H. Joachim Schlichting Spektrum der Wissenschaften 05 (2023) S. 70-71
Das Sandkorn ist gewiß das nicht
wofür ich es ansehe
Georg Christoph Lichtenberg
Zur Aufbewahrung von Tee benutze ich eine alte ostfriesische Teedose. Im oberen Bereich verjüngt sie sich, damit die Blätter problemlos in den Messbecher geschüttet werden können, der zugleich als Deckel dient. Beim Nachfüllen muss ich einen Trichter benutzen, und das funktioniert nicht immer ohne Probleme. Oft stockt der Fluss der Teeblätter. Die intuitive Idee, ihn durch Druck zu verstärken, bringt hier nichts. Ich erreiche dadurch eher, dass sich alles nur noch mehr verdichtet und ich die Prozedur von vorn beginnen muss.
Dieses Verhalten betrifft nicht nur Teeblätter, sondern alle Granulate wie Sand, Salz, Müsli oder Erbsen. Die Ursache sind so genannte Kraftbrücken. Den größten Teil des ausgeübten Drucks nehmen granulare Netzwerke auf, quer durch das Material verlaufende Verdichtungen. An ihnen wird die Kraft von einer Wand zur anderen abgeleitet. Das baut so etwas wie eine Barriere für nachfließende Materie auf. Dann rutschen die Teilchen nicht mehr in dem Maß nach, wie sie unten herausrieseln, sondern sie stützen sich gegenseitig und an den Wänden ab. Das kann in bestimmten Situationen, wie etwa Getreidesilos, zum Bruch der Behälter führen.
Seit Menschengedenken dient der Effekt der Konstruktion von freitragenden Brücken und Bögen in Gebäuden. Solche Gewölbe werden allerdings gezielt hergestellt, während sie in Granulaten durch Zufall an nicht vorherbestimmbaren Stellen entstehen und sich weitgehend der Kontrolle entziehen.
Beim Tee ist die sanfte Tour erfolgversprechender als Druck. Leichtes Klopfen oder Schütteln senkrecht zur Fließrichtung an der entsprechenden Stelle am Trichter löst die Blockade in den meisten Fällen auf.
In der Physik der granularen Materie werden solche Phänomene auch Jamming genannt. Eine eindrucksvolle Demonstration bietet ein Stab, den man mit großer Kraft in ein schmales Röhrchen presst, das mit Sand oder einem anderen Granulat gefüllt ist. Er sitzt schließlich so fest, dass man mit ihm das Behältnis samt Inhalt hochheben kann, sofern deren Gewicht nicht zu groß ist. Leichtes Schütteln setzt die Schwerkraft wieder in ihre alten Rechte – das Gefäß fällt. Auch das Geschicklichkeitsspiel Scheibenmikado macht von dem erstaunlichen kollektiven Verhalten Gebrauch. Hier muss man aus einer Fläche mit einer starken Feder zusammengedrückten Scheibchen einzelne entfernen, ohne dass sich die Nachbarn bewegen.
Noch bevor die Kraftbrücken im Rahmen der Physik der granularen Materie näher erforscht wurden, habe ich sie unwissentlich beim Spiel mit meinem Sohn im Sandkasten kennengelernt. Der Versuch, ein Installationsrohr in den trockenen Sand zu drücken, gelang mir nur mit äußerster Anstrengung. Klopfen und Rütteln halfen wenig. Zu meinem Erstaunen beobachtete ich bei anderer Gelegenheit, wie mein Sohn ein Trinkglas von vergleichbarem Durchmesser ohne große Mühe auf dieselbe Weise im Sand versenkte. Lag das vielleicht daran, dass Glas auf Grund seiner Materialeigenschaften leichter durch den Sand gleitet als ein PVC-Rohr? Doch als ich letzteres durch einen passenden Deckel fest verschloss, ließ es sich leichter in den Sand schieben.
Das widerspricht der Intuition, weil dann Luft eingesperrt ist und bei der Aktion komprimiert wird. Man könnte leicht vermuten, dadurch käme es zu einer zusätzlichen Gegenkraft, so wie es der Fall ist, wenn man ein umgestülptes Glas in ein Wasserbecken drückt. Stattdessen erleichtert die Luft das Ganze irgendwie.
Die Sache geriet in Vergessenheit, bis ich vor einiger Zeit auf eine Fachpublikation stieß. In dieser berichtete eine Gruppe von Physikern der Universität Paris VII über Messungen, die man als quantitative Fortführung unserer Spielereien im Sandkasten betrachten kann.
Das Team hat derartige Sandexperimente in reproduzierbarer Weise präpariert und sie sowohl in lockeren als auch in verfestigten Schichten durchgeführt. Auf ihren Zylinder übertrugen die Wissenschaftler eine Kraft, indem sie ihn mit einem Behälter belasteten. Dessen Gewichtskraft vergrößerten sie in kontrollierter Weise. Als Maß für die Leichtigkeit des Eindringens des Zylinders ermittelten sie die jeweils erreichte Tiefe.
Die Forscher bestätigten unsere erstaunliche Beobachtung, dass ein geschlossenes Rohr wesentlich einfacher versenkt werden kann als ein offenes. Der Versuch lässt sich mit zwei Plastikbechern reproduzieren, wenn man bei einem der beiden den Boden entfernt. Presst man den intakten Becher in den Sand, gerät das abnehmende Luftvolumen unter erhöhten Druck. Dieser wird schließlich so groß, dass die Luft an der inneren Seite des Zylinders unter den versenkten Rand strömt und an der Außenseite ins Freie gelangt. Das wirbelt den Sand im Grenzbereich auf und verflüssigt ihn regelrecht, indem es fixierende Kraftbrücken unterbricht und verhindert, dass sich neue bilden.
Der Luftstrom beim Druck auf den Zylinder erfüllt in etwa die Funktion meines leichten Klopfens beim Lösen von stockenden Teeblättern. Der luftgefüllte Leerraum zwischen den eigentlichen Teilchen eines Granulats ist also nicht bloß eine nebensächliche Gegebenheit. Vielmehr kann er eine aktive Rolle bei der Bewegung und den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bestandteilen spielen.
Quelle
Clément, R. et al.: Penetration and blown air effect in granular media. Physical Review Letters 106, 2011
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 2 (2023)
Es sollte ›alles, was der Fall ist‹
in theoretischen Gewahrsam kommen
Hans Blumenberg (1920–1996)
Wenn in einer Reihe von Dominosteinen einer umfällt, kommt es oft zur Kettenreaktion. Wie schnell diese abläuft und ob es ohne Unterbrechung klappt, hängt von mehreren Parametern ab: dem Abstand der Steine, der Reibung zwischen ihnen und der Wechselwirkung mit dem Untergrund.
Die beim Dominospiel verwendeten Steine haben schon vor vielen Jahren auf eine ganz andere Art Karriere gemacht. Sie werden dabei nicht mehr nach Regeln aneinander gelegt, sondern in einer möglichst langen Reihe hochkant aufgestellt. Das geschickte Arrangieren findet seinen Abschluss darin, den ersten Stein gegen den zweiten fallen zu lassen. Das löst eine mehr oder weniger schnell laufende Kippwelle aus, die in einer Kettenreaktion durch das gesamte System läuft. Die Energie zum Antrieb des Spektakels stammt aus der Höhenenergie der Dominos.
or dem Start ist jeder Stein in einem stabilen Gleichgewicht. Sein Schwerpunkt befindet sich senkrecht über der Auflagefläche, und seiner Höhe entsprechend besitzt der Dominostein Höhenenergie. Um ihn über seine Kante zu kippen, muss der Schwerpunkt zwangsläufig zunächst ein wenig angehoben werden, bevor der Stein fällt. Dann wird die Höhenenergie in Bewegungsenergie umgesetzt. Diese überträgt sich teilweise beim Aufprall auf den nächsten aufgestellten Stein und stößt ihn um, wodurch nun der übernächste in der Reihe umgeworfen wird und so weiter. Ein Ziel besteht darin, durch geeignete Platzierung der Dominos eine möglichst schnelle Welle auszulösen. Dabei wird in der Regel stillschweigend unterstellt, die Reibung mit dem Boden sei so groß, dass die Steine darauf nicht wegrutschen. Das ist bei den üblichen Untergründen meistens gewährleistet.
Es kann aber auch anders sein. Das zeigt zum Beispiel ein mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommenes Video des Youtubers Destin Sandlin. Die auf seinem Kanal »SmarterEveryDay« dokumentierten Experimente haben David Cantor von der Polytechnique Montréal und Kajetan Wojtacki vom Forschungsinstitut für Grundlagentechnologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau zu näheren Untersuchungen inspiriert. Mit Hilfe von Computersimulationen brachten die beiden Physiker Ketten von bis zu 200 Dominos zu Fall. Sie variierten den Abstand zwischen den Steinen und die Reibungskräfte mit dem Untergrund sowie untereinander.
Eine Erkenntnis daraus: Bei kleinem Abstand zwischen Dominos, wenn also die Kante des angetippten Steins weit oben auf den Nachbarn prallt, breitet sich die Welle nur langsam aus. Denn zum einen ist infolge der geringen Höhendifferenz die Bewegungsenergie noch klein. Zum anderen gleiten während des gemeinsamen Kippens die Stirnflächen lange aneinander, das heißt die Reibungskraft wirkt über eine verhältnismäßig große Strecke, wodurch sich viel Bewegungsenergie in Wärme umwandelt.
Ein rutschiger Untergrund bremst die Kettenreaktion zusätzlich, weil die Steine infolge des Aufpralls im bodennahen Bereich etwas nach hinten weggleiten. Umgekehrt wird die Welle schneller, wenn die Reibung mit dem Untergrund steigt und die Streckenverluste durch solch ein Wegrutschen sinken. In der Praxis haben die Dominos meist gute Bodenhaftung.
Ein interessantes Verhalten ergibt sich bei einem größeren Zwischenraum bis hin zur dreifachen Steindicke. Hier ist kein rückwärtiges Weggleiten mehr zu beobachten – und zwar unabhängig von der Stärke der Reibung mit dem Boden. Der niedrigere Aufprallpunkt kippt den Nachbarn zwar weniger wirkungsvoll um als es beim Anstoßen mit einem kürzeren Hebel oberhalb des Schwerpunkts der Fall ist. Die große Fallhöhe sorgt aber für mehr Bewegungsenergie, und das verhindert weitgehend das Zurückrutschen des Steins. Die beiden gegensätzlichen Effekte gleichen sich teilweise aus, und in einem gewissen Abstandsbereich bleibt die Geschwindigkeit der Welle etwa gleich.
Überschreitet in den Simulationen die Lückenbreite jedoch die dreifache Dicke der Steine und wird die Reibung zwischen den Dominos größer und mit dem Untergrund kleiner, wird die Welle instabil. Denn bei einer solchen Kombination gleiten die Steine mitunter so weit zurück, dass sie ihre Nachbarn nicht mehr erreichen.
Außerdem ändert sich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit nur noch wenig, sobald der Reibungskoeffizient zwischen den Dominos einen bestimmten Wert überschreitet. Vermutlich gleiten die Steine dann ohnehin kaum noch aneinander ab, und es tritt eine Art Sättigungseffekt auf. Ähnliche Erscheinungen gibt es beim Einfluss der Reibung auf den Böschungswinkel eines stabilen Haufens aus Sand. Daher vermuten die beiden Forscher hinter dem Verhalten ein universelles Phänomen.
Die schnellste Wellenausbreitung gibt es mit einer Konfiguration, bei der die Dominosteine relativ dicht zusammenstehen und eine große Reibungskraft mit dem Boden sowie eine kleine untereinander ausüben. Cantor und Wojtacki ermittelten eine Höchstgeschwindigkeit von 2,25 Metern pro Sekunde.
Solche Simulationen helfen zwar, das Verhalten einer Dominokette bis hin zu praktisch nicht mehr realisierbaren Konstellationen auszuloten und zu visualisieren. Damit versteht man jedoch nicht zwangsläufig alle Aspekte der komplexen Dynamik besser. So gibt es beispielsweise im Video von Destin Sandlin seitliche Drehungen, bei denen einzelne Steine regelrecht aus der Reihe zu tänzeln scheinen, wenn sie nicht perfekt mittig angestoßen wurden. Solche Auswirkungen erfasst das virtuelle Kippen von Cantor und Wojtacki nicht. Das manuelle Aufstellen hat Experimenten im Computer noch manche faszinierenden Aspekte voraus. Mehr Spaß macht es ohnehin.
Quelle
Cantor, D., Wojtacki, K.: Effects of friction and spacing on the collaborative behavior of domino toppling. Physical Review Applied 17, 064021 (2022)
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaften
Allein was hilft es dir,
zu spalten Haar um Haar?
Friedrich Rückert (1788–1866)
Im Inneren von nassem Totholz treiben Stoffwechselvorgänge eines Pilzes Feuchtigkeit durch dünne Kanäle nach außen. Bei moderaten Minusgraden gefriert das austretende Wasser dabei zu einem seltenen Anblick: zuckerwatteähnlichem Haareis.
Wasser gefriert in freier Natur in den verschiedensten Formen. Der Strukturreichtum reicht von Schneeflocken über zahlreiche Reif- und Raureifphänomene bis zum Haareis. Diese filigrane Erscheinung gefrorenen Wassers findet man selten. Zum einen ist Haareis lediglich in weitgehend naturbelassenen Waldgebieten anzutreffen, und zwar am Holz bestimmter Laubbäume (vor allem Buchen und Eichen), das nicht abgeräumt wird, sondern ungestört vermodert. Zum anderen muss seinem Auftreten eine feuchte Wetterperiode vorangegangen sein, und die Temperaturen dürfen nur ein wenig unterhalb des Gefrierpunkts liegen.
Das Haareis umsäumt verrottende Holzstücke mit auffälligen, weiß leuchtenden, watteähnlichen Strukturen. Bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass die vermeintliche Watte aus vielen sehr dünnen (zirka 0,02 Millimeter) aber langen (bis zu 20 Zentimeter) Eisfäden besteht. Die oft seidenartig schimmernden Fasern treten typischerweise in Büscheln auf. Sie wachsen dicht gedrängt senkrecht zur Oberfläche des Holzstücks aus diesem heraus. Trotzdem verschmelzen die einzelnen Stränge nicht miteinander.
Vor allem letztere Eigenschaft ist sehr erstaunlich. Denn getrennte Eisteile, die sich aber teilweise berühren, neigen dazu, zusammenzufrieren, insbesondere bei Temperaturen in der Nähe des Schmelzpunkts. Die Ausbildung einer gemeinsamen Oberfläche verkleinert die Oberflächenenergie. Warum es bei Haareis anders ist, bleibt vorerst ein Teil seines Geheimnisses, obwohl das Phänomen seit langem bekannt und insbesondere in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich näher untersucht worden ist. Vermutlich spielen hier organische Stoffe eine Rolle, die als schützende Beschichtung wirken.
Schaut man sich die Holzstücke genauer an, so entdeckt man, dass jedes Haar einzeln aus einer winzigen Öffnung im Material heraussprießt. Man gewinnt den Eindruck, ähnlich wie bei der Herstellung von Spagetti würde eine flüssige Substanz durch Düsen gedrückt werden und an der Luft sofort verhärten. Diese Vorstellung ist nicht ganz abwegig, denn laut entsprechender Forschungsarbeiten handelt es sich bei den Löchern in den Holzstücken um die Austrittsöffnungen so genannter Holzstrahlen. Das sind winzige Kanäle, die das Leitgewebe radial von der Mitte bis zur Borke durchziehen und im lebenden Baum dem Transport von Wasser und Nährstoffen dienen. Die einzelnen Eishaare sind an den Mündungen der Holzstrahlen verwurzelt und haben den gleichen Durchmesser wie diese. Außerdem sprießt das Eis stets aus den von der Borke befreiten Abschnitten des Totholzes. Manchmal quillt es sogar aus den Bruchstellen zwischen teilweise gelösten Rindenteilen.
Lange Zeit war unbekannt, wie es im Einzelnen zum frostigen Aufleben der abgestorbenen Holzstücke kommt. Dabei hatte bereits 1918 der später für seine Hypothese der Kontinentaldrift berühmt gewordene Alfred Wegener (1880–1930) wesentliche Erkenntnisse gewonnen. Er hielt das Haareis zunächst selbst für einen der Pilze, die abgestorbenes Holz befallen. Nachdem er erkannte, dass es sich um Eis handelt, vermutete er, Baumpilze seien immerhin maßgeblich an der Entstehung des Haareises beteiligt.
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben den Zusammenhang mit Pilzen nachgewiesen. Wenn man nämlich vom Eis befreite Holzstücke, die sich unter den passenden meteorologischen Bedingungen anschließend erneut in die kristalline Wolle kleiden, mit Hitze, Alkohol oder Fungiziden behandelt, bleibt der Effekt aus. Außerdem ist geschmolzenes Haareis leicht bräunlich gefärbt, was auf organische Rückstände hinweist. Alle behaarten Äste waren mit einer für Laubbäume typischen Pilzart befallen, der Rosagetönten Gallertkruste (Exediopsis effusa).
Doch welche konkrete Rolle spielt der Pilz bei der Bildung des Haareises? Bei anderen winterlichen Phänomenen wie den nadelartigen Eiskristallen an Pflanzen und anderen Objekten sind zwei Dinge verantwortlich: entweder die Resublimation (Gefrieren ohne vorher flüssig geworden zu sein) von Wasserdampf oder die Kristallisation von unterkühlten Wassertröpfchen. In beiden Fällen lagern sich die Wassermoleküle aus dem Dampf oder der Flüssigkeit von außen an entsprechende Keime beziehungsweise schon vorhandene Kristalle an. Demgegenüber wachsen die Eishaare direkt aus dem Totholz heraus, ähnlich wie tatsächliches Haar aus dem Körper eines Lebewesens. Die entscheidenden Vorgänge passieren also innen. Der Stoffwechsel der Pilze ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.
Der Pilz ernährt sich von dem in den Holzstrahlen vorhandenen organischen Material. Dabei gibt er neben Wasser gasförmiges Kohlendioxid ab. Das drückt Wasser durch die Strahlkanäle aus dem Holz heraus. Molekulare Rückstände der Stoffwechselvorgänge des Pilzes wirken als Kristallisationskeime, an denen es beim Austritt an die kalte Außenluft zu dünnen Fäden gefriert. Der ausgetriebene Strom reißt auch deswegen vorerst nicht ab, weil eine Art Saugeffekt beiträgt. Dadurch wird Wasser zur Grenzfläche des Eises gezogen, wo die Flüssigkeit lokale Ladungsunterschiede zwischen den Holz- und Kristalloberflächen ausgleicht und dadurch die Grenzflächenenergie minimiert. Die Pilztätigkeit erklärt ebenfalls, warum das Phänomen nur bei leichtem Frost auftritt: Die beim Stoffwechsel erzeugte Wärme hält die Temperatur im Ast oberhalb des Gefrierpunkts. Wenn es dafür zu kalt wird, erstarrt die Feuchtigkeit im Holz, und das ganze Schauspiel stoppt.
Ähnlich dem Haupthaar eines Menschen neigen sich ganze Büschel der Eisfäden in Scheiteln und Wirbeln zur einen oder anderen Seite. Das ist vor allem Unterschieden bei der Wachstumsgeschwindigkeit eines jeden Haars zu verdanken. Sie schwankt infolge von Unregelmäßigkeiten an den Rändern der Strahlmündungen. Dieses wilde Verhalten erweckt einen geradezu lebendigen Eindruck, der im Reich der Eiserscheinungen einzigartig ist.
Quelle
Hofmann, D. et. al.: Evidence for biological shaping of hair ice. Biogeosciences 12, 2015
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 12 (2022)
Oh kleines Licht, oh Quelle,
zarte Dämmerung
Jean Wahl
Die heiße Luft und die chemische Umgebung einer brennenden Kerze lenken Licht ab, das auf die Flamme trifft. Deswegen wirft diese in der Sonne nicht bloß einen Schatten, sondern verstärkt an einigen Stellen im Gegenteil die hindurchlaufende Strahlung.
Wenn eine brennende Kerze vom Sonnenlicht bestrahlt wird, wirft sie einen Schatten auf die Fensterleibung oder auf die Wand, vor der sie steht. Interessanterweise zeichnet sich dort nicht nur der Umriss des Wachskörpers ab, sondern auch die Flamme selbst. Haben wir es hier mit dem Schatten von Licht zu tun? Man kann den Vorgang genauer untersuchen, indem man durch die Flamme hindurch auf einen kleinen Gegenstand blickt. Dann zeigt sich: Die Flamme ist an verschiedenen Stellen unterschiedlich durchsichtig.
Im Bereich der Leuchtzone in der Mitte ist ein dahinterliegendes Objekt kaum zu erkennen. Diese Region ist am wenigsten durchlässig und maßgeblich für den Halbschatten auf der Wand verantwortlich. Der äußere Saum und der den Docht umgebende Kern der Flamme sind hingegen nahezu transparent und hinterlassen auf der Wand so gut wie keine Verdunklung.
Erstaunlicherweise gibt es in der Projektion aber nicht nur dunklere Zonen, sondern auch Aufhellungen, die sogar noch intensiver wirken als der direkte Sonnenschein. So leuchten symmetrisch zu beiden Seiten der Flamme zwei senkrechte Streifen, und im Bereich des Dochtschattens fällt ein vergleichbar heller Fleck auf. Insbesondere diese Verstärkungen deuten darauf hin, dass wir es nicht nur mit einer bloßen Schattenabbildung der Kerzenflamme zu tun haben, sondern mit einer komplexen Wechselwirkung des eingestrahlten Lichts mit der heißen Umgebung.
Dem komplexen physikalischen und chemischen Geschehen einer brennenden Kerze liegen mehrere Teilprozesse zu Grunde. Im Docht steigt flüssiges Wachs auf und verdampft zu langkettigen Kohlenwasserstoffmolekülen. Diese heizen sich beim Durchwandern des dunklen Flammenkerns auf und zerbrechen in kleinere Fragmente. Erst in der äußeren Schicht der Flamme im unmittelbaren Kontakt mit dem Luftsauerstoff verbrennen sie schließlich. Hier sind die Temperaturen am höchsten. Die starke Auftriebskraft entsorgt die Verbrennungsprodukte in einer nach oben strebenden Abgasfahne.
Der Übergang von der kühlen Luft zum Abgasschlauch ist mit einem großen Temperatursprung verbunden. Daher liegt es nahe, die hellen Linien als Folge davon anzusehen, dass Licht durch diese Grenzschicht geht. In Gasen kommt es nämlich zur Brechung, wenn sich die Temperatur und damit die Dichte ändern. Das kennt man beispielsweise von Luftspiegelungen über heißen Asphaltstraßen oder von dem Flimmern über einem Feuer.
Wie stark das Licht beim Durchgang durch die Kerzenflamme und die Abgasfahne abgelenkt wird, hängt von der jeweiligen Größe des Brechungsindex in diesen Bereichen ab. Dessen Verlauf quer durch die Abgasfahne und die Flamme haben wir experimentell ermittelt, und zwar einmal exemplarisch in einer Ebene im mittleren Bereich der Leuchtzone sowie unmittelbar über dem Docht [1].
Für beide Ebenen gilt: Nähert man sich der Flamme von außerhalb der Abgasfahne, so sinkt der Brechungsindex innerhalb eines Abstands von etwa zehn bis vier Millimetern von der Symmetrieachse zunächst sehr stark. Dann wird die Abnahme schwächer bis zu einem Minimum. Von hier an unterscheiden sich die Ebenen. Bei der Leuchtzone nimmt der Brechungsindex wieder leicht zu und bleibt schließlich bis zum Zentrum konstant. Ganz anders sieht es in der Dochtebene aus. Hier steigt der Brechungsindex nach Durchlaufen des Minimums enorm und übertrifft sogar den Wert für die Umgebungsluft.
Das beobachtete Verhalten in der weiter oben gelegenen Zone war zu erwarten, weil hier die Temperatur drastisch steigt und zur Symmetrieachse hin wieder etwas sinkt. Die Erhöhung des Brechungsindex im Bereich des Flammenkerns beim Docht lässt sich allerdings nicht allein mit dem Temperaturverlauf erklären. Vielmehr macht sich hier die Abhängigkeit von der stofflichen Zusammensetzung des Gases bemerkbar. Der dort vorhandene reine Wachsdampf bricht das Licht wesentlich stärker als die Luft oder die in der Abgasfahne befindlichen Verbrennungsgase.
Unsichtbare Gase mit sichtbarer Auswirkung
Die Variationen des Brechungsindex lenken das Licht in unterschiedlicher Weise aus seiner ursprünglichen Richtung ab. Das betrifft einerseits die Strahlen im schmalen Übergangsbereich zwischen der äußeren Luft und der nach oben strebenden Abgasfahne. Die abgelenkten Strahlen laufen anschließend auf solche zu, die unbeeinflusst geradlinig weiter vom Rand kommen. Das erhöht die Lichtintensität und erzeugt die hellen Lichtbänder auf der Projektionsfläche.
Außerdem wird das Licht im Flammenkern wegen des rapide zunehmenden Brechungsindex verhältnismäßig stark nach innen abgelenkt. Aus Symmetriegründen überlagert es sich rechts und links des Zentrums. Dadurch nimmt auch hier in einem gewissen Bereich hinter der Kerze die Lichtintensität mit wachsendem Abstand zu. Das führt zu dem beobachteten Fleck beim Schatten des Dochts.
Das heißt, das helle Muster hinter einer durchstrahlten Kerzenflamme mit seinen zwei Streifen und einem zentralen Fleck lässt sich insgesamt auf das Profil des Brechungsindex zurückführen. Dieses wiederum wird durch zwei Dinge bestimmt: die charakteristische Variation der Temperatur und den hohen Brechungsindex des Wachsdampfs in der Nähe des Dochts.
Vor allem in der von Rußpartikeln dominierten Leuchtzone ist die Flamme weniger transparent. In der Projektion lässt sich deshalb ein Schatten beobachten, der aber viel heller ist als der Kernschatten des festen Kerzenkörpers. Interessanterweise ist er nicht ganz grau, sondern eher leicht braun getönt. Für die Färbung sind ebenfalls die Rußpartikel verantwortlich. Mit ihrer Größe von zirka 20 Nanometern sind sie mindestens zehnmal kleiner als die Wellenlängen des sichtbaren Lichts. Sie streuen daher vor allem kurzwellige, überwiegend blaue Anteile der Strahlung, ein als Rayleigh-Streuung bezeichnetes Phänomen. Hierbei werden vorwiegend die langwelligen Rottöne durchgelassen, die in der Projektion dominieren. Wir haben es also mit einer ähnlichen Situation zu tun wie bei der Morgen- oder Abenddämmerung.
Quelle: [1] W. Suhr, H. J. Schlichting. Eine Kerzenflamme im Sonnenlicht. Physik in unserer Zeit 52/6 (2021)
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 11 (2022), S. 64 – 65
Einige Spinnenarten segeln mit ihren Fäden durch die Luft. Dafür nutzen sie nicht nur Wind und Thermik. Darüber hinaus verschafft ihnen das elektrostatische Feld der Erde selbst bei Flaute den nötigen Antrieb.
Ja wäre nur ein Zaubermantel mein,
und trüg er mich in fremde Länder
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Spinnen haben keine Flügel, und deswegen sollten sie eigentlich nicht fliegen können. Manchmal sieht man sie allerdings an langen Seidenfäden durch die Luft schweben und wird dadurch auf anschauliche Weise eines Besseren belehrt. Diese Technik des Segelflugs ist bei vielen Spinnenarten seit langem bekannt. Schon Darwin hatte auf seinem Forschungsschiff »Beagle« achtbeinigen Besuch erhalten. Er beschrieb, wie eine an Bord gelandete Spinne wieder Abschied nahm, indem sie »vier oder fünf Fäden hervorstieß. Sie waren mehr als einen Meter lang und strebten von den Drüsenöffnungen ausgehend nach oben voneinander weg. Plötzlich löste die Spinne ihren Griff vom Pfosten und wurde schnell außer Sichtweite getragen«.
Laut Darwin war es an jenem Tag heiß und windstill. Er machte winzige thermische Konvektionsbewegungen dafür verantwortlich, dass die Spinne trotz Flaute abheben konnte. Die These vermag durchaus einige wesentliche Aspekte des Phänomens zu erklären. Außerdem vermutete Darwin bereits, obendrein könnten elektrostatische Kräfte im Spiel sein. Dafür sprach die fächerartige Ausbreitung der herausschießenden Fäden – als würden sie sich gegenseitig abstoßen. Allerdings herrschte trotz solcher Hinweise auf mögliche Ladungseffekte bis in unsere Tage die Überzeugung vor, hinter dem Spinnenflug stünden ausschließlich aerodynamische Effekte. Das war wissenschaftlich durchaus gut begründbar. In den letzten Jahren wurden jedoch Untersuchungsergebnisse publiziert, die den elektrostatischen Vorgängen eine zusätzliche tragende Rolle zusprechen.
Zu den jüngsten Entwicklungen dürften Schwierigkeiten beigetragen haben, die bei genauerer Betrachtung auftreten, wenn man den aerodynamischen Auftrieb allein verantwortlich machen will. So ist unklar, wie sich die bis zu 100 Milligramm schweren Spinnen mit ihrem Faden auffällig schnell in die Höhe katapultieren, während kaum ein Lüftchen weht. Hinzu kommt das schon von Darwin notierte Aufspreizen der bündelweise ausgestoßenen Fäden. Außerdem fand man einige fliegende Spinnenarten in vier Kilometer Höhe vor – strömungsdynamisch eine ziemliche Herausforderung.
Solche Probleme lassen sich beseitigen, wenn man die Wirkungen des so genannten atmosphärischen Potenzialgradienten mit einbezieht. Hierbei geht um Ladungsdifferenzen zwischen Atmosphäre und Erdboden: Die in mehr als etwa 70 Kilometer Höhe gelegene Ionosphäre ist überwiegend positiv geladen, die Erdoberfläche hingegen negativ. Der Unterschied wirkt sich auf den gesamten dazwischen gelegenen Bereich aus. So ist die ungestörte Atmosphäre oberhalb der Erdoberfläche positiv geladen, sodass zwischen einem Punkt auf der Erdoberfläche und einem Punkt in der darüber befindlichen Luft eine elektrische Spannung herrscht (siehe: „Spektrum der Wissenschaft“ Mai 2017, S. 64). und Volt pro Meter betragen. Die Stärke des Effekts schwankt allerdings und hängt sehr stark von den Wetterbedingungen ab.
Bereits die gegenseitige Abstoßung der von der Spinne abgegebenen Fäden zeigt: Auch die Seidenfasern tragen elektrische Ladungen. Es kommt daher zwangsläufig zu einer Wechselwirkung zwischen ihnen und dem Feld der Luft. Doch wie kann die Spinne – bevor sie den Versuch wagt – erkennen, ob die Kräfte stark genug sind, um sie mitsamt ihrem Faden zu tragen? Dazu muss sie elektrische Felder wahrnehmen und nach ihrer Stärke beurteilen. Dass zumindest einige Insekten dazu in der Lage sind, ist seit einigen Jahren bekannt (siehe »Spektrum« April 2020, S. 60).
2018 haben Erica Morley und Daniel Robert von der University of Bristol untersucht, wie Spinnen auf Felder reagieren. Sie setzten in Laborversuchen Baldachinspinnen (Linyphiidae) elektrischen Feldern aus, die in ihrer Stärke denen in der Atmosphäre bei verschiedenen Wetterbedingungen entsprachen. Tatsächlich reagierten die Spinnen darauf mit eindeutigen Flugvorbereitungen. Die segelnden Tiere gewannen oder verloren beim Ein- und Ausschalten der Felder an Höhe. Somit kann für den Aufstieg nicht nur der aerodynamische Auftrieb verantwortlich sein, sondern ebenso muss die elektrische Wechselwirkung zwischen den Tieren und den äußeren Feldern eine Rolle spielen. Spezifische Bewegungen bestimmter Sinneshaare auf der Körperoberfläche der Tiere in Reaktion auf elektrische Felder legen die Vermutung nahe, dass diese so genannten Trichobothrien den Spinnen die Wahrnehmung der Felder ermöglichen.
Die fliegenden Spinnen sind zwar weitgehend dem atmosphärischen Potenzialgradienten und den aerodynamischen Gegebenheiten ausgeliefert. Trotzdem können sie wohl noch ein wenig Einfluss nehmen. In einer Veröffentlichung von 2022 haben Charbel Habchi von der libanesischen Notre-Dame-Universität-Louaize und Mosbeh M. Khalid Jawed von der University of California in Los Angeles die Ergebnisse von Computersimulationen präsentiert. Aus diesen folgerten die beiden Ingenieurwissenschaftler, dass die Spinnen sowohl die strömungsphysikalischen als auch die elektrostatischen Verhältnisse steuern können, indem sie die Anzahl der Fäden und deren Länge verändern. Damit verfügten die Tierchen in der Luft immerhin über gewisse Steuerungsmöglichkeiten.
Bisher ist ungeklärt, auf welche Weise die Spinnfäden aufgeladen werden. So werden sich dieser faszinierenden natürlichen Umsetzung eines elektrischen Antriebs vermutlich noch über Jahre hinaus weitere Geheimnisse entlocken lassen.
Quellen
Darwin, C. R.: Journal of researches into the natural history and geology of the countries visited during the voyage of H.M.S. Beagle round the world, under the Command of Capt. Fitz Roy, R.N. John Murray. London, 1845
Morley, E. L., Robert, D.: Electric fields elicit ballooning in spiders. Current Biology 28, 2018
Habchi, C.; Jawed, M. K.: Ballooning in spiders using multiple silk threads. Physical Review E 105, 2022
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 10 (2022), S. 60 – 61
Wer fragt die These und die Antithese,
ob sie eine Synthese werden wollen?
Stanisław Jerzy Lec (1909–1966)
Ein Tropfen, der in eine Seifenlösung fällt, kann sich beim Eintauchen mit einer dünnen Luftschicht umschließen und gemeinsam mit dieser langsam absinken. Ob das klappt, hängt davon ab, wie genau die Luft beim ersten Kontakt der Flüssigkeiten verdrängt wird.
Wenn man jemanden fragt, was das Gegenteil einer Blase ist, so bekommt man oft zu hören, das sei ein Tropfen. Das klingt zunächst plausibel – ist es aber nicht. Denn eine Blase besteht aus einer Luftkugel mit einer Wasserhülle und befindet sich in der Luft. Das genaue Gegenteil wäre eine Wasserkugel mit einer Lufthülle unter Wasser. Solche »Antiblasen«, gelegentlich nach dem englischen Begriff als Antibubbles bezeichnet, gibt es tatsächlich. Manchmal entstehen sie sogar zufällig, wenn Tropfen in eine Flüssigkeit fallen.
Um nicht auf sein Glück warten zu müssen, kann man Antibubbles gezielt herstellen. Ähnlich wie bei Seifenblasen gelingt das am leichtesten in Wasser, dem man einige Tropfen Spülmittel zugefügt hat. Allerdings ist dabei ein wenig Übung erforderlich. Dazu braucht es einen Trinkhalm, den man ein paar Zentimeter tief in die Lösung (etwa ein Gramm Spülmittel pro Liter Leitungswasser) taucht. Dann verschließt man ihn oben mit einem Finger und hebt ihn einige Millimeter über die Oberfläche. Sobald man die Öffnung freigibt, schießt die Füllung heraus und erzeugt nach etwas Ausprobieren eine etwa einen Zentimeter große Antibubble.
Der Prozess läuft prinzipiell ähnlich ab wie bei einer Seifenblase. Diese entsteht, indem eine Seifenlamelle von einem Luftstrom ausgebeult wird und sich das filigrane, schlauchförmige Gebilde bei einer kritischen Länge zu einer Kugel abschnürt (siehe »Spektrum« Juni 2016, S. 44). Zur Herstellung einer Antibubble reicht der kurze Fall eines Tropfens aus, um die beim Aufprall auf die Flüssigkeitsoberfläche zusammengepresste Luftschicht beim Eintauchen ins Wasser gewissermaßen mitzunehmen. Dabei beult er sie ballonartig aus, bis es ebenfalls zu einer Abschnürung kommt – in diesem Fall des Luftfilms, der die eingetauchte Wasserportion umhüllt.
Um sich den Vorgang im Detail vorzustellen, hilft das Bild einer Wasserschicht, die unter dem Einfluss der Schwerkraft auf die Wasseroberfläche trifft. Zwischen den beiden befindet sich Luft, die dabei zur Seite abgedrängt wird. Das ist kein Problem, so lange sie frei strömen kann. Sobald jedoch ein gewisser Abstand unterschritten wird, bestimmen immer mehr typische Grenzflächenkräfte das Fließverhalten der entweichenden Luft. Sie wird im zunehmend schmalen Spalt zugleich verdrängt und zusammengedrückt. Deswegen können sich die Gasteilchen nicht mehr frei und unabhängig voneinander im Raum bewegen. Vielmehr entsteht das Profil einer laminaren Strömung. Das heißt, die Luftmoleküle, die am Wasser grenzen, bleiben daran haften, während ihre Geschwindigkeit in den (zur Veranschaulichung gedachten) Schichten zur Mitte hin zunimmt. Hinzu kommt, dass mit geringerer Spaltbreite die Zähigkeit der Luft an Einfluss gewinnt. Das äußert sich in einer gesteigerten Reibungskraft, die den Luftstrom verlangsamt. Anschaulich gesprochen verfestigen sich dadurch die Verhältnisse in der Hülle, und sie werden gegenüber störenden Einflüssen stabilisiert.
Die Begrenzungen der auf diese Weise gequetschten Luft sind jedoch nicht unbeweglich wie bei festen Wänden, sondern flüssig. Das umliegende Wasser droht also infolge der Reibungskraft mitgeführt zu werden. Der Luftstrom würde dann nicht gebremst, sondern bliebe schnell, dünn und fragil. Das stünde der Entstehung einer Antibubble entgegen.
An der Stelle kommen die mit dem Spülmittel verabreichten Tenside ins Spiel. Das sind langgestreckte Moleküle mit einem dem Wasser zugewandten (hydrophilen) und einem Wasser abweisenden (hydrophoben) Ende. Sie sammeln sich an der Grenzfläche zwischen Gas und Flüssigkeit. Das minimiert die dortige Energie und stabilisiert den Luftstrom: Ein Mitreißen der flüssigen Grenzschicht würde die Konzentration der dort versammelten Tensidmoleküle verringern und die Oberflächenspannung erhöhen. Dagegen wehrt sich das System, indem es eine Gegenströmung antreibt, welche die Tensidkonzentration in der Grenzschicht aufrecht erhält. Die gegeneinander wirkenden Tendenzen versteifen die Wände sozusagen.
Antibubbles haben nicht nur eine physikalisch komplizierte Geburt, obendrein ist ihre Lebensdauer ebenso wie bei Seifenblasen begrenzt. Um die Grenzflächenenergie zu minimieren, streben beiderlei Gebilde eine Kugelgestalt an. Weiterhin wird Energie an die Umgebung abgegeben, indem der Schwerpunkt der Blasen sinkt. Bei einer Seifenblase rinnt die Flüssigkeit in der Haut schwerkraftbedingt herab, bis diese schließlich an der dünnsten Stelle reißt. Auch bei der Antibubble spielt die Gravitation eine Rolle. Hier drückt die innere Wasserkugel mit ihrem Gewicht auf die Lufthülle und presst allmählich Luft hoch. Dadurch wird sie unten irgendwann so schmal, dass sie platzt. Das ganze Schauspiel endet bei der Seifenblase mit umher fliegenden Bruchstücken aus Lauge, die sich zu Tröpfchen zusammenziehen und zu Boden fallen. Bei der Antibubble ist es wieder umgekehrt: Die Fetzen der Lufthülle schrumpfen zu winzigen Bläschen im Wasser, die zu dessen Oberfläche aufsteigen.
Quelle
Suhr, W.: Invertierte Seifenblasen: Antibubbles. Physik in unserer Zeit 2, 2022
Weblink
http://www.youtube.com/watch?v=SeKDd-plkbU
Das Video demonstriert den Herstellungprozess mit einem Trinkhalm und das physikalische Verhalten der Antiblasen.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 8 (2022) S. 72
In jeder flüchtigen Erscheinung sehe ich Welten,
voll vom Wechselspiel der Regenbogenfarben
Konstantin Balmont (1867–1942)
An einer verstaubten Glasscheibe können sich Lichtwellen überlagern, die in unterschiedlicher Reihenfolge gestreut und reflektiert wurden. Dabei entstehen spektralfarbene Strukturen aus Streifen oder Ringen
Der Versuch, bei geringer Helligkeit durch ein Fenster eines verlassenen Gebäudes hindurch zu fotografieren, brachte eine rätselhafte Erscheinung zu Tage. Die Kamera fokussierte automatisch auf die staubige Scheibe und löste das Blitzlicht aus. Das Bild zeigte daher nicht das Innere des Raums, sondern den Lichtreflex auf dem Glas. Dieser war von einer Reihe bunter Streifen umgeben – ein zufälliger Farbfehler der Kamera? Einige Zeit später erschien beim Parken eines PKWs vor einer Fensterfront das zurückgeworfene Scheinwerferlicht von einem ganz ähnlichen Muster umgeben. Es muss sich also um ein reproduzierbares optisches Phänomen handeln.
Für dessen Entstehung war eine Schmutzschicht auf dem Fenster ausschlaggebend. Denn dort, wo es gereinigt wurde, traten keine Farben auf. Damit schied schon einmal ein Interferenzphänomen aus, das bei Doppelglasscheiben zu beobachten und durch Säubern der Scheiben eher noch deutlicher zu sehen ist (siehe »Spektrum« März 2018, S. 68). Die mysteriöse Beobachtung entpuppt sich vielmehr als »queteletsche Ringe«, benannt nach dem vielseitigen belgischen Wissenschaftler Adolphe Quetelet (1796–1874).
Aus dem Alltag kennt man ganz ähnlich erscheinende spektralfarbige Ringe in Gestalt von so genannten Koronen. Sie umsäumen unter bestimmten Bedingungen Lichtquellen wie die Sonne oder den Mond und stammen von winzigen, in der Luft schwebenden Teilchen wie Wassertröpfchen oder Pollen. Manchmal genügt eine beschlagene Fensterscheibe, um eine hindurch schimmernde Laterne von bunten Kreisen umgeben zu sehen.
Bei solchen Koronaphänomenen sind gleich große Partikel entscheidend, an denen das Licht gestreut wird. Das kann bei den queteletschen Ringen nicht der Fall sein, denn hier haben wir es mit einem zufällig entstandenen Staubbelag aus völlig unterschiedlichen Körnchen zu tun. Außerdem blickt man nicht auf die Lichtquelle selbst, sondern auf deren Spiegelung. Darüber hinaus umrahmen die Farbringe im Allgemeinen nicht den Lichtreflex selbst, sondern sie scheinen um eine außerhalb gelegene Stelle zu kreisen, so als wäre beide Erscheinungen völlig unabhängig voneinander.
Bei näherem Hinsehen hat der monochrome Lichtfleck allerdings durchaus eine ausgezeichnete Stellung: Bei ihm handelt es sich um die nullte Beugungsordnung. Sie liegt bei einer normalen Korona in der Mitte, befindet sich hier aber auf einem der Ringe jenseits des Zentrums. Zu ihren beiden Seiten schließen sich die erste, zweite und weitere Beugungsordnungen in Form bunter Bögen an. Die Farbreihenfolge kehrt sich beidseits der nullten Ordnung um, das heißt von dieser aus gesehen verlaufen die Farben auf den weiteren Streifen immer von Blau nach Rot. Das ist ein charakteristisches Merkmal für queteletsche Ringe. Sie zeigen darüber hinaus die typischen Eigenschaften einer spiegelnden Reflexion. Wenn man sich also quer zu den Bögen bewegt, verschieben sie sich in die jeweils entgegengesetzte Richtung, und bei Annäherung an die Scheibe vergrößern sich die Krümmungsradien.
Wie bei der Entstehung von Koronen sind auch hier winzige Streuteilchen ausschlaggebend. Bei den queteletschen Ringen liegen sie auf einer transparenten Ebene, zum Beispiel einer Glasscheibe. Außerdem ist eine zweite Schicht nötig, die das Licht reflektiert. Das kann die Rückseite der Scheibe sein oder besser noch der Metallüberzug eines Spiegels.
Zu einer Interferenz kommt es immer dann, wenn zwei Wellen, die von einem Punkt der Lichtquelle ausgehen, in ganz bestimmter Weise mit der verschmutzten Scheibe wechselwirken (siehe »Entstehung der Quetelet-Ringe«). Dabei wird eine Welle an einem Staubkörnchen auf der Vorderseite der Scheibe gestreut und anschließend an der Rückseite reflektiert. Die andere wird umgekehrt zunächst hinten reflektiert und dann vorne an demselben Partikel gestreut. Wegen der unterschiedlichen Reihenfolge von Ablenkung und Spiegelung legen beide geringfügig verschiedene Wege zurück. Wenn sie sich daraufhin im Auge oder auf dem Kamerasensor überlagern, gibt es zwischen ihnen eine Phasenverschiebung. Dieser Gangunterschied sorgt je nach Standort für die Verstärkung und Auslöschung des Lichts.
Blickt man senkrecht auf die Glasfront, während sich beispielsweise der Scheinwerfer oder die Sonne in gerade Linie hinter einem befindet, hat man einen ganz symmetrischen Fall. Alle Staubteilchen, die sich gleich weit vom Fußpunkt der Achse zwischen Lichtquelle und Beobachter befinden, erfüllen dieselbe Bedingung für die Streuung. Dann kommt das nullte Interferenzmaximum mittig in den konzentrisch angeordneten Farbringen zu liegen. Allerdings steht man dabei der Lichtquelle im Weg und verdeckt zumindest einen Teil von ihr. Man wird daher normalerweise seitlich ausweichen und unter einem kleinen Winkel auf die Scheibe blicken. Dadurch verlagert sich das Zentrum des Ringsystems in die entgegengesetzte Richtung, und das Spiegelbild der Strahlungsquelle wandert auf einen der Ringe.
Die queteletschen Ringe lassen sich mit einfachen Mitteln experimentell herstellen. Dazu genügt ein ebener Spiegel, der von kleinen Tröpfchen beschlagen oder mit Talkum bestäubt ist. Platziert man sich mit einer möglichst punktförmigen Lichtquelle – etwa einer Taschenlampe, deren Reflektor entfernt wurde – in einem Abstand von zwei bis drei Meter davor und hält die Lampe an Stirn, so sind um den direkten Reflex im Spiegel herum farbige Streifen erkennbar. Diese sind Ausschnitte von Ringen, deren Zentrum je nach Abstand zwischen Auge und Lampe wandert.*
* Einreichversion des Spektrumartikels: Ein bunter Schmutzeffekt.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 8 (2022), S. 68
Wenn man alle seine Falten entfalten könnte
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)
Beim Bügeln verstärken sich Druck, Wärme und Feuchtigkeit gegenseitig. Für eine gewisse Glättung reichen schon die physikalischen Eigenschaften des Materials an sich, doch vor allem der Dampf kommt erst dank der Faserstruktur des Gewebes voll zur Wirkung.
Seit Jahrhunderten fühlen sich die Menschen in glatt fallenden Gewändern am besten gekleidet. Darum entstanden mit der Zeit aufwändige und durchaus brandgefährliche Techniken gegen die Falten, die im Alltag in Textilien entstehen. Heutzutage ist das Bügeln vielleicht nicht die beliebteste Haushaltstätigkeit, aber zumindest keine große Mühsal mehr: Man schaltet das elektrische Eisen ein und lässt unter leichtem Pressen den heißen Dampf zwischen Gerät und Gewebe seine Arbeit machen. Alles andere ist eine Frage der Geschicklichkeit.
Beim Bügeln wirken Feuchtigkeit, Wärme und Druck zusammen. Dass es Letzteren braucht, ist wenig überraschend; die ihn unterstützenden Einflüsse von Feuchtigkeit und Wärme haben in der Vergangenheit zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen inspiriert. Diesen zufolge kommt es darauf an, die Bindungen zwischen langkettigen Polymeren innerhalb des jeweiligen Gewebes zu lockern. Durch den Druck und die Wärme werden die gekrümmten Fasern gestreckt und in eine neue, gerade Form gebogen. In vielen Materialien verstärkt Feuchtigkeit den Vorgang, indem sie dazu beiträgt, intermolekulare Verknüpfungen zu lösen.
Allerdings blieben dabei längere Zeit einige wichtige Fragen offen. Insbesondere war unklar, ob es beim Effekt von Feuchtigkeit eher auf das eigentliche Material eines Kleidungsstücks ankommt oder auf die Feinstruktur des daraus hergestellten Gewebes. 2012 hat eine französische Forschungsgruppe das näher untersucht. Zunächst widmete sich das Team um Adrien Benusiglio, der zu der Zeit an der École polytechnique bei Paris promoviert hat, der Entstehung einer einzelnen Falte und deren Rückbildung in einer unverarbeiteten Polyesterfolie. Das ist eine recht repräsentative Referenz, da aus solchen Kunststoffen viele Alltagsgewebe gefertigt werden. Unter reproduzierbaren Bedingungen wurde der Folie ein bestimmter Öffnungswinkel aufgeprägt; anschließend war sie sich selbst überlassen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Falte glättete – übrigens unabhängig von der Schwerkraft –, hing nur vom Material ab. Falten in einem einzelnen Faden und in einem daraus gewebten Stoff zeigen dieselbe Dynamik. Bei dem Verhalten kommt es vor allem auf die elastische Rückstellkraft des Materials an sich an.
Anschließend kamen Knicke, jeweils in der Folie und im faserigen Gewebe, in eine Feuchtigkeitskammer bei einer zunehmenden Wasserdampfkonzentration. Im Textil bogen sie sich nun umso schneller zurück, je größer die Feuchte war. Demgegenüber hatte diese im unverwobenen Material keinen Einfluss auf die Geschwindigkeit der Entfaltung, selbst wenn es sich um eine einzelne, mikroskopisch feine Faser handelte. Die Wirkung des Wasserdampfs ist zumindest bei den untersuchten Polyestern also auf die Webstruktur zurückzuführen und nicht etwa auf mögliche Veränderungen bei den Eigenschaften der einzelnen Fäden. Baumwoll- oder Leinenfasern saugen im Gegensatz zu Kunststoff Wasser auf, was deren Geschmeidigkeit weiter erhöhen und den Vorgang unterstützen dürfte.
In jedem Fall sorgen für den glättenden Einfluss der Feuchtigkeit die Bereiche, in denen die einzelnen Fäden im Gewebeverbund miteinander in Kontakt stehen. Normalerweise macht Wasserdampf keine Anstalten zu kondensieren, solange der Wert der absoluten Feuchte unterhalb der Sättigungsfeuchte liegt. Innerhalb des feinen Geflechts gibt es jedoch besondere Verhältnisse. Dabei kann ein Teil des Wasserdampfs flüssig werden, selbst wenn seine Konzentration in freier Atmosphäre für eine Sättigung nicht ausreichen würde. Das Phänomen heißt Kapillarkondensation, denn verantwortlich dafür ist anschaulich gesprochen die Enge der aus den Fasern gebildeten Kapillaren: Vermehrte Wechselwirkungen zwischen den Molekülen im Wasserdampf und den Wänden der Fädchen ermöglichen die Verflüssigung. Schließlich stellt sich ein neues Gleichgewicht unterhalb des Werts des äußeren Sättigungsdampfdrucks ein.
Üblicherweise verbinden wir mit dem Begriff Kapillaren röhrenartige, geschlossene Formen. Textilgewebe hingegen können aus einem beliebig begrenzten Raum bezüglich der Umgebung bestehen. Der Effekt ist aber derselbe – entscheidend ist in jedem Fall, wie dicht die benetzbaren Oberflächen beisammen stehen. Das mikroskopische Gedränge erzwingt häufigere Interaktionen zwischen Wassermolekülen und Oberfläche. Es ist für die Absenkung des Sättigungsdampfdrucks ausschlaggebend. Die Kapillarkondensation ist ein schönes Beispiel dafür, dass sich Vorgänge im Nano- und Mikrometerbereich deutlich auf alltägliche Größenordnungen ausweiten können.
Im Rahmen von Benusiglios Veröffentlichung wurde zwar nicht genauer untersucht, welche Rolle Wärme spielt. Die Forschungsgruppe hält es jedoch für plausibel, dass steigende Temperaturen sowohl die elastische Entfaltung wie auch die Kapillarkondensation intensivieren.
Wer häufig auf Reisen ist, kennt den heilsamen Einfluss einer feuchten Umgebung auf die mitgeführte Garderobe. Meist genügt es, ein im Koffer zerknautschtes Kleidungsstück über Nacht im Hotelbadezimmer aufzuhängen, um es am nächsten Morgen wenigstens halbwegs geglättet vorzufinden. Aus dem gleichen Grund zerknittern die meisten Kleidungsstücke beim Tragen kaum. Denn in unmittelbarer Nähe des Körpers ziehen dessen Feuchte und Temperatur so manche kleinere Falte wieder straff.
Quelle
Benusiglio, A. et al.: The anatomy of a crease, from folding to ironing. Soft Matter 8, 2012
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 7 (2022), S. 60 – 61
Du selbst entwirre dies, nicht ich:
Ein zu verschlungener Knoten ist‘s für mich
William Shakespeare (1564–1616)
Aus einer Schraubenfeder lässt sich ein einfacher Knoten schnüren. Diesen kann man entlang eines Stabs rollen lassen, was eine faszinierende dreidimensionale Drehbewegung hervorbringt.
Der Hauptzweck von Knoten besteht darin, etwas zu fixieren. Damit sichern sie paradoxerweise in vielen Bereichen des Lebens unsere Fortbewegung, ob beim Schnüren von Schuhen (»Spektrum« Juli 2017, S. 70), beim Segeln oder beim Bergsteigen. Selbst unsere Kleidung würde ohne sie auseinanderfallen. Nicht nur praktisch, auch theoretisch sind Knoten bedeutsam und bilden sogar ein eigenes Forschungsgebiet innerhalb der Mathematik. Während wir im Alltag eher Knoten mit offenen Enden verwenden, hat man es bei ihren mathematischen Gegenstücken mit in sich geschlossenen Schnüren zu tun.
So entsteht der einfache Überhandknoten dadurch, dass die beiden Enden eines Seils umeinander gewunden und dann festgezogen werden. Das kann jedes Kind. Solche Knoten werden erst dadurch mathematisch, dass man die freien Enden gedanklich miteinander verschmilzt (siehe »Überhandknoten«).
Knoten sind dreidimensional, auch wenn es normalerweise kaum ins Auge fällt. Denn die Schwerkraft lässt die meist schlaffen Fäden zu platten Gebilden zusammensinken. Der niederländische Grafiker M. C. Escher (1898–1972) hat sich damit beispielsweise in seinem Druck »Knoten« (1965) auseinandergesetzt und einfache Verschlingungen durch prägnante Schattierungen und Strukturierungen wieder erhaben erscheinen lassen. Andere Künstler haben Knoten gleich mit festen Materialien wie Metall und Stein als dreidimensionale Objekte gestaltet; im öffentlichen Raum finden sich viele ästhetisch ansprechende Umsetzungen. Notgedrungen geht bei den starren Werken die Funktion und Beweglichkeit üblicher Kordeln verloren. Doch das muss nicht immer so sein.
Angeregt durch den Escher-Knoten hat der deutsche Künstler Jochen Valett (1922–2014) nach eigenem Bekunden versucht, den eingefrorenen Versionen simpler Knoten nicht nur ihre naturgemäße Flexibilität zurückzugeben, sondern sie sogar zum Laufen zu bringen. Das ist ihm in Form seines »rasenden Knotens« auf eindrucksvolle Weise gelungen.
Dazu verwendete er anstelle eines Seils eine relativ weiche Schraubenfeder aus Stahldraht, verknotete sie und verschweißte die beiden Enden miteinander. Die Feder gibt dem Knoten einerseits ein Volumen, das in gewissen Grenzen dehnbar ist und stellt andererseits sicher, dass er nicht in sich zusammenfällt (siehe »Valett-Knoten«).
Das Besondere am rasenden Knoten besteht darin, dass man ihn an einem Stab hinab rotieren lassen kann. Dazu wird er mit seinem zentralen Loch stramm, also ein wenig gedehnt, über einen passenden runden Querschnitt geschoben. Damit der Knoten nicht einfach gerade herunterrutscht, muss die Dehnung eine genügend große Haftreibungskraft hervorrufen. Sie kompensiert das Gewicht der Stahlfeder. Gibt man dieser nun einen kleinen Schubs, so bewegt sie sich spiralförmig drehend am Stab hinab.
Das wird durch die Form der Öffnung möglich, die durch die drei innen liegenden Abschnitte gebildet wird. Die Tangenten in den Berührungspunkten der Knotenstränge sind schräg ausgerichtet und wirken wie eine Art Schraubengewinde.
Im Unterschied zu einer Mutter auf einer Gewindestange hat man es hier jedoch mit keiner Gleit- sondern einer echten Rollbewegung zu tun. Das heißt, wie bei Laufrädern eines Fahrzeugs legt der Punkt, mit dem die Rolle jeweils den Untergrund berührt, mit jeder Umdrehung eine Wegstrecke zurück, die der Länge des Umfangs entspricht. Ein normales Rad befindet sich stets nur an einer Stelle auf der Unterlage. Der verwundene Knoten hingegen berührt den Stab an drei verschiedenen Orten. Er rollt also gewissermaßen auf drei Fahrspuren gleichzeitig hinab.
Aus der Rollbewegung des Knotens ergibt sich zwangsläufig, dass er kein starres Gebilde sein kann. Er behält zwar seine äußere Gestalt und scheint während der Rotation als Ganzes in sich zu ruhen. In Wirklichkeit schlängelt sich allerdings das Band des Knotens sozusagen durch seine eigene Form hindurch. Markiert man auf dem abrollenden Knoten einen Punkt, so kann man verfolgen, wie sich dieser zyklisch umher windet.
Der Antrieb des Ganzen ist die Gewichtskraft des Knotens. Bei einem geraden Stab endet das Herabschrauben am Boden. Eine andauernde Bewegung erreicht man, indem man als Führung stattdessen einen großen Ring passender Dicke verwendet. Dieser wird dann so schnell in Gegenrichtung zum abrollenden Knoten gedreht wie letzterer an Höhe verliert (siehe »Momentaufnahme«).
Mit der Höhe des Knotens am gebogenen Ring ändert sich auch seine Achsenrichtung. Dementsprechend kommt jeweils nur eine mehr oder weniger große Komponente der Schwerkraft zur Geltung. Von deren voller Wirkung profitiert der Knoten lediglich dann, wenn seine Drehachse senkrecht ausgerichtet ist, er also in waagerechter Lage rotiert. Hier erreicht er die größte Drehgeschwindigkeit. Um ihn in der Position zu halten, muss der Ring entsprechend rasch in die entgegengesetzte Richtung gedreht werden. Ansonsten sinkt der Knoten in eine tiefere Stellung. Weil sich seine Achse dabei allmählich schräg stellt, nehmen dann die Antriebskraft und damit die Geschwindigkeit des Knotens ab. Es stellt sich eine neue Höhe am Ring ein, bei der die Kräfte wieder gleich groß sind. Wegen dieser Rückkopplung hält sich das ganze Kunstwerk in einem fesselnden dynamischen Gleichgewicht.
Wer einen Spaziergang an einem Bach unternimmt, sollte es nicht versäumen, dessen Oberfläche nach einer unauffälligen, nahezu fadenförmigen Welle abzusuchen. Sie läuft in den meisten Fällen wie eine dünne Linie senkrecht zur Strömungsrichtung über das Gewässer und zeichnet bei Sonnenschein einen feinen Streifen fokussierten Lichts auf den Boden (siehe »Kleiner Wellenkamm«). Wenn man die filigrane Struktur zum Beispiel mit dem Finger stört, bildet sie sich anschließend kaum verändert wieder neu. Der winzige Wall und vor allem sein Umfeld sind nicht nur schön anzusehen. Die Erscheinung deutet auf ein komplexes Strömungsgeschehen hin, von dem man direkt kaum etwas zu sehen bekommt.
Diese Art von Welle wurde zum ersten Mal 1854 vom US-Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau beschrieben. Sie hat später Generationen von Forschern zu experimentellen und theoretischen Untersuchungen angeregt, beginnend 1881 mit dem britischen Physiker Osborne Reynolds. In englischsprachigen Publikationen wird sie daher meist als Reynolds ridge bezeichnet.
Hinter der Thoreau-Reynolds-Welle steckt ein subtiles Zusammenspiel von Oberflächen- und Strömungseffekten. Es beginnt mit einer Barriere, die sich in einem Fluss gebildet hat, wenn etwa ein Ast quer darauf liegt oder Unrat stecken bleibt. Daran stauen sich natürliche Tenside und Eiweiße aus Pflanzenrückständen. Das Material verändert die physikalischen Eigenschaften der Wasseroberfläche. Die Moleküle streben dorthin und ordnen sich mit einem hydrophilen Ende im Wasser und einem hydrophoben in der Luft an. Das setzt die Spannung der obersten Wasserschicht herab, die nun auseinanderstrebt und sich sozusagen dagegen wehrt, erneut zusammengedrückt zu werden. Die Lage aus mikroskopischen Verunreinigungen wirkt anschaulich gesprochen wie ein unsichtbares fixiertes Brett auf das heranströmende Wasser. Dieses kann nur dadurch ausweichen, dass es auf seinem weiteren Weg darunter hinwegtaucht.
Zwischen dem in die Tiefe abgelenkten Strom und dem starren Oberflächenfilm gibt es eine Grenzschicht, die das weitere Geschehen maßgeblich bestimmt. Normalerweise spielt in laminar fließendem Wasser dessen Zähigkeit so gut wie keine Rolle. In der Grenzschicht haften die angrenzenden Flüssigkeitselemente jedoch direkt am Verunreinigungsfilm und die Geschwindigkeit passt sich nach außen hin immer mehr der Hauptströmung an. Infolge des dadurch hervorgerufenen Reibungswiderstands baut sich im nachkommenden Volumen auf kurzer Strecke ein erhöhter Druck auf. Das hebt an der Wasseroberfläche unmittelbar vor der Vorderkante der molekularen Verschmutzungen – also dort, wo das Wasser abtaucht – einen schmalen Bereich auf dessen ganzer Breite um knapp einen Millimeter an. Diese Erhebung ist die Thoreau-Reynolds-Welle.
Natürliche Gewässer führen fast immer oberflächenaktive Substanzen mit sich. Darum gibt es den Wall trotz seiner geringen Bekanntheit recht häufig. Vermutlich zieht er selten Aufmerksamkeit auf sich, da sowohl er als auch die Fläche mit den angestauten Substanzen unauffällig sind und sich in einigem Abstand von der ursächlichen Barriere befinden.
Ein solches Hindernis muss nicht besonders groß sein, um passendes Material aufzuhalten. Oft genügt dazu schon ein Schilfhalm oder ein kleiner Zweig. Letztlich ist die Thoreau-Reynolds-Welle selbst ein untrüglicher Hinweis auf einen weit gehend ruhenden Bereich. Sie ist so etwas wie eine Demarkationslinie zur bewegten Umgebung.
Das Phänomen kann sogar in stehenden Gewässern wie einer Pfütze beobachtet werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein starker und gleichmäßiger Wind obenauf treibendes Material zum Rand der Pfütze hin zusammenfegt. Das auf diese Weise gereinigte übrige Oberflächenwasser bewegt sich ebenfalls in die Richtung und findet eine ähnliche Situation vor wie im blockierten Wasserstrom. Es prallt auf den Schmutzfilm und taucht vor ihm ab – in dem Fall natürlich nicht darunter hindurch, sondern als bodennahe Unterströmung wieder zurück. So entsteht ein geschlossener Kreislauf, der im Idealfall so lange bestehen bleibt, wie der Wind weht.
Die Geschwindigkeit der Strömung spielt eine Rolle dabei, wie auffallend die Thoreau-Reynolds-Welle ist. Sobald eine Geschwindigkeit von 23 Zentimeter pro Sekunde überschritten wird, können stromaufwärts vor der Linie »Kapillarwellen« entstehen, deren Verhalten vor allem von der Oberflächenspannung bestimmt wird. Die dadurch hervorgerufenen Kräuselungen machen indirekt auf die Linie aufmerksam, zumal der starre Oberflächenfilm auch weiterhin nicht aus der Ruhe zu bringen ist.
Das neuere Forschungsinteresse an Thoreau-Reynolds-Wellen bezieht sich einerseits auf Meeresströmungen unter dem Einfluss unterschiedlicher natürlich vorkommender Substanzen. Andererseits hat das Phänomen längst Eingang in die labormäßige Untersuchung der Wirkung oberflächenaktiver Stoffe in einem viel allgemeineren Sinn gefunden.
Literaturtipp
Harald Berner. Der Thoreau-Reynolds-Grat und andere stehende Kapillarwellen. Books on Demand, 2021
In dem allgemeinverständlichen Buch sind unter anderem zahlreiche ästhetisch ansprechende Fotos zu sehen..
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 5 (2022), S. 77-78
Es regnete so stark, daß alle Schweine rein
und alle Menschen dreckig wurden
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)
Auf Pflanzenblättern sammeln sich Pollen und anderer feiner Staub. Ein Regenschauer wirkt reinigend und hinterlässt manchmal Tropfen, die einiges über die physikalischen Vorgänge bei der Schmutzbeseitigung verraten.
Manche Pflanzen verteilen ihre Pollen so verschwenderisch, dass andere in ihrer Nachbarschaft regelrecht mit einer Schicht aus Blütenstaub eingedeckt werden. Das kann die betroffenen Blätter in ihrer Photosynthese einschränken. Zum Glück sorgen ab und zu Regenschauer wieder für klare Verhältnisse. An Wassertropfen, die an den Blättern hängenbleiben, kann man nachvollziehen, wie die Reinigungsvorgänge physikalisch ablaufen.
Das zeigt sich zum Beispiel an Maiglöckchen (siehe »Maiglöckchenblatt«). Nach einem heftigen Regenschauer sind bei anschließendem Sonnenschein auf waagerecht ausgerichteten, leicht konkaven Blättern einige liegen gebliebene Wassertropfen zu sehen. An dem größten von ihnen lassen sich die wesentlichen Aspekte des Reinigungsvorgangs rekonstruieren. Neben einer kleinen Spiegelung der Sonne fällt ein größerer heller Fleck auf der höchsten Stelle des Tropfens auf. Wie man an seinem Schatten auf dem Blatt erkennen kann, hat er einen materiellen Ursprung: eine nahezu kreisförmige Ansammlung von Pollenkörnern, die der Regen beim Gleiten über das ehemals bestaubte Blatt eingesammelt hat.
Wenn Regentropfen auf Bäumen oder anderen Pflanzen landen, hängt ihr Schicksal vor allem von der Beschaffenheit der Blattoberfläche ab. Bei wasserliebenden (hydrophilen) Flächen ist für eine gemeinsame Grenzfläche zwischen Wasser und Blatt weniger Energie nötig als zwischen Wasser und Luft. Die Tropfen breiten sich also möglichst ausladend auf dem Blatt aus. Bei wasserabweisenden (hydrophoben) Flächen muss hingegen verhältnismäßig viel Energie aufgebracht werden, und die gemeinsame Grenzfläche zwischen Blatt und Wasser bleibt daher vergleichsweise klein.
Ein Maß für die Benetzbarkeit ist der so genannte Kontaktwinkel, der sich zwischen Festkörper und Flüssigkeit einstellt. Von Hydrophobie spricht man, wenn er größer ist als 90 Grad. Das ist bei den Maiglöckchen offenbar der Fall. Insbesondere die kleinen Tropfen erscheinen fast kugelförmig. Bei ihnen macht sich der Einfluss der Schwerkraft weniger stark bemerkbar als bei den deutlich abgeflachten voluminöseren Exemplaren.
Sobald Regentropfen auf dem Maiglöckchenblatt landen, nehmen sie die Pollen auf, mit denen sie in Kontakt geraten. Die Pollen sind hydrophil und bleiben deswegen am Wasser haften. Interessanterweise versammeln sie sich entgegen der Schwerkraft an der höchsten Stelle der Tropfen und ordnen sich nahezu kreisförmig an.
Die Vorgänge lassen sich auf einfache Weise in einem Freihandexperiment nachvollziehen. Dazu füllt man ein Trinkglas vorsichtig so voll mit Wasser, dass es sich über den Rand hinaus aufwölbt – die Oberflächenspannung und die Hydrophilie des Glases verhindert ein Überlaufen. Die höchste Stelle des konvexen Wasserspiegels liegt dann in der Mitte. Gibt man nun einige Styroporkügelchen auf die Oberfläche, driften sie sofort dorthin und ziehen sich gegenseitig an (siehe mittleres Foto). Sie tendieren dazu, gemeinsam eine hexagonale Form mit minimalem Umfang anzunehmen. Bei einer größeren Anzahl kleiner Teilchen wie den Pollen erscheint das als Kreis.
Durch die Benetzung der Kügelchen werden diese ein wenig tiefer ins Wasser gezogen, als es ihrem Gewicht entspricht. Ähnlich wie bei einem im Schwimmbad herabgedrückten Ball provoziert das eine zusätzliche Auftriebskraft. Bei der erstbesten Gelegenheit nehmen die Teilchen daher die jeweils höchste Stelle ein. Deswegen wandern die Pollen am Tropfen und die Styroporkügelchen die gewölbte Wasseroberfläche im Trinkglas empor. Die gegenseitige Anziehung erfolgt aus demselben Grund. Sobald ein Teilchen in die Reichweite des konkaven Meniskus eines anderen kommt, steigen sie jeweils darin auf, bis nur noch eine schmale Wasserlamelle zwischen beiden besteht.
Der reinigende Effekt durch Staubpartikel einsammelnde Tropfen ist am stärksten bei hydrophoben Blättern ausgeprägt, also solchen, die von Wasser nur wenig benetzt werden. Da die Lotuspflanze das Phänomen besonders eindrucksvoll zeigt, spricht man auch vom Lotuseffekt. Er hat seine Ursache in einer besonderen mikroskopischen Struktur und wird häufig als Paradebeispiel für die Bionik genannt, bei der es darum geht, natürliche Phänomene technisch zu adaptieren. So reinigen sich speziell beschichtete Oberflächen bei einem Regenguss selbst.
Aber selbst bei hydrophilen Pflanzenblättern kann es bei größeren Schmutzansammlungen zu einer Art Hydrophobisierung kommen. Indem die aufprallenden Tropfen sich mit einer Staubschicht umgeben, haben die Blätter weniger direkten Kontakt zum Wasser, und die Hydrophilie nimmt ab. Den Effekt kann man ebenfalls durch ein einfaches Experiment nachvollziehen. Träufelt man etwas Wasser auf Bärlappsporen, so werden die Tropfen mehr oder weniger vollständig damit überzogen, während sie über das Puder kullern (siehe unteres Foto). Jetzt erfolgt der Kontakt mit dem Untergrund nur noch über die Staubhülle, und so werden die ummantelten Tropfen praktisch hydrophob. Sie rollen bei der kleinsten Neigung vom Blatt hinab und hinterlassen schließlich eine mehr oder weniger gesäuberte Unterlage.
Es dringt in jede Spalte,
zeichnet alle Formen
– auch die unsichtbaren
Andrzej Stasiuk (*1960)
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 3 (2022), S. 74 – 75
Feinste Kratzer auf glatten Oberflächen sind normalerweise unsichtbar. Unter der Sonne treten sie allerdings abschnittsweise als dünne, manchmal bunt schillernde Streifen hervor, die sich scheinbar kreisrund um das Bild der Lichtquelle herum gruppieren.
Die meisten Menschen würden wohl behaupten, ein frisch lackiertes Auto glänze am schönsten. Wenn man hingegen auf einen speziellen physikalischen Effekt aus ist, darf die Autokarosserie nicht mehr ganz fabrikneu sein. Dann bildet sich an klaren Tagen um das reflektierte Bild der Sonne herum ein konzentrisch aussehendes System von mehr oder weniger kurzen Lichtstreifen. Sie schillern überdies häufig in verschiedenen Spektralfarben (siehe »Leuchtspuren«). Besonders lange genutzte Fahrzeuge ergeben die schönsten Effekte. Denn die Ringe werden letztlich durch Gebrauchsspuren hervorgerufen, die im Lauf der Zeit durch mechanische Einwirkungen auf den Lack entstehen. Daran sind die rotierenden Bürsten beim Waschen oder das manuelle Säubern ebenso beteiligt wie Schmutzteilchen, die über den Lack hinweg streichen und dabei mikroskopisch kleine Rillen hinterlassen.
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, es wären kreisförmige Streifen für das Phänomen verantwortlich, vielleicht durch entsprechende Bewegungen beim Polieren in diesem Bereich. Doch die leuchtenden Ringe bewegen sich mit dem Reflex der Lichtquelle mit und treten an fast jeder beliebigen Stelle in Erscheinung. Es muss eine andere Ursache geben.
Schaut man sich die hellen Striche genauer an, so erkennt man: Sie sind meist gar nicht gekrümmt, sondern es handelt sich um geradlinige Riefen, die sich wie Tangentenstücke an imaginäre Kreise um den Sonnenreflex herum gruppieren. Offenbar sieht man nur jene Abschnitte der Kratzer, die gerade so orientiert sind, dass sie das Licht ins Auge reflektieren. Auf die Weise entsteht insgesamt scheinbar eine kreisförmige Struktur. Unser visuelles System verstärkt den Eindruck, denn es tendiert dazu, Reize möglichst ausgewogen und symmetrisch wahrzunehmen. Denn wegen der Zufallsverteilung der Rillen kann es in Wirklichkeit keine aus tangentialen Stücken zusammengesetzten geschlossenen Kreise geben.
Wie kommt es zu dem Phänomen? Auf einer perfekt glatten Oberfläche wäre das Spiegelbild der Sonne genau auf einer Fläche zu sehen – und nur dort –, von der die einzelnen Punkte der Sonnenscheibe nach dem Reflexionsgesetz ins Auge geworfen werden. Nun sehen wir aber viele Stellen glänzen, die vom Spiegelbild der Sonne ein Stück entfernt sind. Darum können die reflektierenden Flächenelemente nicht in derselben Ebene liegen wie die gespiegelte Sonne. Sie müssen vielmehr zu ihr hin geneigt sein und zwar umso stärker, je weiter weg sie liegen.
Die Erklärung liegt im u-förmigen Querschnitt der Kratzer. Deswegen existiert ein ganzes Spektrum unterschiedlich geneigter Flächenelemente, und jedes leuchtet an den Stellen passender Winkel auf. Da die Sonne eine ausgedehnte Lichtquelle ist, erhellt sie nicht nur einen Punkt, sondern die Reflexion erstreckt sich noch über ein kleines Stück zu dessen Seiten. Die Länge der strahlenden Abschnitte hängt mit der scheinbaren Größe der Sonne zusammen. Außerdem sind die Reflexe an einem Kratzer auch deshalb nicht auf einen Punkt beschränkt, weil die Innenseiten unregelmäßig strukturiert sind und an mehreren Stellen passende Bedingungen bieten. Aus Symmetriegründen gelten die Überlegungen für alle tangential um das Spiegelbild der Sonne herum orientierten Rillen. Mit zunehmendem Abstand vom Zentrum sind immer steilere Neigungen für eine Reflexion zum Betrachter erforderlich. Da diese seltener vorkommen, nehmen die Häufigkeit und die Helligkeit leuchtender Kratzerabschnitte nach außen hin ab.
Obwohl die funkelnden Stellen einen Eindruck davon vermitteln, wie stark der Autolack vom Alltag gezeichnet ist, muss man sich vor Augen führen, dass die tatsächliche Zahl und Länge der winzigen Schrammen noch wesentlich größer sind. Eine Computersimulation veranschaulicht das: Man kann für eine Zufallsverteilung unterschiedlicher Kratzer, die im diffusen Licht unsichtbar sind, die Abschnitte visualisieren, die mit einer senkrecht darüber angebrachten Punktlichtquelle zu Tage treten. Dann zeichnen die Reflexionen ein ähnliches Muster wie auf einem Autodach und spiegeln doch immer nur einen Bruchteil aller Unebenheiten wider.
Solche strahlenden Ringe lassen sich außerdem beispielsweise als Reflexionen auf Besteck und weiteren intransparenten Objekten erkennen, aber auch beim Blick durch die Kunststofffenster eines Flugzeugs. Diese sind ebenso mechanischen Einwirkungen ausgesetzt. Von den winzigen Spuren sieht man nur etwas, wenn man durch das Fenster hindurch auf eine Lichtquelle blickt. In dem Fall gruppieren sich die hellen Abschnitte nicht um das Spiegelbild, sondern um das Original der Lichtquelle (siehe »Spektrum« August 2019, S. 52). Daher unterscheiden sich die physikalischen Verhältnisse insofern, als das Licht hier nicht an den Kratzern reflektiert, sondern an ihnen gebrochen wird.
Bei genauerem Hinschauen glitzern viele Rillen bunt. Offenbar sind einige der feinen Unregelmäßigkeiten von der Größenordnung der Wellenlänge des Lichts. Dann kommt es zur Beugung des Lichts, die das einfallende weiße Licht in die Bestandteile seines Spektrums zerlegt. Die Strukturen wirken wie feine Spalte, entlang derer die auftreffende Strahlungsfront Elementarwellen in alle möglichen Richtungen aussendet. Überlagern sie sich im Auge oder auf dem Chip der Kamera, so werden entsprechend den jeweiligen Wegunterschieden bestimmte Wellenlängen verstärkt oder abgeschwächt. Je nach Beobachtungsposition schimmern die Schrammen oft so intensiv farbig, dass sie viel breiter wirken, als sie in Wirklichkeit sind.
Von einem gewissen Punkt an
gibt es keine Rückkehr mehr.
Franz Kafka (1883–1924)
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 3 (2022), S. 72 – 73
Beim Zusammendrücken von Daumen und Mittelfinger wird Energie elastisch gespeichert und schließlich schlagartig freigegeben.
Das Fingerschnippen ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Das visuell-akustische Signal, das zwischen Mittelfinger und Daumen einer Hand erzeugt wird, lässt sich beispielsweise bereits bei den alten Griechen nachweisen, wie ein bemaltes Gefäß von zirka 320 v. Chr. bezeugt. Die Geste ist unvermindert populär, auch wenn sich der Kontext und die Bedeutung mit der Zeit und der Gesellschaft ändern. Heute beordert man auf die Weise kaum noch Bedienstete zu sich, dafür hoffen Schülerinnen und Schüler vorgezogen zu werden, indem sie sich fingerschnalzend melden.
Diese Art der Tonerzeugung wirkt eleganter und müheloser als das laute Händeklatschen. Dort kommt es beim Aufeinandertreffen der Handflächen zu Stoßwellen, die sich durch einen Knall bemerkbar machen. Erstaunlicherweise gelingt das beim Schnippen ebenfalls, obwohl dabei nur zwei Finger mit relativ kleiner Fläche aus sehr kurzer Entfernung zusammengebracht werden. Wie man mit etwas Experimentieren selbst herausfinden kann, entsteht das typische Geräusch nicht etwa auf Grund des als kraftvoll empfundenen Aneinandergleitens von Mittelfinger und Daumen, sondern erst dadurch, dass der Finger auf den Handballen unterhalb des Daumens auftrifft. Der Mechanismus ist überaus wirkungsvoll und ermöglicht große Geschwindigkeiten des Mittelfingers, die zum Auslösen von Schallwellen mehr als ausreichen. Auf keine andere Weise lässt sich auf derart begrenztem Raum mit nur zwei Fingern einer Hand ein auch nur annähernd so gut hörbarer Laut hervorbringen.
Welches physikalische Geheimnis steckt hinter dem Schnippen? Beim Ablauf werden zunächst Daumen und Mittelfinger aufeinander gepresst, und zwar mit der Tendenz sie zu scheren, das heißt sie gegeneinander zu verschieben und innerhalb der Gewebe Spannung aufzubauen. Die Hautoberflächen bleiben am Kontaktpunkt anfangs zusammen, während sich tiefere Schichten der Finger bereits verlagern. Sie werden dabei ähnlich unter Druck gesetzt wie eine elastische Feder, und eine rückwirkende Kraft entsteht. Die Reibungskraft zwischen den Kuppen muss so dosiert werden, dass sie zunächst bremsend wirkt und ein vorschnelles Abgleiten unterbindet. Das funktioniert nur mit passend beschaffenen Oberflächen. Mit nassen oder fettigen Fingern gelingt Schnippen daher kaum.
Schließlich überschreitet die auf Daumen und Mittelfinger ausgeübte Scherkraft ein kritisches Maß. Sie wird größer als die Haftreibungskraft, und es kommt zum abrupten Übergang zur Gleitreibung. Das setzt die gesamte elastische Spannenergie plötzlich frei. Dadurch wird der Mittelfinger stark beschleunigt und trifft mit enormer Rotationsgeschwindigkeit auf den Ballen unterhalb des Daumens. Bis zu dem Auslösepunkt kommt es sehr auf die intuitiv ausgeübte, subtile Kontrolle des Drucks zwischen Daumen und Mittelfinger an.
Vier US-Forscher um Raghav Acharya vom Georgia Institute of Technology in Atlanta haben die Details des Fingerschnippens experimentell und theoretisch näher untersucht. In ihrer im November 2021 veröffentlichten Analyse stellten sie mit Hilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera fest, dass dabei Rotationsgeschwindigkeiten von 7800 Grad pro Sekunde erreicht werden, was 1300 Umdrehungen pro Minute entspricht. Der ganze Vorgang dauert nur etwa sieben Millisekunden und ist damit zwanzigmal schneller als ein Augenblinzeln. Überhaupt können wir kaum eine andere Bewegung derart explosiv ausführen. Hinsichtlich der Drehgeschwindigkeit erreicht ein professioneller Baseballspieler zwar noch leicht höhere Werte, aber was die Beschleunigungen angeht, sind diese beim Fingerschnippen den Studienautoren zufolge die größten, die je bei Menschen gemessen wurden.
Bei ihren Versuchen variierten die Forscher einige der relevanten Parameter, insbesondere den Reibungskoeffizienten. Dazu verwendeten sie unterschiedliche Materialien wie Gummihandschuhe oder Fingerhüte. Sie wiesen nach: Die anfängliche Energiespeicherung vermittels der Haftreibung ist für das Phänomen von entscheidender Bedeutung. Eine wesentliche Rolle spielen außerdem die elastischen Eigenschaften der biologischen Gewebe, etwa deren Komprimierbarkeit.
Die Forscher beließen es nicht bei der Dokumentation des realen Prozesses, sondern entwickelten auf Basis ihrer Ergebnisse ein mathematisches Modell des Fingerschnippens. Sie gingen stark vereinfachend davon aus, dass die Wechselwirkung zwischen den beiden Fingern einem Feder-Masse-System entspricht (siehe »Federnde Finger«). Dabei wirkt eine Kraft, die über eine Feder vermittelt wird, durch Reibung auf eine andere Masse ein, die zunächst als Riegel dient. Die Federkraft ist variierbar. Die davon abhängige Reibungskraft führt als Haftreibung zu einer Speicherung elastischer Energie. Diese wird dann beim Entriegeln auf einmal freigesetzt und beschleunigt urplötzlich eine Masse, die an der Feder befestigt ist.
Die Wissenschaftler erhoffen sich auf Basis ihres Modells eine Erklärung für ähnliche Vorgänge im Tierreich. Zum Beispiel schnappen manche Termiten und Ameisen mit ihren Mundwerkzeugen auf vergleichbare Weise. Darüber hinaus könnten die Erkenntnisse die Entwicklung von fein steuerbaren Aktuatoren für technische Anwendungen unterstützen.
Diese Art, Finger aneinander schnalzen zu lassen, ist die effektivste – aber nicht die einzige. Wenn die Hand mit bewusst schlaff gelassener Muskulatur in eine Art Schleuderbewegung versetzt wird, schlägt schließlich der Zeigefinger auf den Mittelfinger auf. Mit etwas Übung erzeugt auch das ein lautes Geräusch. Vielleicht wäre das ja ein Gegenstand für ein zukünftiges Forschungsvorhaben.
Quelle
Acharya R. et al.: The ultrafast snap of a finger is mediated by skin friction. Journal of the Royal Society Interface 18, 2021. https://doi.org/10.1098/rsif.2021.0672
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 2 (2022)
Es waren Myriaden im Erstarren zu ebenmäßiger Vielfalt kristallisch
zusammengeschossener Wasserteilchen.
Thomas Mann (1875–1955)
In kalten Nächten wachsen oft weit verzweigte Eiskristalle heran. Wo und wie sie genau entstehen, hängt vor allem von den lokalen Gegebenheiten ab.
Zwar verlieren Pflanzen im Winter ihre Blütenpracht, doch dafür sprießen an ihnen filigrane, dendritische Eiskristalle und bieten einen schönen und physikalisch interessanten Ersatz. Damit solche Strukturen entstehen können, ist neben tiefen Temperaturen aber auch Wasser nötig.
In einer trockenen und wolkenfreien Nacht kann reichlich davon anfallen. Das ist uns bereits aus den wärmeren Jahreszeiten vertraut: Nicht selten sind am frühen Morgen Blätter und andere Gegenstände mit zahlreichen, bei Sonnenschein glitzernden Tautröpfchen benetzt. Durch Abstrahlung von Energie zum dunklen Himmel fällt die Temperatur der Objekte; Luft in deren Nähe kühlt ebenfalls ab. Damit sinkt die maximal mögliche Konzentration des darin enthaltenen Wasserdampfs (maximale Feuchte). Unterschreitet sie die aktuell vorhandene absolute Feuchte, kondensiert das überschüssige Wasser. Die Temperatur, bei der das passiert, heißt Taupunkt.
Kleinere und flachere Gebilde wie Grashalme und Blätter kühlen stärker ab. Denn einerseits ist die pro Zeiteinheit abgestrahlte Energie in etwa proportional zur Größe der Oberfläche, andererseits ist die gespeicherte innere Energie proportional zum Volumen. Wenn r für eine typische lineare Größe eines Gegenstands steht, etwa seinen Radius, dann schrumpft seine Oberfläche proportional mit r^2, sein Volumen aber mit r^3. Wird das Objekt beispielsweise um den Faktor 10 verkleinert, so verringert sich seine Oberfläche um das 100- und sein Volumen um das 1000-Fache. Also nimmt die zu Letzterem proportionale innere Energie stärker ab als die Oberfläche – und mit der inneren Energie ist wiederum die Temperatur verbunden.
Im Winter sind die Verhältnisse nicht grundlegend anders, nur liegt der Taupunkt gegebenenfalls unterhalb des Gefrierpunkts. Dann wird der überschüssige Wasserdampf gar nicht erst flüssig, sondern gefriert an den eiskalten kleinen Strukturen direkt zu Kristallen (Resublimation). Um vom gasförmigen in den festen Zustand überzugehen, benötigen die Wassermoleküle Unterstützung in Form von so genannten Keimen. Das sind meist winzige Partikel, an denen die Kristallisation leichter gelingt als beispielsweise im freien Raum. Der ideale Keim ist ein bereits existierender Eiskristall, und daher wachsen eher vorhandene Exemplare als neue entstehen.
Auf einem Blatt entwickeln sich die ersten Eisstrukturen bevorzugt an dünnen Härchen und anderen winzigen Auswüchsen (siehe »Sprießende Spitzen«). Sie sind nicht nur besonders kalt, sondern ragen oft außerdem ein Stück weit in die Umgebung hinein, die von Wasserdampfmolekülen wimmelt. Deren Verfügbarkeit ist zudem einer der Gründe dafür, dass die entstehenden Eisnadeln meist nicht in beliebige Richtungen wachsen, sondern von ihrer Basis weg ins Freie. Dabei spielt ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: Bei der Resublimation fällt Energie aus Kondensationswärme und Kristallisationswärme an. Nur, wenn sie genügend schnell weggeschafft wird, kann Dampf tatsächlich erstarren.
Haben die Spitzen eine bestimmte Länge erreicht, können Seitenzweige schräg nach oben austreiben, weil ihre Flanken jetzt genügend weit von der Basis entfernt sind. So ergeben sich die dendritischen Strukturen gewissermaßen zwangsläufig.
In der Natur sind vielfältige Eiskristallmuster zu beobachten. Das spiegelt die zahlreichen Möglichkeiten wider, die sich durch die Geometrie der Objekte, die jeweils herrschenden Temperaturverhältnisse, den Nachschub an Wasserdampfmolekülen sowie die Entsorgung der Abwärme ergeben.
Die bislang erläuterten Strukturen entsprechen Verhältnissen mit eingeschränkter Versorgung mit Material und begrenztem Abführen der Kristallisationswärme. In Situationen, in denen reichlich Wasserdampf vorhanden ist und die Wärme optimal abtransportiert wird, gibt es eine ganze Klasse weiterer Eisstrukturen. Sie sind großflächig und dicht. Bei ihnen schlägt sich der Einfluss der hexagonalen Symmetrie der mikroskopischen Wassermoleküle auf die makroskopischen Muster besonders deutlich nieder.
In einem Fall (siehe »Hexagonale Blättchen«) war der Ausgangspunkt der Strukturbildung eine Schneedecke, die sich großflächig über niedriges Buschwerk gelegt hatte. Tagsüber heizte die intensiv strahlende Sonne den dunklen Raum darunter auf – eine feuchtigkeitsgesättigte Atmosphäre entstand. In der anschließenden sternklaren Nacht kühlte sich die obere Schneeschicht stark ab. Von unten stiegen verhältnismäßig warme Luft und Wasserdampf auf. Letzterer schlug sich im Bereich des Schnees nieder und erstarrte. Bei so einer Konstellation wird die Kristallisationswärme leicht in den kalten Nachthimmel abgestrahlt. So füllen sich beim Emporwachsen selbst die Zwischenräume problemlos. In nur einer Nacht können auf diese Weise lamellenartige Strukturen entstehen, die teilweise wie nach oben offene Gefäße aussehen und an manchen Stellen wie Kühlrippen gestaffelt sind. Letztere Ähnlichkeit ist mehr als rein äußerlich, schließlich kommt es gerade bei üppiger und effektiver Produktion von Kristallstrukturen weiterhin darauf an, die Wärme optimal abzugeben. So sind auch die typischen weihnachtsbaumartigen Muster (siehe »Baumartig gestaffelt«) weniger eine ästhetisch ansprechende Laune der Natur, als vielmehr eine physikalische Notwendigkeit.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 1 (2022), S. 60 – 61
Das Schöne ist eine Manifestation
geheimer Naturgesetze
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Selbst bei lang anhaltenden tiefen Temperaturen kann die Eisdecke eines Sees allmählich schrumpfen. Das liegt an der Wärmestrahlung des Tageslichts. Aufliegende Steine schirmen diese unter sich ab, während das restliche Eis abgetragen wird. Sie finden sich daher schließlich auf einer Säule balancierend wieder.
In unseren Regionen trifft man auf einem zugefrorenen Gewässer zuweilen Steine, Blätter und Äste an, die sich in einer Mulde befinden, so als wären sie dort unter dem eigenen Gewicht eingesunken (siehe »Schmelzabdruck«). Der Eindruck trügt. Vielmehr absorbieren sie die direkte Sonnenstrahlung und erwärmen sich deswegen über den Gefrierpunkt hinaus. Bei nicht allzu tiefen Temperaturen entsteht zunächst Schmelzwasser und dann mit dessen Verdunstung eine passgenaue Mulde, die bei länger andauernder Sonneneinwirkung immer tiefer wird. Das Eis an sich ist weitgehend transparent und nimmt nur wenig Sonnenenergie auf. Es wird an unberührten Flächen in der Umgebung also kaum angegriffen.
Manchmal lässt sich aber eher das Umgekehrte beobachten, etwa bei lang anhaltenden tiefen Temperaturen auf schneefreien, zugefrorenen Seen wie dem Baikalsee in Sibirien. Dort sind Steine zwar auch von einer Mulde umgeben, aber statt darin zu liegen, scheinen sie vielmehr darüber zu schweben. Tatsächlich werden sie von einem schmalen Eispodest getragen, das aus der Vertiefung herausragt. Wegen der visuellen Ähnlichkeit zu meditativ genutzten Steintürmchen werden solche Fundstücke gelegentlich als Zen-Steine bezeichnet (siehe »Zen-Stein«).
Die Kontur der Zen-Steine erinnert an pilzartige Felsformationen, wie sie beispielsweise im türkischen Kappadokien zu bewundern sind (siehe »Feenkamine«). Solche »Feenkamine« entstehen, indem härteres Gestein, das auf weicherem liegt, an manchen Stellen die Erosion durch Wasser und Wind abschirmt und damit verzögert.
Es war bereits bekannt, dass die Erosion auch beim Entstehen der Zen-Steine eine wesentliche Rolle spielt. Bisher ließ sich allerdings nicht erklären, welcher Mechanismus bei derart tiefen Temperaturen das Eis so stark abträgt. Denn einerseits ist die direkte Sonneneinstrahlung jahreszeitlich bedingt sehr schwach, und zum anderen erfolgt die Strukturbildung der Zen-Steine unabhängig davon, ob und aus welcher Richtung die Sonne scheint.
Im Oktober 2021 haben die Physiker Nicolas Taberlet und Nicolas Plihon von der Universität Lyon das Problem gelöst. Sie konnten sowohl experimentell als auch anhand eines physikalischen Modells zeigen, dass die Erosion durch die Sublimation von Eis bewirkt wird. Beim Sublimieren einer Substanz geht diese direkt vom festen in den gasförmigen Zustand über. Das flüssige Stadium wird sozusagen übersprungen. Das ist kein ungewöhnlicher Vorgang – im Winter verschwindet Schnee selbst in unseren Breiten unter bestimmten Bedingungen, ohne zuvor flüssig geworden zu sein (siehe »Spektrum« 2/2020, S. 78). Ein solcher unmittelbarer Übergang geschieht außerdem beispielsweise beim festen Kohlenstoffdioxid, das umgangssprachlich bezeichnenderweise Trockeneis heißt und bei Umgebungstemperatur in einer stürmischen Reaktion gasförmig wird (siehe »Spektrum« 11/2009, S. 52).
Bei der Sublimation von Eis finden Schmelzen und Verdampfen gewissermaßen gleichzeitig statt. Daher muss die dazu nötige Wärme für beides auf einmal aufgebracht werden; obendrein ist beim Wasser jeweils relativ viel Energie dafür erforderlich. Woher stammt sie? Eis absorbiert Licht sichtbarer Wellenlängen kaum. Deswegen kommen fast ausschließlich die langwelligen Anteile des diffusen Tageslichts in Frage, das aus allen Richtungen einstrahlt.
Aus dessen Intensität lässt sich die Rate der Eiserosion durch Sublimation abschätzen. Dabei zeigt sich: Der Schwund geht sehr langsam vonstatten. Dabei schirmt ein auf dem Eis liegender Stein die unter ihm befindliche Fläche ab und schützt sie vor Verlusten. So senkt sich allmählich das Eisniveau außerhalb des Schattens, und der Stein bleibt auf einem Podest liegen. Dieses scheint aus der sinkenden Eisfläche herauszuwachsen und wird dabei der diffusen Strahlung des Tageslichts stärker ausgesetzt. Dadurch trifft die von überall kommende Wärme auch auf die zunehmend hohen Seiten der Eissäule, die zu einem immer schmaleren Stiel erodiert – der schließlich unter dem Gewicht des Steins bricht.
Taberlet und Plihon haben ihre Theorie durch Laborexperimente abgesichert. Sie führten sie in einer Vakuumkammer durch, wie sie zur Gefriertrocknung etwa von Lebensmitteln verwendet wird. Bei den dort herrschenden niedrigen Drücken und Temperaturen konnten die beiden Physiker die Sublimationsrate wesentlich erhöhen und damit die Erosionsdauer entsprechend verkürzen. Sie stellten die Geschehnisse auf dem Baikalsee gewissermaßen im Zeitraffer nach. Statt Steine verwendeten sie kleine Metallplatten. Diese wurden mit dem Schrumpfen der umliegenden Eisschicht in der Kammer schnell auf ein immer höheres und schmaleres Podest gehoben. Bei Versuchen mit Plättchen unterschiedlicher Art war der Effekt unabhängig vom Material. Insbesondere spielte die Wärmeleitfähigkeit des Stoffs keine Rolle.
Bei einem näheren Blick fällt auf: Ähnlich wie bei den eingangs genannten Blättern auf hiesigen zugefrorenen Flächen bildet sich unter den Zen-Steinen ebenfalls eine Mulde. Denn sie absorbieren – anders als Eis – auch Energie im sichtbaren Bereich des Tageslichts und geben diese als Wärmestrahlung an die Umgebung ab. Das erodiert die in unmittelbarer Nähe befindliche Eisfläche zusätzlich. Hier zu Lande bringt das die Unterlage üblicherweise zum Schmelzen, in Sibirien aber erhöht es wegen der sehr tiefen Temperaturen lediglich die Sublimationsrate.
Quelle
Taberlet, N. , Plihon, N.: Sublimation-driven morphogenesis of Zen stones on ice surfaces. PNAS 2021 Vol. 118 No. 40 e2109107118
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 12 (2021), S. 60 – 62
Die Sonnenflecke soll ich bemerkt und
die Sonne selbst soll ich übersehen haben!
Friedrich Hebbel (1813–1863)
Vor 450 Jahren, im Dezember 1571, wurde Johannes Kepler geboren. Den meisten ist er durch die nach ihm benannten Planetengesetze vertraut. Weniger bekannt ist: Er brachte die geometrische Optik praktisch zur Vollendung. Beide Leistungen hängen eng zusammen.
Die drei keplerschen Gesetze gelten zu Recht als revolutionär. Indem Johannes Kepler (1571–1630) für die Bewegungen der Planeten physikalische Ursachen annahm, deren Ursprung in der Sonne liegt, lieferte er entscheidende Argumente für das Weltbild von Nikolaus Kopernikus (1473–1543). Die Planetengesetze wiederum waren eine Voraussetzung für eine quantitative Naturbeschreibung, auf der Isaac Newton (1642–1726) die klassische Physik begründen konnte. Seitdem gibt es keinen Unterschied mehr zwischen himmlischen und irdischen Regeln.
Auf einem anderen Gebiet war Kepler ebenso weltbewegend tätig, nämlich der geometrischen Optik. Er brachte sie zu einem bis heute gültigen Abschluss (sieht man einmal von der späteren quantitativen Formulierung des Brechungsgesetzes ab). Beide Bereiche sind enger miteinander verknüpft, als man zunächst denken könnte.
Entscheidend war dabei die Lösung des so genannten Sonnentalerproblems, bei dem sich Astronomie und Optik treffen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurde als Beobachtungstechnik für Sonnenfinsternisse vorgeschlagen, den gefährlichen direkten Blick in die Sonne zu vermeiden, indem man ein Lochkamerabild auf einer Leinwand beobachtet. Denn schon lange vor Kepler war bekannt: Fällt Licht eines hellen Objekts durch eine wie auch immer geformte kleine Öffnung, entsteht hinter dieser eine Abbildung der Quelle. Das genaue Prinzip dahinter blieb aber rätselhaft. Bereits in der pseudo-aristotelischen Schrift Problemata Physica fragt sich der Autor zum einen: »Warum erzeugt die Sonne, wenn sie durch viereckige Gebilde dringt, nicht rechteckig gebildete Formen, sondern Kreise?« und zum anderen: »Warum treten bei Sonnenfinsternis, wenn man durch ein Sieb oder durch Blätterlücken sieht, oder wenn man die Finger der einen Hand mit denen der anderen verflechtet, die Sonnenstrahlen auf der Erde halbmondförmig in Erscheinung?«.
Letztlich geht es dabei um das Problem, wie sich die geradlinige Ausbreitung des Sonnenlichts mit dem Befund vereinbaren lässt, dass es sich selbst beim Durchgang etwa durch ein rechteckiges Loch zu einem kreisförmigen Fleck krümmt. Bemühungen um eine Lösung ziehen sich wie ein roter Faden durch die zweitausendjährige Geschichte der Strahlenoptik. Die Kepler vorliegenden Arbeiten des Mittelalters hinterlassen den Eindruck, Schuld seien die Unzulänglichkeit des Auges und die Art und Weise des Sehens. Der bereits neuzeitlich denkende Kepler erkannte in derartig »ungehörigen und in der Optik nicht anerkannten« Begründungen keine erhellenden Erklärungen. Er ging dem Sachverhalt selbst nach.
Doch warum war das für Kepler so wichtig? Hätte der Astronom die erfolgreiche Beobachtungsmethode von Sonnenfinsternissen nicht einfach akzeptieren können, ohne sie bis ins Detail verstehen zu müssen? Die Antwort darauf ergibt sich aus einem Rätsel, mit dem sich Keplers Zeitgenosse Tycho Brahe (1546–1601) konfrontiert sah. Ihm erschien bei der Sonnenfinsternis am 25. Februar 1598 der Neumond »nicht in der Größe, die er zu anderen Zeiten bei Vollmond hat«. Für Kepler, der zutiefst von der Gültigkeit der Himmelsmechanik überzeugt war und insbesondere die Bahnen und Größen der Himmelkörper für unveränderlich hielt, waren Ansätze völlig inakzeptabel, die zum Beispiel einen bei Sonnenfinsternissen schrumpfenden oder weiter entfernten Mond voraussetzten.
Kepler suchte stattdessen den Fehler bei der Beobachtungsstrategie selbst und entwickelte ein einfaches Modell, mit dem sich die Abbildung physikalisch rekonstruieren und anschaulich verstehen lässt. Auf der bewährten Grundlage des Strahlenmodells der geometrischen Optik nahm er an: Eine punktförmige Quelle sendet Strahlen radial in alle Richtungen aus. Fällt ihr Licht durch eine Öffnung, so erscheint diese in ihrer Form unverändert auf eine dahinter aufgestellte Leinwand projiziert – eine eckige Blende als ebenso kantige, helle Fläche. Doch die Sonne ist nicht punktförmig. Ein entscheidender Schritt brachte Kepler schnell auf die Lösung. Der Trick besteht darin, eine ausgedehnte Lichtquelle als Ensemble unendlich vieler Punktquellen aufzufassen.
Lässt man davon ausgehend in einem Gedankenexperiment beispielsweise eine dreieckige Lichtquelle durch ein rundes Loch strahlen, so liegt die Lösung des Sonnentalerproblems auf der Hand (siehe »Gemischter Umriss«). Anhand einiger ausgewählter Punkte wird erkennbar: Die auf der Leinwand abgebildeten runden Löcher überlagern sich letztlich zu der dreieckigen Form des leuchtenden Objekts.
Diese Modellierung dürfte zu Keplers Zeiten recht kühn gewirkt haben. Denn einerseits war das unendlich Kleine noch nicht vertraut – die später von Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entwickelte Infinitesimalrechnung zeigte die damit verbundenen Vorstellungsschwierigkeiten. Andererseits wird eine ungestörte gegenseitige Durchdringung der Lichtstrahlen unterstellt, und das dürfte ebenso nicht selbstverständlich gewesen sein.
Die Lichtquelle zeigt ihren Umriss auf dem Schirm umso präziser, je kleiner das Loch ist. Dasselbe erreicht man mit zunehmendem Abstand zwischen Blende und Projektionswand, weil die Größe der Abbildung dabei schneller wächst als die von der Lochgröße bestimmte Randunschärfe.
So konnte Kepler die beobachtete Mondverkleinerung von 20 Prozent als einen Beobachtungsfehler erklären. Er beruhte darauf, dass der Schirm zu dicht hinter dem Loch angebracht oder dieses zu groß war. Zahllose Bilder des Lochs traten so weit über den Rand der eigentlichen Sonnenprojektion und überlagerten den Schatten des Monds (siehe »Randunschärfe«). Ein leicht verwaschener Eindruck kann nie vollständig beseitigt werden, doch nach dieser Einsicht wurde es möglich, den Effekt zu beziffern und durch kleinere Löcher und weitere Abstände zu minimieren.
Heute mag uns die Lösung des Problems einfach erscheinen, aber sie war damals alles andere als selbstverständlich. Kepler musste eine völlig neue Herangehensweise entwickeln und die optischen Regeln seiner Vorgänger entsprechend überarbeiten. Später kam zwar heraus, dass etwa Francesco Maurolico (1494–1575) bereits 1521 eine korrekte Erklärung gegeben hatte, allerdings konnte Kepler von ihr nichts wissen. Außerdem handelte es sich um eine relativ isolierte Beschreibung außerhalb eines einheitlichen theoretischen Rahmens.
Im Sinn des Physikers und Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn (1922–1996) kann die von Kepler vollendete geometrische Optik als Ergebnis eines Paradigmenwechsels angesehen werden. Im Mittelpunkt dieser konzeptuellen Revolution stand das Phänomen der Sonnentaler. Als Astronom, der maßgeblich am Durchbruch der kopernikanischen Wende mitgewirkt hat, war Kepler bereits vom neuzeitlichen physikalischen Denken beeinflusst. Jedenfalls war er von den mechanischen Gesetzen der Bewegung der Himmelkörper derart überzeugt, dass er eine merkliche Größenveränderung von Himmelskörpern oder deren Bahnen angesichts des aus seiner Sicht mechanischen Ereignisses einer Sonnenfinsternis für unmöglich hielt. So konnte Kepler die Grenzen des bisher anerkannten Beobachtungsprinzips kritisch hinterfragen – und so verdanken wir ihm neben einer Revolution im Bereich der Astronomie außerdem die moderne Wissenschaft des Lichts.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 11 (2021), S. 66 – 67
Was ein Häkchen werden will,
krümmt sich beizeiten
Sprichwort
Während harte Spagetti im heißen Wasser allmählich flexibel werden, läuft eine Reihe physikalischer Vorgänge ab. Diese lassen sich erstaunlich gut modellieren.
Es spricht wohl für die Beliebtheit der Spagetti, dass sich Fachleute mit dem Verhalten der dünnen Nudelstäbe seit Jahrzehnten wissenschaftlich auseinandersetzen. Vor einigen Jahren wurde bereits die vom Physiker Richard Feynman (1918–1988) gestellte Frage beantwortet, warum Spagetti kaum entzwei zu brechen sind. In den meisten Fällen entstehen nämlich nicht zwei, sondern drei oder manchmal auch mehr Bruchstücke (siehe »Spektrum« Juli 2016, S. 42). Rohe Spagetti gehören aus dem Blickwinkel der Kulinarik allerdings nicht gerade zu den interessantesten Lebensmitteln. Doch inzwischen hat die Forschung auch die gekochten Nudeln in den Blick genommen. 2020 haben zwei Ingenieurwissenschaftler von der University of California in Berkeley ein Modell vorgestellt, das die Mechanik des Übergangs beschreibt, bei dem Spagettistäbe vom festen in den weichen Zustand und wieder zurück wechseln.
Dabei knüpften sie an eine bekannte Situation an: Bei der Zubereitung werden die trockenen Spagetti in einen Topf mit heißem Wasser gegeben. Um sie nicht zerbrechen zu müssen, lehnt man sie oft zunächst an die Topfwand. Schon nach kurzer Zeit verformen sie sich und sinken tiefer ins Wasser. Was geht dabei in den Nudeln vor sich?
Spagetti werden wie die meisten Nudelarten aus Hartweizengrieß hergestellt. Grieß enthält Stärke und Eiweiße. Letztere kann man sich als mikroskopisch feine, miteinander verschlungene Fäden vorstellen, die Stärke wiederum entspricht winzigen Körnern. Der Grieß wird mit Wasser versetzt und der so entstehende Teig kräftig geknetet. Dabei entfalten sich die zunächst kompakt geknüllten Eiweißfäden und verfilzen mit der Stärke zu einem zusammenhängenden Teig. Die Verbindung ist so stark, dass später die gekochten Spagetti nicht zerfallen. Indem der Teig durch eine Düse gepresst wird, erhalten die einzelnen Stränge ihren runden Querschnitt. Eine vorsichtige Trocknung bringt schließlich die bekannte Form und Härte.
Das Zubereiten in kochendem Wasser macht den Herstellungsprozess gewissermaßen wieder rückgängig. Bei der Transformation von fest zu flexibel durchdringt die Flüssigkeit allmählich die fein poröse, Wasser liebende (hydrophile) Trockenteigmasse. Der Vorgang läuft von selbst ab, weil die Grenzflächenbildung zwischen Nudelsubstanz und Wasser weniger Energie erfordert als die zwischen Nudel und Luft. Mit kaltem Wasser würde die innere Benetzung allerdings sehr lange dauern. Mit der Temperatur eines Stoffs steigt die mittlere Bewegungsgeschwindigkeit seiner mikroskopischen Bestandteile; eine Front heißer Wassermoleküle schreitet wesentlich schneller voran.
Das Wasser dringt zunächst radial in die harten Spagetti ein. Dabei pflanzt sich eine scharfkantige Grenzfläche zwischen dem kleiner werdenden trockenen Kern und dem wachsenden feuchten äußeren Ring fort. Die durchnässte Zone schwillt an und macht so die Verbindung von Stärke und Wasser sichtbar. Dabei werden die gewässerten Stäbe nicht nur dicker, sondern auch etwas länger. Zudem geliert die Stärke in den Außenbereichen des Rings. Diese Verkleisterung lässt die Nudel zusätzlich aufquellen und macht sich in einer mehr oder weniger ausgeprägten Klebrigkeit bemerkbar.
Nach meinen eigenen Messungen nimmt die Masse der ursprünglich harten Spagetti im gegarten, gut abgetropften Zustand um das 2,4-Fache zu. Eine kleine Menge eines Bestandteils des Stärkemehls (Amylose) wird ausgespült. Das erkennt man auch an der Trübung des Kochwassers.
An der trockenen Luft verdunstet das Wasser der weichen Spagetti wieder. Es kehrt sich sozusagen die Richtung des Flüssigkeitstransports durch die feinen Poren um, bis schließlich wieder harte Nudeln zurückbleiben. Abgesehen von geringen Geschmackseinbußen und Substanzverlusten an das Kochwasser verläuft die Trocknung nahezu reversibel.
Um die mechanischen Veränderungen beim Durchfeuchten genauer zu verstehen und modellmäßig zu erfassen, verfolgten die beiden Forscher aus Berkeley die Veränderungen an einem einzelnen Spagetto. Diesen platzierten sie so in heißem Wasser, dass er mit dem einen Ende den Boden und mit dem anderen die Wand des Gefäßes berührte.
Während der Anteil der harten Substanz allmählich abnimmt, sinkt auch die Biegesteifigkeit. Sie reicht schließlich nicht mehr aus, um die durch die Schwerkraft bedingten Biegemomente der Nudel zu kompensieren – letztere beginnt, durchzuhängen. Indem sie sich dabei immer mehr an die Wand anschmiegt, rutscht der obere Berührpunkt herab. Gleichzeitig nähert sie sich im unteren Bereich dem Boden.
Kurz bevor der Spagetto völlig durchweicht ist, kann die verbliebene Biegesteifigkeit das obere Ende nicht mehr senkrecht halten. Kleinste Störungen lassen die Nudel unter dem Einfluss der eigenen Schwere vornüberkippen, bis sie mit der Spitze den Boden erreicht. Der Krümmungsradius im Endzustand ist ein Maß für die restliche Biegesteifigkeit.
Die Wissenschaftler haben ein rein mechanisches und reibungsfreies Modell aufgestellt, und es reproduziert das Verhalten trotz der Vereinfachungen sehr gut. Insbesondere erklärt es die Fähigkeit der Nudel, am Schluss eine Konfiguration anzunehmen, die sowohl geometrisch als auch von der Konsistenz her wesentlich komplexer ist als ihr Ausgangszustand: Bekanntlich lassen sich Spagetti nur dann gut um eine Gabel wickeln, wenn sie frisch gekocht sind. Jedem selbst überlassen bleibt indes, ob sie auch besser schmecken, wenn man die Zubereitung einmal unter der physikalischen Perspektive betrachtet.
Quelle
Goldberg, N. N. et al.: Mechanics-based model for the cooking-induced deformation of spaghetti. Physical review E 101, 2020
Originalpublikation: Wie Spagetti erweichen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 10 (2021), S. 68 – 69
Daß vom reinlichen Metalle
Rein und voll die Stimme schalle
Friedrich Schiller (1759–1805)
Trifft ein Wasserstrahl auf die Lochstruktur eines Edelstahlsiebs, ist manchmal ein Pfeifton zu hören. Er entsteht, wenn Wasserwirbel periodisch auf das Blech zurückwirken und Resonanzschwingungen anregen.
Früher wurde die Teepause von einem Pfeifen eingeläutet, heute wird sie eher damit beendet. Jedenfalls hat der Kessel für die Herdplatte mit seinem schrillen Flöten inzwischen beinahe ausgedient, während Teesiebe aus Edelstahl immer größere Verbreitung finden. Sie sorgen für ein seltsames akustisches Phänomen: Zahlreiche Videos im Internet zeigen die Utensilien, wie sie beim Reinigen im Spülbecken Töne von sich geben.
Die Zufallsentdeckung ist nach kurzem Ausprobieren leicht reproduzierbar, und unter den passenden Umständen offenbaren verschiedene Fabrikate ihre Musikalität. Zum einen muss der Wasserstrahl das Metall mit einer gewissen Geschwindigkeit treffen. Diese nimmt mit der Fallhöhe zu. Bei manchen Sieben reicht der Abstand zwischen Wasserhahn und Spülbecken nicht aus, und das Kunststück gelingt nur im Badezimmer oder mit dem Gartenschlauch. Zum anderen tönt die gelochte Fläche nur dann, wenn sie unter einem bestimmten Winkel getroffen wird. Um den für das Pfeifen optimalen Bereich zu finden, empfiehlt es sich, das Sieb unter dem Wasserstrahl ein wenig zu heben und zu senken und dabei die Neigung zu variieren. Am besten funktioniert es, indem der Strahl den flachen Boden trifft (siehe »Reinigen unter Pfiffen«). Im Lauf einer Reihe von Experimenten konnten mein Kollege Wilfried Suhr und ich sogar ein Sieb an der Mantelseite zum Tönen bringen.
Der relativ kräftige Ton lässt auf eine Schwingung schließen, zu der das auftreffende Wasser das Lochblech anregt. Berührt man das Metall in der Nähe des Strahls, dämpft das den Vorgang, und das Pfeifen verschwindet. An allen übrigen Stellen kann das Sieb hingegen angefasst werden, ohne damit den Ton zu beeinflussen.
Was dabei genau passiert, hat Wilfried Suhr in einer 2020 veröffentlichten Arbeit zusammengefasst. Der auf die Siebfläche prallende Strahl wirkt wie ein mechanischer Schwingungserreger, der zum Beispiel eine Lautsprechermembran vibrieren lässt. Doch das Wasser strömt gleichförmig aus dem Hahn. Woher kommt der Rhythmus, mit dem es das Blech auslenken und in Schwingung versetzen könnte? Es genügt dafür nicht, dass es mit einer ganz bestimmten Geschwindigkeit auf einen passenden Abschnitt des Lochblechs auftrifft. Darüber hinaus muss ihm durch eine geeignete Wechselwirkung eine Frequenz aufgeprägt werden.
Den Taktgeber entdeckt man bei einem genaueren Blick auf die Auftreffstelle. Längs des geneigten Blechs staut sich eine Strömung auf, die teilweise durch die Löcher hindurch auf die andere Seite gelangt (siehe »Lochblech aus der Nähe«). Wenn man die diversen Strömungsbereiche geschickt manipuliert und den Einfluss kleiner Störungen beobachtet, findet man heraus: Die Töne werden von einem länglichen Wasserwulst unterhalb des unmittelbaren Aufpralls hervorgebracht. Dort entsteht eine zeitlich periodische Wasserbewegung – für die wiederum die regelmäßige Lochstruktur notwendige Voraussetzung ist.
Die Blechstege zwischen den Löchern spalten nämlich den Wasserstrom auf und erfüllen dabei eine ähnliche Funktion wie gespannte Saiten in einem Luftstrom. Diese lösen jeweils eine Folge paarweise entgegengesetzter Wirbel aus, eine so genannte kármánsche Wirbelstraße. Sie stoßen sich gewissermaßen vom Draht ab, woraufhin er schwingt. Wenn dabei eine seiner Eigenfrequenzen angeregt wird, gerät er in Resonanz und ruft in der umgebenden Luft periodische Verdichtungen und Verdünnungen hervor. Sie werden als Ton wahrnehmbar. So entstehen beispielsweise die Klänge einer Äolsharfe (siehe »Spektrum« November 2020, S. 52).
Ein vergleichbares, nur wesentlich komplexeres Geschehen spielt sich beim Teesieb ab. Im Bereich des Wasserwulstes entstehen hinter den regelmäßigen metallischen Stegen gleich mehrere solcher Wirbelstraßen, die hier aus Wasserwirbeln bestehen. Sie üben in ähnlicher Weise Kräfte auf die angeströmte Fläche des Siebs aus und bringen dessen Eigenschwingungen zur Resonanz. Jedes der vielen benachbarten Wirbelpaare wirkt auf dieselbe Region des Blechs zurück. Zu einer einheitlichen kollektiven Schwingung des ganzen Siebbereichs kommt es nur, wenn die Wirbel sich synchron ablösen und ihre Einzelkräfte gegenseitig verstärken (siehe »Synchronisation«). Passiert das wirklich? Fotografische Untersuchungen des Strömungsfelds an einem vergrößerten und vereinfachten Modell legen nahe, dass die Wirbel angrenzender Löcher tatsächlich aneinander koppeln, während sie sich vom Blech entfernen.
Das Phänomen ist relativ robust gegenüber Störungen. Schwingt das durchströmte Element des Siebs in Resonanz mit der Anregungsfrequenz der Wirbel, so ändert sich daran auch dann nichts, wenn die Auftreffgeschwindigkeit des Wassers in gewissen Grenzen variiert. Das schwingende Blech rastet auf die Eigenschwingung ein. Infolge dieses »Lock-in«-Verhaltens bleibt die Tonhöhe erhalten. Abweichungen zwischen Anregungs- und Resonanzfrequenz senken allerdings die Amplitude. Die verringerte Auslenkung macht sich dann in einer entsprechend abnehmenden Lautstärke bemerkbar.
Bei einem Exemplar eines Teesiebs ist es uns durch Variation der Falldistanz des Wassers sogar gelungen, unterschiedliche Eigenschwingungen des Lochblechs in Resonanz zu versetzen und damit Pfeifgeräusche verschiedener diskreter Frequenzen anzuregen. Mit der Länge des Strahls wuchs auch die jeweilige Tonhöhe. Bei Fallhöhen zwischen zwei Tonstufen und außerhalb des Lock-in-Bereichs verstummte das Teesieb jedoch.
Quelle
Suhr, W.: Pfeiftöne vom Teefilter. Physik und Didaktik in Schule und Hochschule, 2020
Originalpublikation
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 9 (2021), S. 64 – 65
»Lerne Schnecken zu beobachten«
Susan Ariel Rainbow Kennedy (geb. 1954)
Eine Schnecke kann sich auf ihrem Schleimfilm fortbewegen, weil das Sekret je nach Art der Beanspruchung zwischen flüssig und fest wechselt. Dank der viskoelastischen Eigenschaften ihrer mobilen Unterlage vollführen die Tiere spektakuläre Kunststücke.
Schnecken sind zwar langsam unterwegs, dafür überwinden sie so gut wie jede Barriere. Sie erklimmen senkrechte Wände, gleiten über glatte oder scharfkantige Oberflächen und erreichen selbst kopfüber kriechend fast jeden Ort. Dabei hinterlassen sie deutliche Spuren in Form von Schleim (siehe oberes Foto links). Auf ihm bewegen sie sich fort, und er macht ihren Körper so glitschig, dass sie kaum zu greifen sind.
Die Tiere sondern die Unterlage je nach Bedarf entlang ihres über die ganze Bauchseite verlaufenden Fußes ab. So schaffen sie sich auf einzigartige Weise ihren eigenen Straßenbelag. Er macht sie weitgehend unabhängig von den tatsächlichen Untergründen, seien es Zweige, Blätter, Sandböden, Spinnennetze oder Fensterscheiben. Schnecken fixieren das Sekret auf jeglichem natürlichen Material, und selbst künstliche superhydrophobe Oberflächen bremsen sie nur mit Mühe aus. Der dünne Belag mit einer Dicke von gerade einmal einigen zehn Mikrometern überbrückt selbst Abgründe (siehe oberes Foto rechts). Ist die Lücke doch zu groß, verwandeln die Tiere den Schleim in einen Faden, an dem sie sich einfach abseilen (siehe mittleres Foto).
Das alles beweist: Der Schleim ermöglicht nicht nur extrem gutes Gleiten, sondern er ist zugleich reißfest, tragfähig und ähnlich stabil wie ein elastischer Festkörper. Physikalisch gesehen handelt es sich um ein vernetztes Gel, das bis zu 97 Gewichtsprozent aus Wasser und zum Rest aus hochmolekularen Protein-Polysaccharid-Komplexen besteht. Obwohl die Mixtur also hauptsächlich Wasser enthält, sind ihre Eigenschaften ganz und gar nicht typisch für dessen Verhalten. Vordergründig widersprechen sie sich sogar. Mit der Gleitfähigkeit scheint weder die Reißfestigkeit vereinbar zu sein, noch passt sie zu der Notwendigkeit, sich zum Vorankommen immer wieder abstoßen zu müssen. Denn jede Fortbewegung setzt voraus, dass man sich von der Unterlage wegdrückt. Beispielsweise wird es auf einer Eisfläche umso schwieriger, durch normales Laufen voranzukommen, je glatter sie ist.
Als so genannte nichtnewtonsche Flüssigkeit kann der Schneckenschleim die verschiedenen Ansprüche verbinden. Im Ruhezustand ist das Gel fest und klebrig. Wird es jedoch geschert – das heißt, entlang der Grenzschicht wirkt eine waagerechte Kraft –, gibt es bei einer bestimmten Stärke der Scherkraft nach. Dann geht es in den flüssigen, gleitfähigen Zustand über. Das passiert aber nur bis zu einer gewissen Tiefe, denn mit seiner Unterseite muss der Schleim ja fest auf dem zu überkriechenden Objekt fixiert bleiben. Indem sie die physikalischen Gegebenheiten fein kontrolliert, kann die Schnecke die Zähigkeit bedarfsgerecht steuern.
Beim Vorwärtskriechen laufen durch den Fuß regelrechte Wellen. Sie entstehen in Folge von Muskelkontraktionen und -entspannungen, die sich periodisch von hinten nach vorn ausbreiten. Ein ruhender Teil des Fußes ist in seinem Auflagebereich mit dem Gel fest verbunden. Von dort aus schiebt die Muskulatur den übrigen Schneckenkörper ein Stück voran. Durch die während der Kontraktion auf den Schleim ausgeübte Scherkraft wird schließlich die Schwelle überschritten, bei der das Gel nachgibt und zerrinnt. Der Zeitpunkt trifft mit der Entspannung des Muskelelements zusammen. Inzwischen kontrahieren benachbarte Abschnitte, und der zuvor verankerte Teil des Fußes gleitet über das nunmehr verflüssigte Stück. So entsteht ein quasi kontinuierlicher Vortrieb.
Trotz der vielfältigen Einsatzzwecke des viskoelastischen Fluids bringt es für die Schnecken einige Nachteile. Neben der geringen Geschwindigkeit sind das vor allem der extreme Material- und Energieaufwand. Wegen des enormen Flüssigkeitsbedarfs müssen sich die Tiere vor Austrocknung schützen. Sie bleiben bevorzugt in feuchten und schattigen Gebieten und sind vor allem nachtaktiv. Bei widrigen Bedingungen wie Hitze und stark absorbierenden Untergründen gehen sie manchmal zu einer besonders sparsamen Akrobatik über. Sie legen ihren Schleimteppich nicht durchgehend aus, sondern mit Unterbrechungen und hangeln sich von einem Fleck zum nächsten (siehe unteres Foto). Von Artgenossen hinterlassene Spuren werden ebenfalls gern genutzt – was nicht nur die Fortbewegung beschleunigen dürfte, sondern auch die Partnersuche.
Da das Sekret am Boden verbleibt, muss die Schnecke ständig neues nachproduzieren. Das nutzt sie nicht nur zur Fortbewegung. Es bedeckt den ganzen Körper, hält ihn feucht und wehrt dank chemischer Zusätze Mikroben und sogar Beutegreifer ab. Viele potenzielle Fressfeinde meiden die Klebrigkeit oder den widerlichen Geschmack einiger Arten. Der Heimatdichter Hermann Löns (1866–1914) hat in seiner Erzählung »Ein ekliges Tier« ausdruckstark seine Abscheu beschrieben, nachdem er in einem Selbstversuch Schneckenschleim probiert hat. Dort vermischt er an einer Stelle seine Erfahrung sogar mit den physikalischen Eigenschaften, indem er berichtet, dass »Frachtkutscher, die schlecht geschmiert haben, diese Schnecken statt der Wagenschmiere gebrauchen; denn ich kann mir denken, daß selbst eine Radachse aus Angst vor einer zweiten Auflage sich fürder lautlos benimmt«.
Quelle
Mayuko Iwamoto et al.: The advantage of mucus for adhesive locomotion in gastropods. Journal of Theoretical Biology 353, 2014
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 8 (2021), S. 66 – 67
Mein Spiegelbild, das aus jeder
hellgeschliffenen Fläche mir entgegentritt
E.T.A. Hoffmann (1776–1822)
Nicht nur glatt polierte Oberflächen spiegeln das Licht. Auch raue Gegenstände, die es normalerweise diffus in alle Richtungen streuen, können es geordnet reflektieren.
Spiegelbilder kennen wir nicht nur aus dem Badezimmer, sondern von vielen glatten Gegenständen: von blank polierten Autokarosserien über Fensterfronten bis hin zu Fliesenböden. Die Umgebung ist voll von Reflexionen unterschiedlicher Herkunft, die ein Nebeneffekt der Oberflächenbeschaffenheit sind – oft gewollt, manchmal unerwünscht.
Alltagsobjekte erreichen dabei in den meisten Fällen nicht die Wiedergabetreue, die wir vom Badezimmerspiegel gewohnt sind. Vielmehr gibt es zwischen perfektem Pendant und strukturlosem Widerschein einen nahezu kontinuierlichen Übergang. Physikalisch werden die beiden Enden des Spektrums als spiegelnde beziehungsweise diffuse Reflexion bezeichnet.
Unter Ersterer versteht man den Idealfall, bei dem das Licht, das auf die Oberfläche trifft, nach dem bekannten Reflexionsgesetz geordnet abprallt: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Auf diese Weise wird die gesamte visuelle Information sozusagen nur umgelenkt und bleibt erhalten, abgesehen lediglich von einer teilweisen Absorption im Material.
Wird das Reflexionsgesetz nicht erfüllt, wirft die Fläche dagegen das Licht unabhängig von der Einstrahlrichtung unter beliebigen Winkeln zurück. Dann spricht man von diffuser Reflexion oder auch von Streuung. Eine weiß getünchte raue Wand oder ein Blatt weißes Papier erfüllen die Voraussetzungen dafür relativ gut. Zwischen beiden Idealtypen der Reflexion gibt es allerdings eine ganze Klasse interessanter und manchmal die physikalische Intuition herausfordernder Zwischenformen von Oberflächen. Sie reflektieren das auftreffende Licht teilweise spiegelnd, teilweise diffus.
Wer beispielsweise die vorliegende »Spektrum«-Ausgabe zur Hand nimmt, aus einer schattigen Position heraus sehr flach über das Cover schaut und dabei einen am besten von der Sonne angestrahlten Gegenstand anvisiert, stellt fest: Dieser erscheint auf dem Heft mehr oder weniger gut gespiegelt (siehe »Papierglanz«). Je besser das gelingt, desto weniger sieht man gleichzeitig vom aufgedruckten Motiv. Normalerweise ist die Wahrnehmung der Schrift und der Bilder kein Problem, da man bei der Lektüre relativ steil (also annähernd rechtwinklig) auf die Druckseiten blickt. Hält man sie stärker angewinkelt, kann das Licht heller Gegenstände allerdings das Leseerlebnis stören. Das gilt nicht nur für Hochglanzpapier. Bei genügend starken Lichtquellen kann man bei streifendem Blick so manches weiße Blatt dazu bringen, Dinge zumindest schemenhaft spiegelnd zu reflektieren.
Besonders deutlich lässt sich dieses Vermögen zur Spiegelung mit Hilfe eines Laserpointers erkennen. Wenn man dessen Strahl flach auf ausgewählte raue Oberflächen auftreffen lässt, kann man etwaige Reflexe auf einer senkrecht dazu aufgestellten Projektionsfläche auffangen. Es ist erstaunlich, in welchem Maß sich selbst bei solchen Objekten, von denen man es gar nicht erwartet hätte, eine deutliche Richtungsabhängigkeit des abprallenden Lichts feststellen lässt.
Die Oberflächen weiterer Alltagsgegenstände können auf gleiche Weise reflektieren. So wirken polierte Fliesenfußböden aus der Ferne fast wie perfekte Spiegel (siehe »Fliesenspiegel«). Wenn sie den umgebenden Raum reflektieren, entsteht dadurch aus der Entfernung zuweilen eine scheinbare Spiegelwelt unterhalb des Bodens mit dem irritierenden Eindruck eines Abgrunds. Beim normalen Gehen über so eine Fläche stört das indes nicht. Schaut man dabei vor sich nach unten, merkt man kaum noch etwas davon (siehe »Steinboden«).
Im Strahlenmodell der Optik lassen sich die Zusammenhänge plausibel machen (siehe »Spiegelnd und diffus«). Eine ideal glatte Fläche reflektiert Licht unter einem gleich großen Winkel – parallele Strahlen bleiben parallel. Geht man davon aus, dass eine raue Oberfläche im Unterschied dazu unregelmäßig strukturiert ist und aus Elementen mit verschiedenen Neigungen besteht, dann lässt sich die diffuse Reflexion auf die spiegelnde zurückführen. Die einfallenden Lichtstrahlen kommen aus derselben Richtung und werden auf Grund weitgehend zufällig geneigter Flächenstücke in diverse Richtungen reflektiert. Von der Parallelität des einfallenden Lichts bleibt nichts mehr übrig. Der diffuse Anteil ist umso stärker, je rauer der Untergrund ist.
Im Rahmen des Modells lässt sich auch erklären, weshalb mit zunehmendem Einfallswinkel bis hin zu streifendem Licht die spiegelnde Reflexion zunimmt. Die Strahlen treffen dann nur noch die oberen Kanten der Flächenelemente. Diese sind meist durch das Herstellungsverfahren abgeplattet und liegen auf ähnlicher Höhe. Dadurch wirkt die Oberfläche stückweise eben, und es gelangen vor allem die spiegelnd reflektierten Lichtbündel ins betrachtende Auge. Wenn zudem die reflektierende Fläche selbst im Schatten liegt, minimiert das den Anteil des Lichts, das direkt von oben einfällt. Dann wird die im Diffusen sonst gut sichtbare Eigenfärbung des Objekts weitgehend unsichtbar (bei Papier etwa die Texte und Abbildungen) und von der streifenden Reflexion vollends überstrahlt.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 7 (2021), S. 74 – 75
Jede von der Bewegung geschaffene Gestalt
erhält sich mit der Bewegung
Leonardo da Vinci (1452 – 1519)
Im Watt sind bei auflaufendem Wasser vereinzelte, flache Wellen zu beobachten. Sie sind erstaunlich stabil: Ihre Form und Geschwindigkeit bleiben über weite Strecken und sogar bei Zusammenstößen erhalten. Das liegt an einem nichtlinearen Rückkopplungsmechanismus.
Wer sich an die Nordseeküste begibt, um die Flut im Watt zu erleben, sollte sich einfinden, kurz bevor das Wasser aufläuft. Dann erstreckt sich vor den Augen ein bis zum Horizont reichendes Gebiet aus Schlick, weitgehend trocken und nur von einzelnen Pfützen durchsetzt. Plötzlich ändert sich über das gesamte Sichtfeld der Farbton des Watts: das Wasser kommt. Es dauert nicht lange, bis sich ein breiter, nur wenige Zentimeter hoher Wasserfilm in Richtung Ufer schiebt. Sobald dort die letzten Lücken geschlossen sind, steigt der Pegel allmählich, und das größte Spektakel scheint vorbei zu sein.
Doch wieder ändert sich nach einiger Zeit die Situation unversehens, wenn über das inzwischen 10 bis 20 Zentimeter hohe Wasser einzelne Wellen auf das Ufer zulaufen (siehe obere Fotos). Sie sind merkwürdig stabil und durch nichts zu bremsen. Sogar beim Aufprall auf die Böschung gehen sie nicht wie normale Wellen plätschernd verloren, sondern sie werden am Ufer gewissermaßen reflektiert und laufen zurück zum Meer. Dabei behalten sie ihre Gestalt bei. Selbst, wenn sie auf ihrem Rückweg auf weitere einlaufende Fronten stoßen, durchqueren beide einander einfach. Im Bereich der Begegnung summieren sich kurzfristig die individuellen Höhen (siehe Foto »Unbeirrbar«).
Es ist erstaunlich, dass die Wellen über lange Entfernungen hinweg und ohne erkennbaren äußeren Antrieb so stabil bleiben. Aus dem Alltag kennen wir normalerweise ein ganz anderes Verhalten. Wirft man etwa einen Stein in einen See, erzeugt das lokal eine Aufwölbung des Wassers, ein so genanntes Wellenpaket. Es weitet sich über die Oberfläche aus und geht währenddessen in ein wohlgeordnetes System einzelner Ringe über (siehe unteres Foto). Dabei eilen solche mit größerer Wellenlänge, das heißt mit weiter voneinander entfernten Bergen, denen mit kleinerer voraus. Die Geschwindigkeit hängt von der Wellenlänge ab. Darum läuft ein Wellenpaket im Wasser auseinander; die Erscheinung heißt Dispersion. Wegen ihr sollten kompakte Erhebungen eigentlich in einzelne Bestandteile zerlegt werden, und die Hügel dürften nicht so unbeeindruckt und klar abgegrenzt weitermarschieren wie die am Strand beobachteten Einzelgänger.
Bei der Erscheinung im Watt kommt aber neben der Dispersion ein weiterer Mechanismus zum Tragen. Der flache Untergrund bremst die Basis des Wellenpakets. Darum bewegt sich der Kamm vergleichsweise schneller und die Welle wird steiler. Das kennen wir in anderer Form von Wellen, die auf die Meeresküste zulaufen, schließlich vornüber kippen und sich brechend überschlagen. Wenn jedoch der aufsteilende Einfluss nicht zu stark ist, sondern exakt so groß ist wie die zerstreuende Dispersion, bleibt das Wellenpaket in Form und Geschwindigkeit erhalten. Das ist gerade im extrem flachen Watt der Fall. Die nach außen sichtbare Stabilität ist kein statisches Phänomen, vielmehr ein dynamisches: In dem Maß, wie die Wellen eines Pakets infolge der Dispersion auseinanderlaufen sollten, werden sie durch Wechselwirkungen mit dem Boden komprimiert. Damit diese Rückwirkung das Auseinanderlaufen gewissermaßen einholen kann, muss sie stärker als linear agieren, also nichtlinear.
Historisch sind Wissenschaftler auf die Zusammenhänge nicht etwa durch Beobachtungen im Watt gestoßen – vermutlich ist der Vorgang hier zu unscheinbar –, sondern in einem ganz anderen Kontext. 1834 beobachtete der britische Ingenieur John Scott Russell, wie ein Boot mit hoher Geschwindigkeit von Pferden durch einen Kanal gezogen wurde. Als die Tiere und damit das Boot plötzlich anhielten, setzte das vor dem Bug zusammengeschobene Wellenpaket seinen Weg alleine fort. Kilometerweit trieb es mit unveränderter Form und gleichem Tempo den Kanal entlang.
Anschließend untersuchte Russell mit eigenen Experimenten das Phänomen eingehend und stellte weitere Unterschiede zu gewöhnlichen Wellen fest. Beim in den See geworfenen Stein transportieren die Ringwellen entlang ihrer Ausbreitungsrichtung kein Wasser, obwohl es den Anschein haben mag. Vielmehr bleiben die bewegten Flüssigkeitsportionen lokal begrenzt auf kreisförmigen oder elliptischen Bahnen. Nicht so bei den einsamen Wellenpaketen: Sie reißen das sie erfüllende Wasser mit sich. Russell konnte zeigen, dass in einem von dem Paket durchquerten Kanal das hintere Ende um die der Aufwölbung entsprechende Wassermenge höher stand als das vordere. Die Wellenpakete verhalten sich in mancher Hinsicht quasi wie Teilchen. Heute heißen sie daher Solitonen – in Analogie zu den aus der Mikrophysik bekannten Vertretern wie Protonen und Elektronen.
In der Natur sind Solitonen möglicherweise nicht nur in harmloser Gestalt zu beobachten. Einige Wissenschaftler vermuten, die Einzelgänger könnten bei zerstörerischen Tsunamis in Erscheinung treten. Für entsprechend große Wellenpakete würden küstennahe Bereiche des Ozeans wie Flachwasserbecken wirken und unaufhaltsame Wasserberge auftürmen – analog zum Watt, nur in einer ganz anderen Größenordnung. Allerdings wird die Ansicht nicht allgemein geteilt, weil die Dimensionen der mittlerweile dokumentierten Tsunamis nicht zweifelsfrei zur Theorie der Solitonen zu passen scheinen.
Wellenphänomene sind nicht nur auf Wasser beschränkt. Sie treten an vielen weiteren Stellen auf, und im Lauf der Entwicklung der neuzeitlichen Physik wurden Solitonen auch in Bereichen wie der Optik entdeckt. So spielen sie heute bei der Datenübertragung in Glasfaserkabeln eine wichtige Rolle. Die aus mehreren Wellenlängen bestehenden Lichtpulse laufen in Glas normalerweise durch Dispersion auseinander. Darauf passend abgestimmte nichtlineare Effekte können der Verbreiterung der Impulse exakt entgegenwirken und die Signalqualität und -reichweite deutlich verbessern.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 6 (2021), S. 66 – 67
Wohl ist alles in der Natur Wechsel,
aber hinter dem Wechselnden ruht ein Ewiges.
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Flüssigkeiten, die flach aus einem Auslass stürzen, pendeln zwischen zwei Zuständen hin und her. Sie verdrillen sich und gehen schließlich in einzelne Tropfen über.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 5 (2021), S. 80 – 81
Es war die Stunde, in der das Licht
die Farben noch nicht hervorgeholt hat
Jorge Luis Borges (1899 – 1986)
Das Licht der tiefstehenden Sonne wechselwirkt maximal mit der Ozonschicht. Dabei werden vor allem Gelb- und Orangetöne absorbiert. Das von Blau dominierte durchgelassene Licht wird in der Atmosphäre gestreut. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 4 (2021), S. 68 – 69
Wie oft ein Glas Wein ein System erzeugt
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)
Schwenkt man ein alkoholisches Getränk im Glas, rinnen an dessen Innenwand Tropfen herab. Sie entstehen, weil verdunstender Alkohol einen dünnen Film aus der Flüssigkeit in Form einer instabilen Stoßfront hochsaugt.
Weintrinker schwenken ihr Glas, um die Aromen besser zur Geltung zu bringen. Dabei bilden sich an der Innenseite Tropfen, die in das Getränk zurückfließen. Das Phänomen ist vielen Genießern vertraut und erlaubt gewisse Rückschlüsse auf die Konzentrationen der enthaltenen Stoffe – beispielsweise ist es besonders bei hochprozentigen Vertretern gut zu beobachten. Da die entstehenden Figuren ein wenig an Kirchenfenster erinnern, werden sie zuweilen auch so genannt.
Dass Wein auf diese Weise gewissermaßen Tränen vergießt, ist seit langem bekannt. Der englische Physiker Charles Vernon Boys (1855–1944) ging in seinem früher sehr populären Buch über Seifenblasen sogar davon aus, die Erscheinung würde bereits »in den Sprüchen Salomons Kapitel 23, Vers 31 erwähnt: Siehe den Wein nicht an, wenn er rot ist, wenn er seine Farbe dem Glase gibt, und wenn er von selbst aufwärts steigt.« (In der deutschen Bibelübersetzung Luthers lautet die Stelle etwas anders.)
Die erste physikalische Erklärung lieferte James Thomson (1822–1892) Mitte des 19. Jahrhunderts, doch die Details des Alltagsphänomens beschäftigen die Wissenschaft bis heute. Im März 2020 hat eine Forschergruppe um die Mathematikerin Andrea Bertozzi von der University of California in Los Angeles eine Arbeit dazu publiziert. Die Untersuchung bezieht die Geometrie des Glases ein und soll eine vollständige quantitative Beschreibung der Tränen liefern. Das Phänomen wirkt auf den ersten Blick einfacher, als es tatsächlich ist. Zum Verständnis ist es nötig, das Wechselspiel vielfältiger physikalische Aspekte zu entwirren.
Zunächst kommt die Tendenz gewisser Flüssigkeiten ins Spiel, Flächen zu benetzen. Schaut man sich ein Glas mit Wasser darin etwas genauer an, erkennt man, wie letzteres ein Stück weit an der Wand aufsteigt und einen typischen konkaven Meniskus hervorbringt. Das passiert, weil zur Ausbildung einer Grenzfläche zwischen zwei Substanzen Grenzflächenenergie nötig ist. Die Natur tendiert dazu, diese möglichst gering zu halten, und bei Wasser und Glas ist weniger Energie erforderlich als im Fall von Luft und Wasser.
Der Weg nach oben endet allerdings bald: Der Energiegewinn infolge des Anhaftens wird durch die potenzielle Energie, die das Medium nach unten zieht, mit zunehmender Höhe aufgewogen. Der Vorgang heißt auch Kapillareffekt. Wenn man nämlich das Glas auf ein Röhrchen mit winzigem Durchmesser verengt, reduziert das die anzuhebende Masse der Flüssigkeitssäule enorm, und das Wasser kann weiter steigen. In Bäumen spielt das eine wesentliche Rolle beim Transport von der Wurzel bis in die Blätter (siehe »Spektrum« Juli 2015, S. 50).
Wein und andere alkoholische Getränke bestehen vor allem aus Wasser und Alkohol sowie einigen für den Geschmack entscheidenden Stoffen. Beide Flüssigkeiten gehen zwar eine homogene Mischung ein, verhalten sich aber in physikalischer Hinsicht unterschiedlich. Alkohol verdunstet wesentlich bereitwilliger, hat also eher die Tendenz, in den gasförmigen Zustand überzugehen. Das ist unter anderem auf die größere Grenzflächenspannung des Wassers zurückzuführen, die der Verdunstung entgegenwirkt. Der Alkohol verfliegt daher früher – das wird bei der Destillation zum Abtrennen des »Weingeistes« ausgenutzt. Der Prozess läuft in der dünnen Schicht an der Glaswand besonders stürmisch ab. Dort ist die Grenzfläche zwischen Luft und Wein im Verhältnis zum Volumen sehr groß, und der Anteil des Wassers nimmt rasch zu. Dessen Anreicherung wiederum steigert die Grenzflächenspannung im Flüssigkeitsfilm.
Zur Verdunstung ist Energie nötig, die der Umgebung entzogen wird, also vor allem dem Wein selbst. Damit ist eine verhältnismäßig starke Abkühlung verbunden. Einen lebhaften Eindruck von der Verdunstungskälte kann man sich verschaffen, indem man einen Tropfen Alkohol auf dem Handrücken verteilt und die Hand schwenkt oder anbläst (siehe »Spektrum« Januar 2012, S. 52). Die Grenzflächenspannung nimmt mit sinkender Temperatur zu, was zusätzlich zum Spannungsunterschied zwischen dem dünnen Film und dem übrigen Wein beiträgt.
Das führt zu Ausgleichsströmungen: In dem Maß, in dem vor allem der Alkohol verdunstet, wird Wein aus dem Glas nachgezogen. Der Effekt ist nach dem italienischen Physiker Carlo Marangoni (1840–1925) benannt, der ihn schon im 19. Jahrhundert eingehend studiert hat. Jedoch war bislang noch nicht geklärt, wie der Prozess im Einzelnen abläuft. Denn stiege die Flüssigkeit in einem Film von einheitlicher Dicke auf, wäre nicht einzusehen, wieso sie nicht einfach ähnlich gleichmäßig wieder zurückfließen sollte – statt es in Form von Tränen zu tun.
Bertozzi und ihre Kollegen haben nun mit einem mathematischen Modell und Experimenten eine Lösung des Problems gefunden. Sie gehen unter anderem davon aus, dass die Grenzflächenspannung mit der Höhe des Films gleichmäßig zunimmt. Dann bewegt sich die Flüssigkeit in einer ringförmigen Welle nach oben. Dabei handelt es sich – in wissenschaftlicher Terminologie – um eine »umgekehrte unterkompressive Stoßwelle«. Trotz der äußeren Ähnlichkeit mit einer normalen Stoßwelle lässt hier das anhaltende Ziehen infolge der Marangoni-Strömung das Gebilde instabil werden.
Innerhalb der Schicht rücken einzelne Fronten nach, die von der Grenze zum Weinmeniskus ausgehen. Sie laufen gegen die bereits an der Glaswand befindliche, mit Wasser angereichte Flüssigkeit an. Dann lassen kleinste Inhomogenitäten entlang der Welle diese an solchen Stellen zerreißen. Um die Grenzflächenenergie zu minimieren, ziehen sich die Bruchstücke sofort zu separaten Tropfen zusammen, die wie Tränen am Rand herabfließen. Das Szenario wiederholt sich, solange ausreichend Alkohol im Wein ist. Angetrieben werden diese Vorgänge letztlich durch die Tendenz von Flüssigkeiten, sich durch Verdunstung gleichmäßig im zur Verfügung stehenden Raum zu verteilen. Sofern wir sie nicht daran hindern, indem wir sie vorher konsumieren.
Quelle
Dukler, Y. et al.: Theory for undercompressive shocks in tears of wine, Physical Review Fluids 5, 2020
Originalversion: Weinender Wein
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 3 (2021), S.
Das noch nicht festgelegte Element,
das aber fähig ist, sich von außen
bestimmen zu lassen
Theodor Schwenk (1910 – 1986)
Die Würzsauce ist mal dünn- und mal dickflüssig – je nach mechanischer Einwirkung. Für die variable Konsistenz sind in ihr enthaltene Molekülketten verantwortlich. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 2 (2021)
Das Sichtbare erschließt den Blick in das Unsichtbare
Anaxagoras (499–428 v. Chr.)
Wenn eine mit Wasser bedeckte Eisschicht schmilzt, entsteht auf ihr eine regelmäßige Struktur. Dabei spielt Wärmeübertragung durch Konvektion eine wichtige Rolle – und die besondere Dichteanomalie des Wassers.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 1, (2021), S. 64 – 65
Vergessen wir die Dinge,
betrachten wir die Struktur
Georges Braque (1882–1963)
Abdrücke im Schnee entwickeln sich unter besonderen Bedingungen zu auffällig kreisförmigen Strukturen. Das liegt vor allem am Wärmeaustausch mit der Umgebung, der sich mit der Konsistenz des gefrorenen Wassers verändert. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 12 (2020), S. 70 -71
Vermehrung der Kraft
durch weichenden Widerstand
Novalis (1772 – 1801)
Reichert sich eine dünne Wasserschicht mit dem Abrieb mikroskopisch feiner Eispartikel an, macht das die Flüssigkeit zähflüssig und glitschig. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting Spektrum der Wissenschaft 11 (2020), S. 52 – 53
Du, einer luftgebornen Muse
Geheimnisvolles Saitenspiel
Eduard Mörike (1804–1875)
Von Luft umströmte Drähte erzeugen Wirbel, die sich hinter ihnen abwechselnd nach oben und unten hin ablösen. Aus dieser Schwingung werden unter den richtigen Umständen weithin hörbare Töne.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden viele Haushalte vorwiegend durch oberirdische Telegrafen – und Stromleitungen mit ihren typischen hölzernen Masten mit Nachrichten und elektrischer Energie versorgt. Mit ihnen ist auch ein eindrucksvolles akustisches Phänomen fast ganz verschwunden. Bei stärkerem Wind oder wenn man sein Ohr an einen der Masten hielt, waren heulende, je nach der Stärke des Windes geisterhaft klingende auf- und abschwellende, langgezogene Töne zu hören, wie man sie sonst nicht kennt. Sie werden von den Drähten hervorgerufen, die den Wind in hörbare Schwingung versetzen. Die Masten fungierten als Resonanzkörper und ermöglichten, dass die Töne auch bei mäßigem Wind gehört werden können. Selbst wenn heute manchmal noch in ländlichen Gegenden solche Stromleitungen zu den Häusern führen, funktionieren sie meist nicht. Denn inzwischen werden statt der relativ dünnen Drähte dicke isolierte Leitungen benutzt, die dafür weniger geeignet sind. Bei stärkerem Wind kann man ähnliche Töne allenfalls an Weidenzäunen wahrnehmen, die aus einzelnen gespannten zylindrischen Drähten bestehen.
Schon lange vor der Elektrifizierung haben die Menschen winderzeugte Klänge in der Natur wahrgenommen und mit Hilfe besonderer Musikinstrumente „einzufangen“ versucht. Diese sogenannten Windharfen oder auch Äolsharfen (nach dem Windgott Aeolos benannt) waren bereits im Altertum bekannt. In der Neuzeit wurde die erste Äolsharfe von Athanasius Kircher (1602 – 1680) gebaut; aber erst viel später zur Zeit der Romantik im 19. Jahrhundert erlebte dieses Musikinstrument der Natur eine wahre Blütezeit. Auch heute noch kann man Äolsharfen als Kunstwerke im öffentlichen Raum vorfinden (Beispiele) und sie sind sogar für den eigenen Garten käuflich zu erwerben.
Das physikalische Prinzip der Windharfe ist lange Zeit nicht erkannt worden, obwohl man den Wind ursächlich mit dem Klang in Verbindung brachte. Erst Arbeiten von Vincent Strouhal (1850 – 1922) führten zu einer weitgehend korrekten physikalischen Erklärung. Er stellte fest, dass ein luftumströmter zylindrischer Draht selbst dann Töne erzeugt, wenn er an der Schwingung gar nicht teilnimmt. Die jeweilige Tonhöhe bzw. Frequenz erweist sich als unabhängig von Material, Länge und Spannung des Drahts. Sie ist lediglich proportional zur Windgeschwindigkeit und umgekehrt proportional zum Drahtdurchmesser, wobei die dimensionslose Proportionalitätskonstante für viele zylindrische Objekte einen Wert von ungefähr 0,2 besitzt.Beispiel: Bei einer mäßigen Brise mit einer Windgeschwindigkeit von 10 m/s würde ein Draht von 5 mm Durchmesser einen Ton mit einer Frequenz abgeben.
Die Tonentstehung ist darauf zurückzuführen, dass die Luft vor dem im Luftstrom stehenden zylindrischen Draht verdichtet wird und infolge die Reibung der Luft mit den Drahträndern der Druckausgleich mit der verdünnten Luft hinter dem Draht nicht kontinuierlich, sondern ruckweise periodisch erfolgt. Dabei lösen sich abwechselnd an der einen und anderen Seite des Zylindermantels entgegengesetzt rotierende Wirbel, die zu einer sogenannten Kármánschen Wirbelstraße führen (Abbildung). Weil sich die Wirbel anschaulich gesprochen vom Draht abstoßen, üben sie auf diesen eine Reaktionskraft aus, mit einer zur Richtung des Drahts senkrechten Komponente. Diese Kräfte sind zwar im Allgemeinen sehr klein und bringen den Draht kaum in Bewegung. Nähert sich die Frequenz der Wirbelablösung jedoch einer der Eigenfrequenzen des Drahts, so wird dieser zum Mitschwingen angeregt, was als Ton hörbar werden kann.
Als Eigenfrequenz eines eingespannten Drahts bezeichnet man die durch die Masse, die Spannung und die Länge des Drahts festgelegte Frequenz, mit der der Draht schwingt, wenn er zum Beispiel durch Zupfen ausgelenkt wird. Neben der Grundfrequenz, in der sich der Draht als Ganzes zwischen den beiden festen Enden periodisch hin und her bewegt treten im Allgemeinen zusätzlich Oberschwingungen auf, wobei der Draht auch noch in sich schwingt. Die Frequenzen dieser Oberschwingungen sind ganzzahlige Vielfache der Grundschwingung.
Stimmt nun eine der Eigenfrequenzen des schwingenden Drahtes ungefähr mit der Frequenz der Wirbelablösung überein, so gerät er in eine Resonanzschwingung. Dabei schaukelt er sich zu einer so großen Auslenkung auf, dass der durch die Wirbel hervorgerufene leise Ton kräftig verstärkt und gegebenenfalls weithin hörbar wird.
Bemerkenswert ist, dass die Anregungsfrequenz nur in der Nähe der Eigenfrequenz liegen muss um den Draht in Resonanz zu bringen. Denn normalerweise schwingt ein System genau mit der Frequenz, in der es angeregt wird. Im vorliegenden Fall rastet der schwingende Draht gewissermaßen in die Eigenfrequenz ein. In der Fachwissenschaft ist dieses Verhalten als Lock-in-Effekt bekannt, der bei zahlreichen (nicht nur mechanischen) Schwingungssystemen auftritt.
Ohne Lock-in wäre eine Äolsharfe und andere tönende Drähte in der bekannten Form nicht möglich. Da nämlich die Windgeschwindigkeit nie völlig konstant ist und zumindest ein wenig schwankt, würde ansonsten die Frequenz der Wirbelablösung immer wieder von der Eigenfrequenz des Drahtes abweichen. Der tönende Draht bzw. die Äolsharfe wären also die meiste Zeit stumm, was aber bekanntlich nicht der Fall ist. Die Auslenkung des schwingenden Drahts ist innerhalb des Lock-in-Bereichs ist allerdings am größten, wenn der Draht genau mit der Wirbelablösungsfrequenz schwingt und nimmt der Abweichung entsprechend ab. Das ist der Grund für die Schwankungen der Lautstärke der jeweiligen äolischen Töne mit der Windgeschwindigkeit, die der Äolsharfe den typischen anschwellenden und wieder verhallenden Klang verleihen. Bei größeren Variationen der Windgeschwindigkeit werden gegebenenfalls andere Saiten der Äolsharfe zum Klingen gebracht.
Die Äolsharfe ist wie Klavier, Geige und die Harfe ein Saiteninstrument. Während letztere durch planvolles Anschlagen, Streichen und Zupfen zu vorher komponierten Klangfolgen veranlasst werden, überlässt man das Klingen der Äolsharfe weitgehend den unberechenbaren Strömungen des Windes, der mit Hilfe von Luftwirbeln das Schwingungsverhalten der Saiten bestimmt.
Der Anregungsmechanismus der Äolsharfe kann ganz allgemein bei von Luft umströmten Zylindern beobachtet werden kann, lässt sich übrigens mit einem einfachen Experiment demonstrieren. Dazu benötigt man nur einen längeren, schlauchartigen Luftballon (z.B. Länge 1,50 m und Durchmesser 5 cm), den man an einem Ende erfasst und schnell mit dem Arm hin und her oder auf und ab bewegt. Der Ballon gerät dadurch deutlich fühlbar und sichtbar in eine Schwingung senkrecht zur Bewegungsrichtung.
Die brummenden Töne, die zuweilen unter Hochspannungsleitungen zu hören sind, haben einen ganz anderen physikalischen Ursprung. Sie rühren zwar auch von schwingenden Drähten her, werden aber nicht mechanisch durch strömende Luft, sondern durch elektrodynamische Vorgänge in Schwingung versetzt: Jeder stromdurchflossene Leiter ist von einem Magnetfeld umgeben. Die Magnetfelder der bei Hochspannungsleitungen parallel verlaufenden Leiterseile wirken so aufeinander, dass sich gleichartige Felder abstoßen und unterschiedliche Felder anziehen. Dadurch geraten die Seile in einem 50-Hertz-Takt in Schwingung, die auf die Luft übertragen wird und auf diese Weise als typischer Brummton an unser Ohr gelangt – und sind auch in dieser Hinsicht nicht mit den wohlklingenden Äolharfen zu vergleichen.
Publizierte Version: Wenn der Wind die Harfe spielt.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 10 (2010), S. 79 – 80
Wer widersteht dem Strome
seiner Umgebungen?
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Kleine Dünen bewegen sich schneller als große. Dennoch holen die kleinen die großen nicht ein, weil sie durch einen kürzlich entdeckten Strömungsmechanismus auf Abstand gehalten werden. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 9 (2020), S. 66 – 67
das schäumte hoch;
dick & gelbbraun
Arno Schmidt (1914–1979)
Schaum hat einige typische Eigenschaften eines Festkör-pers. Darum wirkt er auf der Oberfläche einer Flüssigkeit fast wie ein Deckel – und kann bei starken Bewegungen sogar ihr Überschwappen verhindern. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 8 (2020)
Wer lauter große Dinge sehen will,
muß sich zu einer Mücke wünschen.
Wilhelm Heinse (1746 – 1803)
Im freien Flug überleben kleine Insekten selbst den Aufprall vergleichsweise schwerer Wassertropfen. Paradoxerweise rettet die Tiere ausgerechnet ihr geringes Gewicht. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 7 (2020), S. 82 – 83
Am Himmel zeigten sich weiße Schrammen.
Guy Helminger (*1963)
In großer Höhe erzeugen die Abgase eines Flugzeugs oft langgestreckte Bänder aus Eiskristallen. Es scheint, als lägen die Kondensstreifen ruhig in der Luft – tatsächlich sind sie voller Bewegungen. Sie rotieren in der Regel gegensinnig zueinander und zerfallen manchmal in ringartige Elemente. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 6 (2010), S. 82 – 83
Dass nichts von selbst geschieht,
sondern unter dem Druck der Notwendigkeit
Leukipp (5. Jh. v. Chr.)
In tiefem Grundwasser kann sich unter hohem Druck viel Kohlendioxid lösen. Wenn sich die Mischung unter speziellen Bedingungen den Weg zur Oberfläche bahnt, kommt es zu einem spektakulären Ausbruch – und zwar immer wieder. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 5 (2020), S. 60
Die Tropfen Tau schon rinnen,
Auf uns und über uns.
Achim von Arnim (1781 – 1831)
Einige Pflanzen schöpfen lebenswichtige Feuchtigkeit direkt aus der Luft, indem Wasserdampf an ihren spezialisierten Blättern kondensiert. Winzige Rillen auf deren Oberfläche lassen die wachsenden Wassertropfen verschmelzen und zu Boden fließen.
Bei einem Regenschauer suchen wir Schutz unter Bäumen, denn das Blätterdach hält den Boden trocken. Gelegentlich allerdings verhält es sich gerade umgekehrt, vor allem am Morgen – dann ist es nur rund um den Stamm nass. Dieses sonderbare Phänomen ist sogar von großer ökologischer Bedeutung. In niederschlagsarmen Gebieten der Erde trägt es maßgeblich zur Wasserversorgung mancher Pflanzen bei.
Bei Nebel kommt man den Ursachen schnell auf die Spur. Ein Teil der durchziehenden Schwaden bleibt an den Blättern der Bäume hängen. Die winzigen Tropfen vereinigen sich mit nachfolgenden und fallen schließlich auf Grund der eigenen Schwere ab.
Doch manchmal findet man frühmorgens selbst nach einer klaren Nacht ohne Anzeichen von Nebel trotzdem feuchte Stellen unter manchen Pflanzen. Dann verdankt sich die Wassergewinnung aus dem vermeintlichen Nichts einem anderen Effekt: Auf den Blättern der Bäume bildet sich Tau. Wenn es nachts kälter wird, nimmt die maximal mögliche Wasserdampfkonzentration ab. Sie sinkt dabei oft unter die tatsächlich vorhandene Feuchte – der so genannte Taupunkt wird unterschritten.
Die Blätter der Pflanzen kühlen sich schnell ab, denn sie sind von geringer Masse und haben daher eine geringe Wärmekapazität. Als Folge ihrer eigentlichen Funktion, tagsüber möglichst viel Sonnenlicht einzufangen, sind sie nachts ebenso optimal zum kalten Weltall ausgerichtet – und strahlen diesem Energie durch Wärme zu.
Damit sich Wasserdampf absetzen kann, sind zusätzlich zur Unterschreitung des Taupunkts Kondensationskeime nötig. Wegen winziger Oberflächenstrukturen und Verunreinigungen gibt es davon reichlich. Sobald an den Stellen Miniaturtröpfchen entstanden sind, wachsen diese zügig, denn sie sind ihrerseits ideale Orte für weitere Kondensation.
Schließlich neigen sich die Blätter. Meist sind sie ohnehin nicht waagerecht ausgerichtet, und selbst wenn, verbiegt sie die zunehmende Last. Die Schwerkraft lässt die Tropfen herabgleiten und zu Boden fallen. Das geschieht aber erst bei einer kritischen Größe.
Diese hängt einerseits von der Benetzbarkeit der Blätter ab, also der Adhäsionskraft, mit der Wasser daran haftet. Der Wert dafür lässt sich mit Hilfe des so genannten Kontaktwinkels bestimmen. Das ist die Neigung zwischen dem Rand der gekrümmten Oberseite eines Tropfens und der Blattoberfläche (siehe Illustration). Bei einem flachen Winkel von 0 bis 90 Grad ist der Untergrund hydrophil (wasserliebend), bei 90 bis 180 Grad ist er hydrophob (wasserabweisend). Im letzteren Fall können sich bereits relativ kleine Tropfen ablösen. Das ist der berühmte Lotoseffekt, der sich hier zu Lande beispielsweise auch bei Kapuzinerkresse oder bei Kohlrabi beobachten lässt (siehe Foto).
Andererseits ist die Voraussetzung für das Herunterfallen eine ausreichende Neigung der Blätter. Denn mit ihr wächst die Komponente der Schwerkraft, die für das Hinabkullern entscheidend ist. Da die Belastung durch das sich sammelnde Wasser das Blatt krümmt, kommt es zu einer Art Rückkopplung: Je mehr Tropfen entstehen und je größer sie werden, desto eher lösen sie sich ab.
Die Vorgänge kommen morgens zum Erliegen, wenn mit zunehmender Umgebungstemperatur die maximal mögliche Feuchte wieder zunimmt. Dann erhöht sich der Taupunkt, und die Neigung zur Kondensation nimmt ab. Schließlich überwiegt die Verdunstungsrate, so dass die letzten Wasserrückstände wieder verschwinden. Um bis dahin möglichst viel Feuchtigkeit zu den Wurzeln zu leiten, sollten die Tropfen rasch zu Boden gehen und Platz für neue machen. Falls die Pflanze auf diese Form der Versorgung angewiesen ist, sollten sie also möglichst schnell das kritische Volumen zum Abgleiten erreichen.
Zu Beginn wachsen einmal entstandene Tropfen jeder für sich. Zwei kleine verschmelzen erst dann zu einem großen, wenn sie sich zufällig berühren. Der Menge an herab rieselndem Wasser würde demnach zunehmen, wenn solche Vereinigungen öfter und zielgerichteter vorkämen. Die kanarische Kiefer etwa hat dafür besonders lange und schmale Nadeln entwickelt – eine fast eindimensionale Struktur. Die Tropfen kommen daher wesentlich rascher mit Nachbarn in Kontakt als bei einem ungerichteten Wachstum in der Fläche.
Auf den sehr biegsamen Nadeln geraten die Tropfen bald ins Gleiten und reißen auf dem Weg herab kleinere Exemplare mit. Und zwar nicht nur einige weitere, zufällig auf ihrer Bahn liegende, wie es auf einem flächenhaften Blatt der Fall wäre, sondern gleich alle, die sich unterhalb von ihnen befinden. Auch andere Pflanzen bieten eine solche anisotrope Topografie, etwa der Bambus. Dieser verfügt über in Längsrichtung geordnete Blattadern. Sie begünstigen schmale, elliptisch geformte Wassertröpfchen und führen sie gezielt hinab.
Die Idee, durch eine derartige Strukturierung Flüssigkeit effektiver aus Dampf zu produzieren, fasziniert Wissenschaftler schon länger. Sie wollen mit maßgeschneiderten Oberflächen unter anderem in Wüsten Trinkwasser gewinnen. 2019 hat eine französische Forschergruppe von einer Möglichkeit berichtet, auch kleinere Tropfen in Bewegung zu versetzen und ablaufen zu lassen, die normalerweise wieder verdunsten würden.
Das Team um Pierre-Brice Bintein von der Université Paris Diderot hat dazu mikroskopisch kleine Rillen auf Materialien aufgebracht. Daraufhin floss kondensiertes Wasser wesentlich schneller ab als auf glatten Flächen. Die kleineren Tropfen verschmelzen eher zu einer kritischen Größe, und auf dem Substrat verbleiben weniger Rückstände. Wenn es Ingenieuren gelingt, solche Strukturen großflächig und günstig herzustellen, ließe sich nicht nur mehr Nebel und Wasserdampr in Wüsten ernten, sondern außerdem die Entwässerung in anderen Systemen verbessern, bei denen die Schwerkraft eine Rolle spielt, von der Destillation bis zum Wäschetrockner.
Quelle
Bintein, P.-B. et al.: Grooves accellerate dew shedding. Physical Review Letters 122, 2019