwellen zwischen „Segel“ und „Seliges“ schwankt 😉
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ach, wie toll! dichtung und mathematik geht genauso gut ineinander wie musik und mathematik… sehr fein, dieses gedicht und danke für die erhellenden erläuterungen 😊
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Ja, solche Gedichte, die die Beziehung zu der ach so nüchternen Mathematik explizit machen, gibt es nicht sehr viele. Dieses hat es mir angetan, weil es zum einen für sich selbst spricht, wenn man es beispielsweise laut aufsagt und andererseits dazu herausfordert, den Konstruktionsprinzipien des Dichters nachzuspüren… Vielen Dank für deine Würdigung 🙂
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Super!
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Danke, Jürgen! Ich war sehr entzückt, als ich dieses Gedicht fand und beim Aufsagen immer wieder auf neue Schichten stieß…
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Na, das ist doch mal eine Interpretation, die Freude macht! Und wieder passend illustriert …
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Vielen Dank! Diese Gedicht ließ mich einfach nicht los und als ich dann auch noch den Zitronenbaum fand oder er mich, war klar, dass ich dazu einen Blogbeitrag machen müsste.
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