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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie

Diese Kategorie enthält 197 Beiträge

Schwitzende Schmeißfliegen

Schmeißfliegen werden manchmal mit einen Tropfen angetroffen, der ihnen aus dem Mund heraushängt. Darin zeigt sich eine besondere Art des Schwitzens. Dabei wird zwar dasselbe physikalische Prinzip ausgenutzt, wie beim Schwitzen des Menschen, allerdings unterscheidet sich der Mechanismus der Körperkühlung. Während bestimmte Teile der Körperoberfläche des Menschen unwillkürlich mit winzigen Schweißtröpfchen überzogen werden, lassen die Fliegen einen im Vergleich zu ihrem Körper sehr großen Speicheltropfen aus dem Mund hängen. Dieser verdunstet ähnlich wie der Schweiß auf der menschlichen Haut. Die für die Verdunstung nötige Energie wird der Umgebung und das heißt vor allem dem Tropfen selbst entzogen. Der auf diese Weise abgekühlte etwas verkleinerte Tropfen wird anschließend erneut aufgenommen. Indem anschließend in der Fliege ein Temperaturausgleich zwischen dem vorderen Teil des Fliegenkörpers und dem Tropfen stattfindet, kühlt sich die Fliege ab, während sich der Tropfen wieder auf die Körpertemperatur der Fliege erwärmt.
Diese Methode funktioniert allerdings nur, wenn die Luftfeuchte genügend gering ist. Denn nur dann kann entsprechend viel Wasser verdunstet werden.
Entscheidend für das Schwitzen ganz allgemein ist die Besonderheit von Wasser eine große spezifische Verdampfungswärme zu besitzen. Das heißt, anders als bei vielen anderen Stoffen ist verhältnismäßig viel Energie nötig, um eine gegebene Wasserportion zu verdampfen.
Ein Schweißmechanismus wie beim Menschen ist bei den Insekten nicht möglich, weil das Chitinaußenskelett der Tierchen, die Wärme schlecht leitet.

Quelle

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Pareidolie am Sandstrand

Das Foto zeigt einen Stein auf einem Sandstrand, der von auf- und ablaufendem Wasser umströmt wird. Da der Sand aus hellen und dunklen Anteilen besteht, die sich in ihrer Dichte unterscheiden, kommt es bei der Strömung zu Entmischungen der beiden Sandsorten. Auf diese Weise werden die beiden Wirbel des sandbeladenen strömenden Wassers hinter dem Hindernis visualisiert. Insgesamt wird ein fast symmetrisches Strömungsmuster um den Stein herum gezeichnet.
Als ich an dem Strand an diesem Muster vorbeikam drängte sich mir allerdings ein ganz anderes Bild auf: Ich sah und sehe auf dem Foto einen Hundekopf oder den Kopf eines ähnlichen Tiers. Vielleicht geht es ja der einen oder dem anderen auch so. Dabei zeigt sich ein merkwürdiges Phänomen. Die Struktur drängte sich mir umso stärker auf, je weiter ich mich entferte, bzw. je kleiner das Netzhautbild wurde. Dieser Eindruck wiederholte sich, als ich das Foto hier zunächst möglichst groß darstellen wollte und dabei den Eindruck gewann, dass sich die Pareidolie umso deutlicher aufdrängt, je kleiner die Darstellung ist (siehe kleines Bild).
Das erinnert mich an ein Kunstwerk auf dem Straßenpflaster vor dem Picasso-Museum in Münster, in dem das Konterfei des Künstlers nur aus gehöriger Entfernung bzw. Höhe zu erkennen ist. Dazu gibt es einen früheren Beitrag.

Komplexe Strukturen

Komplexität ist eine scheinbare Unordnung, bei der man Gründe hat, eine verborgene Ordnung zu vermuten; oder auch, Komplexität ist eine Ordnung, deren Code man nicht kennt.* (Übers. HJS)

Dennoch kann man sich angesichts dieses vielschichtigen Gebildes des Eindrucks nicht erwehren, dass man es mit einer wie auch immer zu benennenden Ordnung zu tun hat, die ihre Berechtigung nicht aus einer abstrakten Gesetzmäßigkeit bezieht, sondern letztlich aus einem tief empfundenen Gefühl für die Schönheit der Struktur.


* Henri Atlan. Entre le cristal et la fumee. Paris 1979, p.78 (Im Original: „la complexité est un désordre apparent ou l’on a des raisons de supposer un ordre caché; ou encore, la complexité est un ordre dont on ne connait pas le code.“

Trockenrisse und Landgewinnung

Obwohl Trockenrisse heute mehr als Symbol für ausgetrocknete Gewässer und durch Trockenheit verlorenes Ackerland wahrgenommen werden, ist ihnen aufgrund von naturschönen Mustern oft ein ästhetischer Reiz nicht abzusprechen. Im vorliegenden Fall handelt es sich sogar um ein Beispiel, bei dem Land gewonnen wird. Das Foto ist am Wattenmeer in Ostfriesland aufgenommen worden. Es zeigt nicht nur, dass schlammartiger Boden ausgetrocket wird, sich daher zusammenzieht und in einzelne Erdschollen zerreißt. Darüberhinaus erkennt man, dass sich die Schollen nach oben krümmen, weil sie dort schneller austrocknen als unten und dadurch auf der Oberseite stärker schrumpfen als an der weniger trockenen Unterseite.
Im vorliegenden Fall rollen sich sogar mehrere dünne Schichten auf. Sie verweisen auf eine Periodizität während ihrer Entstehung, bei der in mehreren Überschwemmungen Sedimente abgelagert wurden.
Weitere Beiträge zu Trockenrissen findet man hier und hier und hier und hier und hier.

Die Geometrie ist ein fauler Witz

Bei meinem jüngsten Parisaufenthalt, besuchte ich einmal mehr das Pantheon. Nicht nur wegen des Foucaultschen Pendels, sondern auch in seiner Funktion als nationale Ruhmeshalle Frankreichs, in deren unteren Räumen sich die Grabstätte berühmter französischer Persönlichkeiten befindet. Auffällig postiert ist der Philosoph und Schriftsteller Voltaire (1694 – 1778), der eigentlich François-Marie Arouet hieß. In seinem umfangreichen Oeuvre kritisiert er die Missstände der Feudalherrschaft und die katholische Kirche. Er gilt als Vordenker der Aufklärung und hat seine Texte mit großem Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt seiner Zeitgenossen zum Ausdruck gebracht. Dabei bediente er sich eines zugleich allgemeinverständlichen und präzisen Stils, in dem er oft mit beißendem Witz und Ironie auch heutige Leser noch anzusprechen vermag. Man denke nur an seiner Novelle Candide oder der Optimismus.
Ich will nur eine kurze Passage aus seiner philosophischen Erzählung Jeannot und Colin erwähnen, die ich mir früher bei der Lektüre angestrichen hatte. Hier dekonstruiert er in ironischer Absicht eine der ältesten und ehrwürdigsten Disziplinen der Mathematik – die Geometrie:

Aber von allen Wissenschaften die absurdeste, die am besten geeignet ist, jede Art von Genie zu unterdrücken, ist meines Erachtens die Geometrie. Diese lächerliche Wissenschaft beschäftigt sich mit Flächen, Linien und Punkten, die in der Natur gar nicht vorhanden sind. Man läßt hunderttausend gekrümmte Linien zwischen einem Kreis und einer geraden Linie, die ihn berührt, hindurchlaufen, obwohl in Wirklichkeit nicht ein Strohhalm dazwischen Platz fände. Die Geometrie ist in Wahrheit nur ein fauler Witz.*

Dieser Text ist nicht für die Ohren von Schulkindern bestimmt 😉

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* Voltaire. Jeannot und Colin. In: Wie die Welt es treibt. Krefeld 1948, S. 87

Ein ungewagter Gang

Im Bremer Science Center Universum gibt es eine gläserne Brücke über einen vermeintlichen Abgrund. Obwohl kein Geheimnis daraus gemacht wird, dass man letztlich über eine Art transparenten Spiegel geht, der den Blick in die Tiefe herausfordert und man sich auf dem Kopf stehend (gespiegelt) dabei beobachtet, haben manche Menschen Angst darüber zu gehen. Um nicht als Angsthase zu gelten, gehen manche mit sturem Blick nach vorn darüber, um von diesen für sie offenbar verstörenden Illusionen nichts mitzubekommen.
Auch diesem harmlosen Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass der Verstand oft vor der bloßen illusionären Wahrnehmung ins Hintertreffen gerät.

Spiegelwelten

Obwohl der Spiegel doch nur „vorne“ und „hinten“ vertauscht, hat man manchmal seine liebe Mühe, eine Ordnung in die Spiegeleien zu bringen. Versucht es doch selbst einmal 😉
Spiegel sind seit Menschengedenken, spätestens seit Narziss (siehe Ovids Metamorphosen), eine Herausforderung für die Menschen. Eine dieser Herausforderungen besteht in der Beantwortung der Frage, ob man dem Spiegel vertrauen kann.

Den eigenen Rücken im Anprobespiegel zu sehen, beruht vor allem auf dem Wissen, daß es das gibt und daß ‚es geht‘. Man kennt das Hantieren mit zwei Spiegeln und die Bedingungen, unter denen der zweite Spiegel das Bild im ersten zeigt. Man kennt einfache Gesetzmäßigkeiten der Reflexion. Aber man ’sieht‘ in einem einigermaßen wissensunabhängigen Sinn nichts, was die Zugehörigkeit des Gesehenen zum Eigenleib unmittelbar ansichtig macht, etwa ohne Erinnerung an bestimmte Merkmale und Anomalitäten aus früheren Handlungen gleicher Art. Wir kennen uns von hinten nur auf Umwegen und unter reduziertem Gewißheitsgrad.“*

Fazit: Verachte nicht die Spiegelbilder. Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, einige den Augen direkt entzogene Partien des eigenen Körpers zu sehen.

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* Hans Blumenberg. Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt am Main 1997, S 378

Es ist mal wieder Pi-Tag

Heute feiern einige Leute den Pi-Tag. Nach der amerikanischen Schreibweise lautet das Datum des heutigen Tages 3/14, die ersten drei Ziffern der Zahl Pi, mit der wir im Mathematikunterricht zu tun hatten/haben und – was wohl den wenigsten bewusst ist – für alles Runde in der Welt zuständig ist.
Ein Beispiel sind die Speiseölreste in der Pfanne (Foto), die sich nach Zugabe von Wasser zu fast perfekten Kreisen organisierten, wobei die Perfektion der Rundung mit der Zahl der Nachkommazahlen der Zahl Pi wächst.
Wisława Szymborska hat ihre Gedanken zu Pi in dem folgenden Gedicht zum Ausdruck gebracht.

Die Zahl Pi

Bewundernswert ist die Zahl Pi
drei Komma eins vier eins.
Auch alle Folgeziffern sind nur Anfang,
fünf neun zwei, weil sie nie ein Ende findet.
Sie läßt sich nicht einfangen sechsfünf dreifünf mit einem Blick
acht neun mit einer Berechnung
sieben neun mit der Phantasie,
sogar drei zwei drei acht mit einem Scherz, das heißt Vergleich
vier sechs mit irgend etwas
zwei sechs vier drei in der Welt.
Die längste Schlange der Erde reißt nach ein paar Metern ab.
Ähnlich, zwar etwas später, tun’s die Fabelschlangen.
Der Zug der Ziffern, aus denen die Zahl Pi besteht,
hält nicht am Rande des Zettels an,
er zieht sich über den Tisch hinaus, durch die Lüfte,
durch Mauern, Blätter, Vogelnester, Wolken, stracks zum Himmel,
durch alle Aufgeblasenheit und Bodenlosigkeit des Himmels.
O wie kurz, wie mauskurz ist der Kometenschweif!
Wie schwach der Strahl des Sterns, daß er sich krümmt im erstbesten Raum!
Und hier zwei dreifünfzehn dreihundert neunzehn
meine Fernsprechnummer deine Kragenweite
das Jahr eintausendneunhundertdreiundsiebzig sechster Stock
Einwohnerzahl fünfundsechzig Groschen
der Hüftumfang zwei Finger Scharade und Chiffre,
in welcher mein Nachtigallchen, flieg und sing
ebenso bitte Ruhe bewahren
oder Himmel und Erde vergehn,
nicht die Zahl Pi allerdings, oh, nein, die nicht,
sie hat noch ihre gar nicht üble fünf,
nicht beliebige acht,
nicht letzte sieben,
wenn sie, ach, wenn sie die träge Ewigkeit antreibt
zum Dauern.*

Wer weitere Facetten des Pi-Tags kennenlernen möchte, kann sich u. A. hier und hier und hier und hier und hier informieren.
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* Wisława Szymborska (1923 – 2012). In: Hundert Freuden. Frankfurt am Main, 1986.

Eingebildetes Rot

Hier wurde ein grünes Trinkglas mit einem brennenden Teelicht vor eine weiße Wand gestellt. Und siehe da, man sieht etwas, was gar nicht vorhanden sein kann – der rötlich erscheinende Bereich an der Wand. Ausgerechnet dort, wo das ungefilterte weiße Kerzenlicht auf die Wand trifft, tritt eine Farbe auf, die objektiv gar nicht vorhanden ist.
In der Tat erliegen wir hier einer veritablen optischen Täuschung. Davon kann man sich überzeugen, wenn man den vermeintlich roten Bereich durch eine Röhre betrachtet und damit den übrigen visuellen Kontext ausschaltet. Dann sieht man die Wand wie sie ist – weiß vom weißen Kerzenlicht.
Schuld an dieser Täuschung ist die chromatische Adaption, die anschaulich als die Tendenz unserer Augen bezeichnet werden kann, die überwiegende Farbe in einem Raum als weiß zu sehen. In einer neuen Lichtsituation – wie hier durch den höheren Grünanteil – wird die Empfindlichkeit der grünes Licht erfassenden Zapfen unserer Augen im Verhältnis zu den anderen Farbanteilen reduziert. Die von grünem Licht beleuchtete Wand wird daher als weniger grün angesehen als sie „in Wirklichkeit“ ist. Da aber auch die Grünanteile der – objektiv gesehen – weißen Wand vermindert werden, dominiert die Komplementärfarbe von Grün, so dass die Wand einen Rotschimmer aufweist.
Dass auch die Kamera dieser Täuschung unterliegt, wird oft mit Verweis auf die Objektivität der Fotografie angezweifelt. Doch die Kamera ist im Automatikmodus gerade so ausgelegt, dass durch einen sogenannten Weißabgleich dafür gesorgt wird, die Dinge auf dem Foto möglichst genau so aussehen zu lassen, wie man sie mit eigenen Augen sieht.
Wer dieses Freihandexperiment selbst ausprobieren möchte, muss nicht unbedingt eine grünes Glas nehmen. Gläser mit anderen Farben funktionieren genauso gut. Allerdings sieht man dann natürlich andere Komplementärfarben. Die Gläser müssen allerdings gut durchgefärbt sein, damit das Phänomen eindrucksvoll in Erscheinung tritt.

Mineralische Bäumchen im Steinbruch

Diese schöne Steinplatte habe ich ganz bei uns in der Nähe in einem Steinbruch freigelegt, indem ich ohne großen Aufwand eine darüber liegende Platte abgehoben habe. Ich war sofort begeistert von diesen naturschönen Strukturen. Man blickt hier allerdings nicht auf versteinerte Bäumchen, obwohl es sich ebenfalls um dendritische (dendrites: zum Baum gehörend) Objekte handelt. Diese Dendriten sind vor vielen Millionen Jahren im Plattenkalk gewachsen. Es handelt es sich um Eisen- und Manganabscheidungenen auf Kluftflächen des Kalks. Entstanden sind sie dadurch, dass mineralreiches Wasser mit hohen Konzentrationen von Eisen und Mangan von Ritzen im Gestein ausgehend in mikroskopisch kleine Hohlräume zwischen den Kalksteinlagen eingedrungen sind und sie haben durch ein sogenanntes diffusionsbegrenztes Wachstum (DLA) diese dendritischen Muster hervorgebracht haben.
Der Vorgang lässt sich übrigens in einfachen Freihandexperimenten nachvollziehen ohne Äonen auf das Ergebnis warten zu müssen.

Kugelmania

Die Kugel ist eine Sehnsuchtsform der Materie getrieben vom tiefen Blau. Auch wenn die vollendete Kugel als solche kaum jemals erreicht wird, gibt diese archetypische Idealgestallt viele Bestrebungen und Bewegungen in der Natur vor. Mir ging es in dieser Darstellung weniger um ein realistisches Beispiel als vielmehr darum, die Mühen der Bestrebungen mit all ihren Unvollkommenheiten gewissermaßen symbolisch zu visualisieren, nachdem viele Beiträge direkt oder indirekt mit der Kugel als die Gestalt zu tun haben, die ein Volumen mit der kleinsten Oberfläche begrenzt.

Wegschneiden der wilden Triebe

FORM UND STOFF
Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zu viel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?*
In dieser Herr-Keuner-Geschichte bringt Bertolt Brecht auf poetische Weise zum Ausdruck, dass man durch Idealisierung der Wirklichkeit verlustig gehen kann. Das hat durchaus einige Relevanz für die Physik, denn diese ist auf Idealgestalten gegründet. Das ist ein wesentlicher Aspekt der physikalischen Sehweise und ihres Erfolgs. Aber es sollte niemals vergessen werden, dass damit nur eine von mehreren Perspektiven der Wirklichkeit angesprochen wird. Wenn man diese Idealgestalten stillschweigend voraussetzt und nicht selbst zu einem wichtigen Gegenstand des Nachdenkens über Physik macht, läuft man Gefahr, dass die Physik unverständlich bleibt und vor allem die Laien sich von der Physik abwenden oder sich ihr gar nicht erst zuwenden.
„Je tiefer man übrigens eindringt, je mehr man wegschneidet, je fester man umklammert, was man festhält- das scheinbar Reale-, desto näher findet man sich dem Unverstehbaren, dem In-bezug-auf-den-Menschen-Formlosen; dem Unähnlichen– die Wahrheit hat mit nichts Ähnlichkeit“**.


*Bertolt Brecht. Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt/Main 2004, S. 15

** Paul Valéry. Cahiers 2. Frankfurt 1988

Zur Berechenbarkeit der Welt

Der Vergleich unseres solaren Planetensystems mit einem Uhrwerk ist nicht ganz abwegig. Immerhin ist die Sonnenuhr eine der ersten Uhren, die den Menschen die „Uhrzeit“ brachte. Sie macht von der berechenbaren Regelmäßigkeit der Eigendrehung der Erde Gebrauch. Schon im Altertum konnten Sonnenfinsternisse auf der Grundlage von Berechnungen ziemlich genau vorhergesagt werden.
Der auf dieser Berechenbarkeit beruhende Determinismus ist eine der Grundlagen der neuzeitlichen Physik. Einen spektakulären Höhepunkt erlebte die „Berechenbarkeit der Welt“ mit der Entdeckung des Planeten Neptun durch Urbain Le Verrier (1811 – 1877) im Jahre 1846. Dies gelang ihm, ohne sein Studierzimmer verlassen und den Blick gen Himmel erhoben zu haben. Columbus musste noch mit drei Karavellen in See stechen, um den Seeweg nach Indien zu finden. Ein waghalsiges Unternehmen, bei dem er nicht sicher sein konnte, seine Heimat wiederzusehen. Er kam nie in Indien an, entdeckte dafür aber den Kontinent Amerika. Das war eine Zufallsentdeckung, während die Entdeckungen der Astronomen gezielt und mit mathematischer Gewissheit durchgeführt wurden. Le Verriers Erfolg trug nicht unerheblich zum Mythos der neuzeitlichen Physik bei: Die Welt ist berechenbar, und rechnen lernt man bereits in der Schule.
Allerdings war in diesem Vorgehen der Wurm drin, der sich zu einer Krise der Berechenbarkeit natürlicher Systeme schlechthin auswachsen sollte. Zum einen waren die Berechnungen sehr lang und standen damit weder im Einklang mit dem vermeintlich mathematisch einfach strukturierten Planetensystem, noch führten sie zu einem eindeutigen Ergebnis. Neben Le Verrier hatte mindestens ein zweiter Wissenschaftler zwei Jahre lang gerechnet, John Couch Adams (1819 – 1892). Er kam zu einer anderen Bahn für den Planeten. Beide Berechnungen waren nicht wirklich gut, auch wenn sie mit etwas Glück zum Erfolg führten: der neue Planet wurde tatsächlich in der Umgebung der berechneten Stelle gefunden.
Der Grund für diese Uneindeutigkeiten liegt darin, dass die Keplerschen Gesetze, auf denen die Berechnungen beruhen, exakt nur für zwei Himmelskörper gelten. Das Sonnensystem besteht aber aus vielen Planeten und Planetoiden, sodass es zu gegenseitigen Störungen kommt, derer man mit einer aufwändigen Störungsrechnung Herr zu werden versucht. Letztlich gibt es neueren, auf umfangreichen Computersimulationen beruhenden Rechnungen zufolge aber keine eindeutigen Ergebnisse. Auf absehbare Zeit müsse man sogar davon ausgehen, dass einige Planeten aus der Reihe tanzen werden. Denn das Sonnensystem ist chaotisch.
Dieser Wurm des Chaos war auch bei den Rechnungen, die zum Apolloprogramm durchzuführen waren, virulent. Ohne aufwändige Computerrechnungen und Korrekturen während des Fluges wäre die Landung auf dem Mond nicht möglich gewesen.
Die Keplerbahnen sind nichts weiter als Annäherungen, die gerade genügen, eine Vorstellung von den Bahnen im Verlauf einiger Jahrhunderte oder Jahrtausende zu geben. Auch wenn das gemessen am menschliche Zeitbewusstsein als ausreichend angesehen werden kann, werden die auf solchen Berechnungen beruhenden Aussagen zum Planetensystem über größere Zeiträume gesehen äußerst problematisch, wenn nicht gar irrelevant.

Physik und Literatur – Von Sand und Pixeln

Früher wurden die Bilder noch über den Umweg – Auge-Gehirn-Hand-Pinsel – gestaltet. Heute sind es Pixel, in ihrer Abstraktheit kaum zu überbieten. Dennoch vertrauen wir ihnen oft mehr als dem Auge von – sagen wir – Leonardo da Vinci. So habe ich die Wüste gesehen, denke ich, wenn ich den hier visualisierten Datensatz vor Augen habe (siehe Foto). Am besten man denkt nicht weiter darüber nach. Oder? Lassen wir noch kurz Ulrike Draesner zu Wort kommen, die sich darüber Gedanken macht:

Lukas stand auf einem Küchenstuhl und preßte mit aller Kraft eine Reißzwecke in die Wand. Sein Daumennagel war ganz weiß, die Fingerkuppe puterrot. Im Institut hatten sie beim Aufräumen ein Poster mit einer Erdaufnahme des Hubble Space Telescope entdeckt. Da niemand es wollte, hängte Lukas es jetzt überm Küchentisch auf.
Aloe hatte einfach getan, als interessiere sie sich plötzlich brennend für Formel I. Sein Versuch, mit ihr zu reden, war fehlgeschlagen.
Kaum nahm Lukas den Daumen von der Wand, fiel die Reißzwecke wieder heraus. Wahrscheinlich steckte ausgerechnet an dieser Stelle ein Stein. Aber er konnte nicht ausweichen, ohne die drei anderen Kartenecken, die er schon angepinnt hatte, auch wieder zu lösen. Lukas stieg vom Stuhl und betrachtete die aus Millionen von Datenbits zusammengepixelte Aufnahme. Eine geradezu mystische Verschmelzung von Präzision und Phantasie. Alle Pixel echt, alle Farben falsch. Bodenschätze, versteckte Stollen, Ölfelder, Brände und Wald. Computerrhododendren sprossen über die Ozeane, durch die Wüsten zogen sich feine schaumige Riffs weißlicher Stürme, um den Nordpol flockte eine Wolke heller Bläschen, die aussahen, als stecke in jeder ein Babyhai, der in seiner Raumfahrerkapsel durch eine gallertige Masse Nahrung trieb. Jede Farbe ein Ausbruch, ein Gefühl, vieldeutig und rätselhaft. Über Mittelamerika saß eine riesige, grünbraun gesprenkelte Schildkröte, in deren Mitte ein roter Fleck leuchtete wie ein zyklopisches Auge. Er mochte diese Mischung von Genauigkeit und Wahn. Sie erinnerte ihn an mittelalterliche Gemälde vom Rand der Welt und seinen fabelhaften Wesen; hier kehrten sie als harte >Fakten< wieder, waren aber eigentlich nichts als eine Folge von Nullen und Einsen, kein einziges Pigment zunächst, kein einziges Element – ganz irrealer Stoff.
*


* Ulrike Draesner. Mitgift. München: Luchterhand 2002, S. 129f

Hoffnung

Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft;
kein Plan ist selber gut ohne diesen gründlichen Glauben in ihm.*

 

 


Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt 1973. S. 519

Das Heilige in der Physik

Was soll jemand denken, wenn sie oder er mit einem Mitmenschen die Schatten betrachtet, die die morgendliche Sonne von beiden auf die feuchte Wiese wirft und dabei einen wesentlichen Unterschied feststellt: Nur sein eigener Kopf ist von einem hellen Schein umgeben. In früheren Zeiten, als man dieses Phänomen noch nicht physikalisch erklären konnte, wird sie oder er vielleicht gedacht haben: Ich bin irgendwie ausgewählt, mein Kopf ist von einem Heiligenschein umgeben. Lieber werde ich nichts sagen, um ihn oder sie nicht eifersüchtig, missgünstig oder sonstwie negativ zu stimmen.
Vielleicht ist es so zu der Vorstellung gekommen, der Schein um den eigenen Kopf sei eine Auszeichnung der eigenen Person. Hätte man sich damals über diesen vermeintlichen Unterschied unterhalten, so wäre man vermutlich auch nicht viel weiter gekommen. Denn auch die andere Person hätte nur ihren eigenen Schein gesehen. Es hätte kein direktes allgemeines Verfahren gegeben zu zeigen, dass jeder seinen eigenen Heiligenschein hat. Der Heiligenschein ist also etwas sehr Persönliches und sollte einem heilig sein, obwohl er eigentlich scheinheilig ist.

Physik des Heiligenscheins

Wortschatten

Im Schatten, den das geschriebene Wort wirft, verbergen sich dessen Geschwister. Man ahnt ihre Körper, Gesichter, Gerüche und Stimmen, so wie man eine Familienähnlichkeit bei flüchtig Bekanntem zwar ausmachten, aber nicht orten kann. Folglich ist der ungeschriebene Text immer länger – aber nicht vollständiger – als der geschriebene. Fehlt das gegenseitige Verweisen von Hell und Dunkel, Ausgesprochenem und Unausgesprochenem  aufeinander, das heißt, geht es um einen ganz und gar ausgeleuchteten Text, dann gibt es auch nichts mehr zu verstehen.*

Als ich vor einigen Jahren an einem heißen Sommertag ein nicht sehr anspruchsvolles Buch las, schien die Sonne von hinten durch die Buchseite hindurch, die ich gerade auf der Schattenseite las. Es war in dieser Lage nicht zu verhindern, dass der Text spiegelverkehrt als Schatten der Buchstaben und Worte hindurchschimmerte und ich mich dabei erwischte, den umseitigen Text entziffern zu wollen. Das war schwierig aber auch herausfordernd. Interessanterweise mischte sich die Bedeutung der stückweise entzifferten spiegelverkehrten Schattenworte in die Bedeutung des normal gelesenen Textes mit ein. Daraus gingen teilweise kreative und inspirierende Einsichten hervor, die vom Autor des Buches nicht im Entferntesten intendiert waren. Daran wurde ich erinnert als ich das anregende Buch* von Dagmar Leupold las.


 * Dagmar Leupold. Destillate. Frankfurt 1996, S. 53

Farbige Reflexe in einer Kirche

Die als Farbfilter wirkenden Elemente von Kirchenfenstern tauchen das Kircheninnere oft in ein stimmungsvolles, von manchen als mystisch empfundenes Licht, das sich zuweilen durch Reflexionen an den Bänken und anderen Gegenständen objektiviert.

Freiheit eines Baums

Die hier unverkennbar in einem südlichen Urlaubsort aufgenommene Szenerie zeigt etwas ganz Untypisches. Eine Palme, die sich nicht an die Regeln hält und von ihrem geradlinigem Aufwärtsstreben abweicht, wird nicht in ihre Schranken verwiesen, z.B. durch Abholzung, sondern umgekehrt. Die Schranken werden beseitigt.
Jedenfalls war ich sehr erstaunt, dass man hier den Baum gewähren lässt und den Zaum so umgestaltet, dass der Baum seine freiheitlichen Ambitionen beibehalten darf. Ich weiß, es wäre verfrüht, darin schon eine Art Umdenken zu sehen, aber die Hoffnung kann man doch schon mal haben.

Wo sieht man die Sonne?

Ein Sonnenaufgang ist schon lange nicht mehr das, was er sprachlich vorgibt zu sein. Da geht nichts auf, was vorher zu war. Da entsteht nichts, was später wieder verschwindet. Sowohl im geozentrischen als auch im heliozentrischen Weltbild entsteht dieser Eindruck dadurch, dass sich die Erde und die Sonne relativ zueinander bewegen. Wir gehen neuzeitlich-kopernikanisch davon aus, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, weil ansonsten beispielsweise die Sterne – je weiter desto schneller – kollektiv um die Erde rotieren müssten und das für entfernte Sterne auch noch mit Überlichtgeschwindigkeit. Trotzdem bleibt es beim Sonnenauf- und -untergang.
Was schon eher Kopfzerbrechen bereiten könnte, ist die Tatsache, dass wir die Sonne beim Auf- und Untergang nie da sehen, wo sie „in Wirklichkeit“ oder „geometrisch“ ist. Denn durch die Brechung des Lichts an der dichten Atmosphäre, durch die es in dieser Konstellation hindurch muss, wird das Sonnenbild optisch angehoben und zwar etwa um einen Winkel, der dem Sonnendurchmesser entspricht (etwa 0,5 Grad). Wenn die Sonne beim Untergang den Horizont berührt, ist sie also „in Wirklichkeit“ schon untergegangen.
Diesen Gedanken könnte man philosophisch oder wie auch immer weiter vertiefen in Richtung auf die Frage, ob man denn ganz genau genommen (mit vielen Stellen hinter dem Komma) überhaupt je etwas dort sieht, wo es ist. Denn Lichtbrechung – und sei sie sie noch so klein – ist immer vorhanden, wenn das Sonnenlicht durch ein Medium, also etwa durch die Luft geht. Überlegungen, die in diese Richtung laufen, kommen kaum zu einem befriedigenden Ergebnis. Man könnte auch noch hinzufügen, dass wegen der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit die Gegenstände stets an der Stelle gesehen werden, an der das Licht abgeschickt wurde, das uns im Augenblick der Wahrnehmung erreicht.
Also lassen wir es und erfreuen uns am Abbild der Sonne – in diesem Fall an dem Foto – die hier hinter dem Geäst von Bäumen untergeht. Das Sonnenlicht hat beim Durchgang durch die Atmosphäre und den zahlreichen Streuvorgängen mit der Luft und den darin enthaltenen Aerosolen so viel an Farben und Intensität eingebüßt, dass die Sonne einerseits nicht mehr in allen Farben – also weiß leuchtet – sondern hauptsächlich in gelben und roten Farbtönen (er)scheint, und dass man andererseits bedenkenlos in die Sonne hineinblicken und beobachten kann, wie schnell sie absinkt. Wenn sie den Horizont berührt dauert es gerade einmal 2 Minuten, bis der letzte Rest ihres Rands verschwindet. Und wenn man Glück hat, viel Glück, dann kann man auch noch erleben, dass sie sich mit einem grünen Blitz verabschiedet.
„Worum geht es? Durch den kopernikanischen Schock wird uns demonstriert, daß wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern daß wir ihre „Wirklichkeit“ gegen den Eindruck der Sinne denkend vorstellen müssen, um zu „begreifen“, was mit ihr der Fall ist. Da liegt das Dilemma: wenn die Sonne aufgeht, geht nicht die Sonne auf. Was die Augen sehen und was der astrophysisch informierte Verstand vorstellt, kann nicht mehr miteinander zur Deckung kommen. Die Erde wälzt sich im leeren Raum um sich selbst nach vorn, wobei der irreführende Eindruck entsteht, wir sähen die Sonne aufgehen. Solange das Universum besteht, gab es noch keinen Sonnenaufgang, sondern nur sture Erdumdrehungen, und dieser Befund wird nicht tröstlicher dadurch, daß wir aufgrund radioastronomischer und anderer Messungen zu der Vorstellung gezwungen sind, daß es vor einem Zeitpunkt t(x) weder die Sonne noch die Erde noch Augen gegeben hat, um deren Konstellationen zu sehen. Dann wären nicht nur die Sonnenaufgänge, sondern auch die Voraussetzungen des Scheins von Sonnenaufgängen in einem kosmischen Noch-Nicht verschwunden. Der augenscheinliche Sonnenaufgang verliert sich in einer mehrfachen Nichtigkeit, sobald wir den ptolemäischen „Schein“ zugunsten kopernikanisch organisierter Vorstellungen von „Wirklichkeit“ aufgeben. Radikaler als jedes metaphysische Vorstellen von „Wesenswelten“ dementiert das moderne physikalische Vorstellen der Körperwelt den ‚Schein der Sinne‘.“*

*Sloterdijk, Peter: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Frankfurt a M 1987.

Der Summstein im Botanischen Garten

In manchen Parkanlagen, die dazu angetan sind die Sinnenwahrnehmung zu fördern, findet man zuweilen den sogenannten Summstein. Der hier abgebildete Stein befindet sich im Botanischen Garten der Universität Münster. Die Idee zu solchen meist auch künstlerisch anspruchsvollen Objekten stammt vor allem von Hugo Kükelhaus (1900 -1984). Er hat in sogenannten Erfahrungsfeldern zur Entfaltung der Sinne Erlebnisausstellungen realisiert, in denen durch aktive Teilnahme (Experimentieren und Erforschen) die Besucher*Innen eingeladen sind, ihre Sinne schärfen und anregen lassen.
Eine Tafel neben dem Summstein erklärt, wie man mit ihm umgehen sollte.
Hier der Text:
Stecke Deinen Kopf in die Höhlung des Summsteins und summe so stark (am besten in einer tiefen Tonlage), dass das Summen in ein leichtes Dröhnen übergeht.
Dieses „Dröhnen“ wir als eine den ganzen Körper ergreifende, wohltuende Vibration empfunden. Ihre Wirkungsweise ist mit der des Echohörens verwandt.
Man entdeckt, dass die Stimme nicht nur dem Informationsaustaustauch dient, sondern als Schwingungsorgan den ganzen Organismus belebt.

Die beim Summen in dem begrenzten Hohlraum des Steins ausgesendeten Schallwellen werden an den Wänden reflektiert. Wenn man durch Variation der Stimmlagen beim Summen die akustischen Frequenzen findet, die zur Resonanz mit den reflektierten Wellen geraten, lässt sich der Ton verstärken. Dabei gelingt es, diese Schwingungen auf den eigenen Körper zu übertragen. Das dabei ausgelöste Gefühl wird oft als stimulierend bis euphorisierend empfunden.

Zum Welttag der Poesie

Die Poesie der Wissenschaft liegt nicht offen zutage. Sie stammt aus tieferen Schichten. Ob die Literatur imstande ist, mit ihr auf gleicher Höhe umzugehen, ist eine offene Frage. Letzten Endes kann es der Welt gleichgültig sein, wo sich die Einbildungskraft der Spezies zeigt, solange sie nur lebendig bleibt. Was die Dichter angeht, so mögen diese Andeutungen zeigen, daß es ohne ihre Kunst nicht geht. Unsichtbar wie ein Isotop, das der Diagnose und der Zeitmessung dient, unauffällig, doch kaum verzichtbar wie ein Spurenelement, ist die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet. Weiterlesen

Der Pi-Tag, diesmal sportlich begangen

Photo by Yan Krukov on Pexels.com

Heute feiern wir (naja, einige) den kreisförmigsten aller Tage des Jahres, den Pi-Tag – nach der englischen Schreibweise: 3.14. Denn Kreise, so real, reell und rational sie auch sein mögen, tragen im tiefsten Innern etwas sehr Irrationales, das Pi bzw. π. Das macht sie so menschlich. Man denke nur an die Gedanken, die nachts wenn man mal wieder nicht schlafen kann die Runde machen und dabei vielleicht nur um sich selbst kreisen. Egal ob die Gedanken einen großen oder kleinen Durchmesser haben, dieser muss in allen Fällen mit Pi (= 3,1415…usw.) multipliziert werden, um rund zu werden. Selbst die Form unseres Kopfes ist dadurch auf die eine oder andere Weise rund geworden (zwischen Zylinder-, Birnen- und Kugelform ist fast alles vertreten). Man kann das auch umdrehen und mit Francis Picabia (1879 – 1953) zu der Ansicht gelangen: Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Deswegen gilt er auch als exzentrischer Ausnahmekünstler, der u. A. zu der wichtigen Erkenntnis kam: „Hier ist hier“, womit wohl wieder der Punkt gemeint ist, um den sich alles dreht. Und damit sind wir wieder beim Pi.
Wie sollte man diesen Tag feiern? Ich denke, eine schöne Zeremonie mit sportlichem Impetus wäre mal wieder die Hüften kreisen zu lassen und einen kreisrunden Hula-Hoop-Reifen in Rotation zu versetzen (siehe Abbildung). Man würde unter Einbeziehung einiger Pis, die ich hier aber nicht explizit machen möchte, eine schöne physikalische Doppelkreisgeschichte erzählen können.
Das Sportliche dieser Geschichte ist vor allem in der Kraft begründet, die der oder die Hüftrotierende aufzubringen hätte, damit der Reifen der Kreisbahn folgt, nämlich eine ausreichende Zentripetalkraft. Sie ergibt sich aus dem Produkt der Reifenmasse und der Differenz zwischen Reifenradius und Taillenradius multipliziert mit dem Quadrat der Winkelgeschwindigkeit. Diese Kraft muss konstant gehalten werden, damit der Reifen rotierend in der Schwebe bleibt.
Wer weniger Körpereinsatz aufbringen möchte, könnte auch eine schöne runde Torte (Im Englischen pie ist das Pi explizit enthalten und wird auch genauso ausgesprochen) mit runden Verzierungen backen und sich dabei klarmachen, dass er trotz des sehr rationalen Vorgehens maßgeblich vom Irrationalen des Pis Gebrauch gemacht hat – wie übrigens auch dieser Beitrag.
Wer Interesse an früheren Pi-Tagen dieses Blogs hat, findet sie u. A. hier und hier und hier.

Physik im Alltag – Seltsame Phänome und ihre Erklärungen

H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1.22 (2022) 82 Seiten

Physikalischer Reiz des Gewöhnlichen
Die Menschen haben von jeher die Natur nicht nur wahrgenommen, sondern die Natur auch auf die eine oder andere Weise zu verstehen versucht. Aus heutiger Perspektive erstaunlich tief gehende physikalische Einsichten hat bereits Leonardo da Vinci vor mehr als 500 Jahren bei seinen zahlreichen Beobachtungen und zeichnerischen Rekonstruktionen bewiesen. Damals war die neuzeitliche Physik noch im Entstehen begriffen, sodass man nur darüber staunen kann, wie klar und verständlich Leonardo viele Alltagsbeobachtungen dargestellt hat. Die Kunst kam ihm bei der grafischen Rekonstruktion der Phänomene sehr zugute (S. 6).
Physik und Kunst haben sich von jeher gegenseitig befruchtet und zahlreiche Erscheinungen inspirieren oft durch ihren ästhetischen Reiz dazu, sie näher zu erschließen.
Aber selbst profan wirkende Vorgänge führen manchmal erstaunlich weit bis in die moderne Forschung.
So ist es eine alltägliche Erfahrung, Schnecken auf ihrem glitschigen Schleimfilm gleiten zu sehen. Denkt man jedoch an die eigenen Fortbewegungsprobleme (S. 40), drängen sich Fragen geradezu auf. Wie stellt es die Schnecke an, bergauf zu gleiten oder sich überhaupt vom glitschigen Schleim abzustoßen? (S. 64).
Die wissenschaftliche Antwort führt direkt in die Küche, in der wir es mit ähnlichen Problemen zu tun haben, wenn beispielsweise der Ketchup aus der Flasche wohldosiert auf dem Teller landen soll (S. 72). Flüssigkeiten können je nach mechanischer Einwirkung zwischen zäh- und leichtflüssig wechseln. In Form von Schaum ähneln manche Gemische sogar einem Festkörper (S. 70). Selbst reines Wasser zeigt oft faszinierende Strukturen und überraschende Schauspiele. Es ist sogar musikalisch: Spült man nach der Teepause sein Edelstahlsieb, so bekommt man zuweilen schöne Töne zu hören. Dahinter steckt ein komplexer Vorgang, der erst zum Mysterium wurde, seitdem es diese Teesiebe gibt (S. 78). Andere Strömungsereignisse sind altbekannt, aber nicht weniger imposant und fordern geradezu dazu heraus, selbst ausprobiert zu werden.
Lassen Sie sich durch diese Sammlung inspirieren, fortan den Alltag mit neuen Augen zu sehen.

Ihr H. Joachim Schlichting.

Denken heißt, Unterschiede vergessen

Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht nur an jedes Blatt jedes Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte…Nicht nur machte es ihm Mühe zu verstehen,daß der Allgemeinbegriff „Hund“ so viele Geschöpfe verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfaßt, es störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 Minuten(den er im Profil sah) denselben Namen führen sollte, wie der Hund von 3 Uhr 15 Minuten (den er von vorn gesehen hatte). Sein eigenes Gesicht im Spiegel, seine eigenen Hände überraschten ihn immer wieder.
Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art…
*


* Jorge Louis Borges. Das unerbittliche Gedächtnis, in: Ders.Labyrinthe. München 1959, S. 238

Nur noch das Rätsel gibt Rat

Die Welt-Ausrechnung, Allmacht der Neuzeit, vor der auch Diktatoren sich beugen und Alle, die sich sonst hassen, verbrüdern, will alle Dinge entsiegeln. Im Freiraum der Kunst, wenngleich er folgenlos wurde: sie versiegeln sich wieder. Je mehr wissenschaftlicher Aufschluß, desto verschlossener erweisen die Dinge sich. Sie trotzen. Sie sehen den einzigen Fluchtweg, wenn sie überhaupt einen sehen: Umziehen ins Rätsel. Das Labyrinth, ihre Wohnung. So geht durch die Künste unserer Tage ein Zug, wir kennen ihn Alle. Jeder Vers sagt es, jedes Bild spricht davon: Die Dinge verrätseln sich. Das Unaufgeklärte, das Schwerverständliche ist ihre Zuflucht.

In der Neuzeit, in der totalen Welt-Ausrechnung, so will ihnen vorkommen: Es ist nur noch das Rätsel, das Rat gibt.*


* Erhart Kästner. Aufstand der Dinge. Frankfurt 1975, S. 191

Das Foucaultsche Pendel aus der Perspektive von Gerhard Richter

Anlässlich des 90. Geburtstags von Gerhard Richter am 9. Februar 2022

Ein Pendel behält stets seine Pendelebene bei. Das kann man leicht überprüfen. Im einfachsten Fall nimmt man ein passendes Gestell, an dem man eine kleine Kugel u. Ä. an einem Faden schwingen lässt. Dieses Pendel wird sodann auf einen drehbaren Untersatz platziert. Dazu eignet sich zum Beispiel ein Drehstuhl oder eine drehbare Tortenplatte. (Ich selbst benutze meinen alten Schallplattenspieler). Dreht man den Untersatz nun vorsichtig um sich selbst nachdem man das Pendel in Aktion gesetzt hat, so macht man eine interessante Beobachtung: Das Pendel behält unabhängig von der Drehung seine ursprüngliche Pendelebene bei. Viele finden das merkwürdig.
Was würde denn zu beobachten sein, wenn man sich in das drehende System versetzt dächte? Die Pendelebene würde sich drehen. Wäre das nicht noch merkwürdiger?
Es ist ja faktisch so, dass wir permanent auf einem drehenden System hocken, auf unserer Erde. Sie dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst. Davon merken wir nur indirekt etwas, zum Beispiel dadurch dass die Sonne aufgeht, ihre Bahn zieht und wieder untergeht. Durch unser kleines Pendel-Dreh-Experiment könnte nunmehr der Gedanke aufkommen, dass ein Pendel, das man lange genug in Schwingung hält, allmählich seine Pendelebene drehen müsste, weil die Erde sich wie ein elaborierter Drehstuhl rotiert.
Einen ähnlichen Gedanken hatte im 19. Jahrhundert der Physiker Jean Bernard Léon Foucault (1819 – 1869). Nach Vorversuchen in seinem eigenen Keller konnte er am 26. März 1851 im Panthéon mit einem 67 Meter langen Pendel und einem 28 Kilogramm schweren Pendelkörper der Öffentlichkeit ein solches Experiment vorführen und damit die Erddrehung gewissermaßen spürbar werden lassen.
Würde man ein solches Foucaultsches Pendel auf dem Nordpol unserer Erde schwingen lassen, so würde sich die Pendelebene in 24 Stunden genau einmal um sich selbst drehen. Weil das Pendel an anderen Stellen der Erde schräg zur Erdachse steht, bewegt sich die Pendelebene je nach geografischer Breite langsamer.
Bei uns in Münster bräuchte das Pendel der Theorie zufolge für einen Umlauf 30 Stunden. Der empirische Beweis dafür kann inzwischen auch in der profanierten Dominikanerkirche in Münster erbracht werden, wo der Künstler Gerhard Richter (* 09.02.1932) im Rahmen der Installation „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ in einem ansprechenden Ambiente das „Experiment“ für jeden zugänglich gemacht hat.
Das Pendel besteht aus einem 29 m langen Seil mit einer 22 cm großen und 48 kg schweren Messingkugel. Das Seil ist in der hohen Vierungskuppel befestigt und schwingt 4 cm über der kreisrunden Bodenfläche aus Naturstein.
Damit das Pendel nicht durch unvermeidliche Reibungen (vor allem mit der Luft) abgebremst schließlich zur Ruhe kommt, wird es mit einer zentral unter der Schwingungsebene angebrachten vom Fachbereich Physik der Universität Münster entwickelten Elektronik in Gang gehalten.
Über das rein Physikalische des Pendels hinausgehend besteht das Kunstwerk aus zwei an den Wänden angebrachten grauen Doppelspiegeln. Sie reflektieren das Pendel und unvermeidlicherweise die BeobachterInnen gleich mit. Vielleicht sollen auf diese Weise Reflexionen über physikalische und gesellschaftliche Fragen zum Pendel im engeren und weiteren Sinn angeregt werden.

Ich finde das Foucaultsche Pendel in seiner frappierenden Einfachheit vor allem deshalb beeindruckend, weil es eine kosmische Bewegung auf ein menschliches Maß bringt.

Wir empfinden mit Abstraktion

Wir empfinden mit Abstraktion“ sagt Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) Franz Grillparzer (1791 – 1872) zitierend und fährt fort: „wir wissen kaum mehr, wie sich die Empfindung bei unseren Zeitgenossen äußert; wir lassen sie Sprünge machen, wie sie sie heutzutage nicht mehr macht.„*
Das ist ein Ergebnis der Sozialisation in unserer Kultur. Aber gilt nicht auch, dass wir umgekehrt Abstraktes konkretisieren. Können wir uns überhaupt – beispielsweise einem abstrakten oder nur verfremdeten Bild – anders als mit konkreten, oft sehr persönlichen Vorstellungen nähern? Was seht ihr / sehen Sie bei Betrachtung dieses Bildes?


* Friedrich Nietzsche. Unzeitgemäße Betrachtungen. Werke in drei Bänden Bd. 1. München 1973, S. 133f

Der Tanz ist realer als die Atome

Was ist also dieses Gehirn, was sind all diese Atome mit Bewußtsein? Schnee von gestern! Nur deshalb können wir uns daran erinnern, was uns ein Jahr zuvor durch den Kopf gegangen ist – durch einen Kopf, in dem inzwischen längst alles völlig erneuert ist. Genau das bedeutet nämlich die Erkenntnis, wie lang es dauert, bis alle Atome des Gehirns durch andere ersetzt sind: daß meine Individualität nur ein Muster ist, ein Tanz. Die Atome kommen in mein Hirn, machen ihr Tänzchen und gehen dann wieder. Immer andere Atome, aber stets der gleiche Tanz, und immer mit der Erinnerung daran, wie der Tanz gestern ausgesehen hat.*

Der Physiker Richard Feynman (1918 – 1988) bringt hier auf anschauliche Weise zum Ausdruck, dass aus der reduktionistischen Perspektive der Physik die abstrakten Muster der aus den realen Dingen aufgebauten Welt entscheidend sind für das was wir als Wirklichkeit empfinden. Man weiß, dass durch unseren Stoffwechsel – die körperliche Kommunikation mit der Umwelt – die Moleküle unseres Körpers ständig ersetzt werden. So wird beispieslweise unsere Leber in wenigen Wochen durch neue Materie ersetzt. (Leider wird dabei auch eine mögliche Krankheit mit repoduziert).
Was bleibt und was bedeutet es, wenn unser Körper nach einiger Zeit materiell ersetzt/erneuert wurde, die Erinnerung an Kindheitserlebnisse, an den ersten Kuss oder auch an einen Unfall… davon völlig unberührt bleibt?
In der Physik ist es nicht anders. Entscheidend sind die Muster, die Kräfte, die Tänze, die das Verhalten der materiellen Dinge, der Elementarteilchen etc. bestimmen. Und das gilt es zu beschreiben und zu verstehen.


* Richard Feynman, z.n.: K. C. Cole. Warum die Wolken nicht vom Himmel fallen. Berlin 2000; S. 183


Entropie – das mephistophelische Prinzip?

Dadurch dass die Sonne zerstrahlt und dadurch u. A. Pflanzen wachsen lässt, wird ihr Zerfall immer wieder partiell zurückgespult.

Im Anschluss an meine Erinnerung an den „Erfinder“ der Entropie habe ich erstaunlich viele Reaktionen erhalten. In fast allen überwog der Gedanke, dass das Entropieprinzip doch als negativ einzuschätzen sei, weil es letztlich den Wärmetod der Welt bedeute. Ohne noch einmal auf die physikalischen Hintergründe zu sprechen zu kommen (das habe ich in an anderer Stelle getan), möchte ich ganz kurz einige Aspekte des ideengeschichtlichen Kontexts skizzieren, die vor allem zu der Zeit diskutiert wurden, als das Entropieprinzip in der Physik eingeführt wurde.
Wie kaum ein anderes physikalisches Konzept ist die Energie in die Alltagswelt der Menschen abgesunken. In Form von elektrischem Strom, Benzin und anderen Brennstoffen sowie im Zusammenhang mit den zugehörigen energietechnischen Einrichtungen hat die Energie inzwischen alle Lebensbereiche durchdrungen. Die Bedeutung der Energie über die Physik hinaus wurde schon sehr früh erkannt und der Aufbruchstimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemäß zuweilen mit schwärmerischen Worten beschrieben. So verehrt beispielsweise der Physiker Felix Auerbach (1856 – 1933) „die Energie als Göttin, als Königin hier gebend und dort nehmend, im ganzen aber weder gebend noch nehmend, (die) sich über allem, was sich im unendlichen Raume, im Strome der dahinfließenden Zeit abspielt thront“. Aber es wird auch nicht übersehen, dass die Energie trotz ihrer Erhaltung von der Entropie bedroht wird. Sie ist für Auerbach „der Schatten, der böse Dämon, der zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu verderben suchen wird, was der strahlende Dämon (also die Energie, H. J. S.) in das Dasein an Großem: Schönem und Gutem hineinzutragen sich bemüht“ *. Schon bald ist vom Wärmetod der Welt die Rede, auf den wegen der Entropieerzeugung alles zustrebe.
Diese Auffassung bestimmt auch heute noch weitgehend die Einstellung zur Entropie. Dabei wird jedoch übersehen, daß nicht die in ihrer Quantität ewig unveränderliche Energie als treibende Kraft allen Geschehens anzusehen ist, sondern gerade der böse Dämon, die Entropie, die alles zugrundezurichten trachtet. Man wird an Goethes Mephisto erinnert, der die Hölle des Wärmetods auf ganz ähnliche Weise herbeizuführen versucht:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht, denn alles was entsteht,
Ist wert, das es zugrundegeht
. (Faust I)
Dabei wird sein Tun aber auch an anderer Stelle gewürdigt, indem resümiert wird, er sei
ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will
und stets das Gute schafft
…(Faust I)
Mit anderen Worten: Aufwertung, Ordnung, Struktur … ist nur durch Entwertung, Dissipation, Zerfall… möglich. Oder wie Goethe es in einem Gedicht Eins und Alles ausdruckstark formuliert hat:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
wenn es im Sein beharren will.
Darin kommt ein wesentlicher Zug unserer Existenz zum Ausdruck, den Voltaire in dem Satz
Tout est dangereux ici bas,
et tout est nécessaire“
(Zadig).
Mit anderen Worten: Das Leben wird aufrechterhalten durch das, was ihm auch tödlich werden kann.
Diese Aussage kann auch physikalisch durchaus wörtlich genommen werden. Dazu muss man sich nur vergegenwärtigen, daß beispielsweise die Atmung, eine der Lebensäußerungen schlechthin, einen Zerfallsprozess darstellt. Die Atmung bedingt, daß die organischen Nahrungsmittel (beispielsweise Glukose) in ihre anorganischen Bestandteile zerfallen und auf diese Weise die Lebensvorgänge des Organismus in Gang halten:

[CH20]6 + 6 02 –> 6 H20 + 6 C02 + Energie.

Das funktioniert natürlich nur so lange, wie dafür gesorgt wird, daß auch dieser Vorgang immer wieder in Form der Fotosynthese zurückgespult wird. Dafür ist grob gesagt der globale irreversible Zerfallsvorgang verantwortlich, aufgrund dessen Sonnenlicht (bei hoher Temperatur) auf die Erde fällt und diese schließlich (bei Umgebungstemperatur) wieder verlässt, eine Tatsache, die bereits Ludwig Boltzmann um die Wende zum 20. Jahrhundert erfasste:

Der allgemeine Daseinskampf der Lebewesen ist nicht ein Kampf um die Grundstoffe…, auch nicht um Energie, welche in Form von Wärme leider unwandelbar in jedem Körper reichlich enthalten ist, sondern ein Kampf um die Entropie, welche durch den Übergang der Energie von der heißen Sonne zur kalten Erde disponibel wird. Diesen Übergang möglichst auszunutzen, breiten die Pflanzen die unermeßliche Fläche ihrer Blätter aus und zwingen die Sonnenenergie…, ehe sie auf das Temperaturniveau der Erdoberfläche herabsinkt, chemische Synthesen auszuführen…Die Produkte dieser chemischen Küche bilden das Kampfobjekt für die Tierwelt.**

Der Zerfallsprozess (1) wird also zurückgespult:

Sonnenergie + 6 H20 + 6 C02 –> [CH20]6 + 6 02 .


* Felix Auerbach. Die Weltherrin und ihr Schatten. -Jena: Fischer 1913, S.1
** Ludwig Boltzmann. Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Leipzig 1905, S. 40

Wasserscheue Wasserpflanzen

Manche Pflanzen lieben das Wasser, sie sind hydrophil, andere verabscheuen es, sie sind hydrophob. Wieder andere nehmen eine Position dazwischen ein. Darin unterscheiden sie sich kaum von den Menschen. Ein Freund von mir, Wilfried Suhr, hat eine Situation fotografiert, in der man die Hydrophobie der aus dem Wasser wachsenden Pflanzen deutlich erkennen kann (rechts: Ausschnitt). Sie stoßen das Wasser so deutlich ab, dass die Wasseroberfläche ein Stück weit eingedellt wird. Lediglich die das Wasserniveau ausgleichende Schwerkraft verhindert eine weitere Absenkung. Als Kompromiss ergibt sich eine Vertiefung rund um die aus dem Wasser herauswachsenden Pflanzen, ein sogenannter konvexer Meniskus, der die Wasserphobie eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. Die auf der Wasseroberfläche gespiegelte Sonne (eine Lichtphobie?) sowie einige Wolken heben die Strukturen eindrucksvoll aus dem ansonsten ziemlich monochromen Hintergrund heraus.
Dies ist wieder ein kleines Phänomen, das leicht übersehen wird, aber – einmal bemerkt – zu Fragen Anlass gibt, die ansonsten wohl kaum in den eigenen Fragehorizont gelangt wären.

Ab heute bin ich wieder einmal in der netzfreien Zone und kann daher erst in etwa einer Woche wieder auf Kommentare eingehen. Ich habe allerdings einige neue Beiträge für den kommenden Tage erstellt.

Radiale Bestrebungen

Dieses radiale Gebilde verbindet – obwohl äußerlich ganz starr – zwei Bewegungen eine konzentrierende nach innen und eine expandierende nach außen. Sie verbindet abstrakt betrachtet die beide Extreme der Null und der Unendlichkeit. Dennoch handelt es sich um ein individuelles Gebilde, das kein zweites Mal auf der Welt anzutreffen ist. Aus ihm müssen diese Bewegungen überhaupt erst abstrahiert werden. Oder mit Georg Christoph Lichtenberg zu sprechen: Die Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua und unsere Kurzsichtigkeit muß sich Ähnlichkeiten aufsuchen um vieles auf einmal behalten zu können. Diese Begriffe werden immer unrichtiger je größer die Geschlechter sind, die wir uns machen.*


* Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe I. München 1968, S.13 (A 17)

Zum 200. Geburtstag von Rudolf Clausius – Energie und Entropie

Die Sonnenenergie wird verbraucht, die Entropie nimmt zu. Doch dadurch werden alle lebenswichtigen Vorgänge auf der Welt angetrieben.

Heute vor 200 Jahren wurde der Physiker Rudolf Clausius (2. Januar 1822 – 24. August 1888) geboren. Er ist der „Entdecker“ der Entropie, einer physikalische Größe, die nicht nur von physikalischer Bedeutung ist, sondern letztlich als zentraler Begriff für die Beschreibung wesentlicher Aspekte der Energieproblematik gelten sollte. Leider kommt das meist nicht direkt zum Ausdruck, obwohl es helfen würde, den Umgang mit der Energie besser einzuschätzen.
Das Problem ist nämlich, dass die Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann – es ist eine Erhaltungsgröße. Die lebensweltlichen Erfahrungen mit der Energie sind scheinbar andere: Demnach geht Energie verloren. Denn man muss ständig neue Energie zum Heizen, für die Fortbewegung und viele andere Hilfsfunktonen im Alltag beschaffen und dementsprechend auch dafür bezahlen. Aber geht es uns beispielsweise mit dem Wasser, das uns per Wasserleitung ins Haus geführt wird genauso? Wir sprechen von Wasserverbrauch: Wasser wird für die verschiedensten Zwecke, zum Kochen, Waschen, Klospülen usw. verbraucht, ohne dass jemand der Meinung wäre, das Wasser würde verschwinden, vernichtet werden. Im Gegenteil, meist wird die Schmutzwasserbeseitigung dadurch berechnet, dass man den Wasserverbrauch an der Wasseruhr abliest.
Ganz ähnliche Erfahrungen machen wir mit dem Energieverbrauch, bei dem die Energie mengenmäßig erhalten bleibt und insofern qualitativ verändert wird, als sie nicht noch einmal für denselben Zweck zu gebrauchen ist. Hat sich meine Tasse mit heißem Tee abgekühlt, so wurde die Energie durch Wärme an die Umgebung abgegeben. Mir ist es dann nicht ohne Weiteres möglich die jetzt in der Zimmerluft befindliche Energie wieder in den Tee zurückfließen zu lassen. Der Energieverbrauch ebenso wie der Wasserverbrauch besteht darin, dass die Energie nicht noch einmal für denselben Zweck gebraucht werden kann. Sie wird entwertet. Es ist also neben der Erhaltung der Energie ein Begriff erforderlich, der die Entwertung bzw. die darin enthaltene Unumkehrbarkeit (Irreversibilität) durch eine neue Größe zu erfassen.
Genau darin besteht das Verdienst von Rudolf Clausius, indem er die Energieentwertung mit Hilfe der Größe der Entropie erfasste, die fortan mit dem Buchstaben S bezeichnet wird. In einer berühmten Arbeit aus dem Jahre 1865 schreibt er in diesem Zusammenhang: „… so schlage ich vor, die Größe S nach dem griechischen Worte , die Verwandlung, η  τροπή, die Verwandlung, die Entropie des Körpers zu nennen. Das Wort Entropie habe ich absichtlich dem Worte Energie möglichst ähnlich gebildet, denn die beiden Größen, welche durch diese Worte benannt werden sollen, sind ihren physikalischen Bedeutungen nach einander so nahe verwandt, daß eine gewisse Gleichartigkeit in der Benennung mir zweckmäßig zu seyn scheint“.
Er schließt seinen Aufsatz mit der den Worten, dass „man die den beiden Hauptsätzen der mechanischen Wärmetheorie entsprechenden Grundgesetze des Weltalls in folgender einfacher Form aussprechen kann.
1) Die Energie der Welt ist constant,
2) Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.“*
Den 2. Hauptsatz der Thermodynamik oder der Entropiesatz, wie man ihn heute bezeichnet, besagt also, dass die beim Umgang mit der Energie auftretende Energieentwertung nur zunehmen, nicht aber abnehmen kann.

Wer es etwas genauer informiert werden möchte, den verweise ich auf frühere Beiträge (z.B. hier und hier und hier).


* Rudolf Clausius. Über verschiedene für die Anwendung bequem Formen der Hauptgleichungen der mechanischen Wärmetheorie. Analen der Physik und Chemie Band CXXV 7, No. 7  (1865) S. 353 – 400

Die Herrschaft des Lichts zum 4. Advent

Die Flamme einer Kerze hat trotz ihrer weitgehenden Erklärung durch die Naturwissenschaften nichts an ihrer Faszination verloren. Das zeigt die vorweihnachtliche Zeit auf eindrucksvolle Weise. Ein akustischer Aspekt, der wohl eher die Stimmung der brennenden Kerze betrifft und einen Flammenträumer zum Flammendenker werden lässt, führt zu der Frage, warum das schweigsame Wesen seiner Kerze plötzlich zu ächsen beginnt. Für Franz von Baader (1765 – 1841) geht dieses Knarren, dieser Schreck, „einem jeden stillen oder geräuschvollen Anzünden voraus“. Dieser Laut wird erzeugt „durch den Kontakt zweier gegensätzlich wirkender Prinzipien, von denen das eine das andere behindert oder es sich untertan macht.“ Die Flamme muß sich beim Brennen stets neu entzünden und gegenüber einer rohen Materie die Herrschaft des Lichts bewahren. Hätten wir ein feineres Ohr, so würden wir die Echos dieser inneren Bewegung vernehmen. Der Anblick läßt zu leicht den Gedanken zu, es gäbe hier Vereinigungen. Doch ganz im Gegenteil verbinden sich die knisternden Geräusche nicht. Die Flamme spricht alle Kämpfe die es bestehen muß, um eine Einheit zu bewahren.*

In der Abbildung sehen wir eine Kerzenflamme, die auf irgendeine Weise verdoppelt (oder sogar verdreifacht?) erscheint. Ist dieser Effekt einzig dem 4. Advent zu verdanken?
(Hilfe für eine Antwort findet man hier.)


* Gaston Bachelard. Die Flamme einer Kerze. München 1988, S. 45f

Klingelbrett in Florenz

Zu meinen flaneurhaften Erkundungen fremder Städte gehört auch immer mal wieder ein Blick auf die Klingelbretter von Wohnhäusern. Sie sind teilweise sehr aussagekräftig, wie das im Foto dargestellte. Die berühmten Namen sind durchaus nicht für die Geschichtsbücher reserviert.

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