Was ist feierlicher als zwei Striche im Sand, zwei Parallelen? Schau an den fernsten Horizont, und es ist nichts an Unendlichkeit; schau auf das weiter Meer, es ist Weite, nun ja, und schau in die Milchstraße empor, es ist Raum, daß dir der Verstand verdampft, unausdenkbar, aber es ist nicht das Unendliche, das sie allein dir zeigen: zwei Striche im Sand, gelesen mit Geist. . . .*
Max Frisch spricht hier einen wesentlichen Aspekt der Anschauung an, nämlich die Schwierigkeit, sich Grenzbegriffen, wie dem der Unendlichkeit zu nähern. Es geht offenbar nur über gedankliche Prozesse, durch die man zumindest auf den Weg in die Unendlichkeit geführt wird. Mehr kann man offenbar bei wachem Bewusstsein kaum erlangen.
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*Max Frisch. Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. In: Stücke. Frankfurt 1962, S. 259
Ich sitze gern am Meer und lasse den Blick in die diversen Blaus schweifen. Die Gedanken bleiben allerdings nicht bei dem, was ich sehe. Es schieben sich immer wieder farbige und vielgestaltig geformte Gedankenfetzen dazwischen und modifizieren den Anblick entsprechend. Es ist als blickte ich durch eine semitransparente, fraktale Gardine in das grenzenlose Blau. Beschreiben kann ich es nicht und ich versuche daher es mit dem obigen Foto zu visualisieren.
Ein Flugzeug ritzte den blauen Himmel, messerschart, ein zwiespältiger, länger werdender Schnitt: Und in einiger Entfernung rollten sich die beiden zerschnittenen Hälften wie ein Plastikfolie auf. Ich wartete darauf, von der einen Hälfte eingewickelt zu werden.
Zum physikalisch-technischen Phänomen der Kondensstreifen gibt es mehr zu sagen und zu zeigen. Dazu siehe zum Beispiel hier und hier und hier und hier und hier und hier.
Ich habe immer wieder nach einem Bild gesucht, das die Realitäten und Fiktionalitäten meiner frei flottierenden Gedanken am besten einfangen könnte, denn mit Worten lässt sich ohnehin nicht beschreiben, was im Gehirn abläuft. Es lässt sich allenfalls symbolisch erfassen. Dieses Bild fand ich im Blick in eine Schaufensterscheibe, in der sich Reales und Gespiegeltes ungestört überlagern. Diese freie Superposition, in der sich verschiedene Welten ineinanderschieben, getragen von Gedanken, die grenzenlos Wirkliches und Mögliches auf derselben Bühne auftreten lassen und zugleich als Darsteller, Betrachter und Kritiker fungieren, scheint mir hier auf zeitgemäße Weise anschaulich zu werden. Weiterlesen
„Manchmal, wenn der Himmel weit offen und tief ist wie heute, meine ich, Kopf im Nacken, den Blick in die Zeit selbst zu versenken. Nachts geben mir die Sterne recht, die aus tiefster Vergangenheit und Einsamkeit zu mir hinunterfunkeln. Auch wenn sie über die Erde schweifen, verlieren sich die Augen oft im Gewesenen: jene Mauer dort reicht von einem fernen Zeitalter in das unsere, jener Baum wurzelt in einem fernen Jahrhundert. Weiterlesen
„In gewissen strahlenden Augenblicken des Nachdenkens, wenn ich beispielsweise zu Beginn des Nachmittags beobachtend über die Straße gehe, bringt mir jeder Passant eine Nachricht, schenkt mir jedes Haus eine Neuigkeit, enthält jedes Plakat einen Hinweis für mich.
Mein verschwiegener Spaziergang ist ein beständiges Gespräch, und wir alle, Menschen, Häuser, Steine, Plakate und Himmel, sind eine große befreundete Menge, die sich mit Worten anrempelt in der großen Prozession des Schicksals.“
Pessoa, Fernando; Das Buch der Unruhe; Frankfurt: Fischer 1987
Die Holzstruktur, die beim Absägen eines Baumes zum Vorschein kommt, könnte der Form nach an ein Huhn erinnern. Die Frage, ob dieses Huhnartige auch dann als solches vorhanden wäre, wenn man den Baum nicht abgesägt hätte, oder vielmehr, wenn ich es nicht betrachtet hätte und mir diese Gedanken gekommen wären, erscheint müßig. Dennoch ist sie nicht ganz ohne Reiz. Georg Christoph Lichtenberg berührt mit den folgenden Worten einen ganz ähnlichen Aspekt:
„Euler sagt in seinen Briefen über verschiedene Gegenstände aus der Naturlehre …, es würde eben so gut donnern und blitzen, wenn auch kein Mensch vorhanden wäre, den der Blitz erschlagen könnte. Es ist ein gar gewöhnlicher Ausdruck, ich muß aber gestehen, daß es mir nie leicht gewesen ist, ihn ganz zu fassen. Mir kommt es immer vor, als wenn der Begriff sein etwas von unserm Denken Erborgtes wäre, und wenn es keine empfindenden und denkenden Geschöpfe mehr gibt, so ist auch nichts mehr. So einfältig dieses klingt, und so sehr ich verlacht werden würde, wenn ich so etwas öffentlich sagte, so halte ich doch so etwas mutmaßen zu können für einen der größten Vorzüge, eigentlich für eine der sonderbarsten Einrichtungen des menschlichen Geistes. Dieses hängt wieder mit meiner Seelenwanderung zusammen. Ich denke, oder eigentlich, ich empfinde hierbei sehr viel, das ich nicht auszudrücken im Stande bin, weil es nicht gewöhnlich menschlich ist, und daher unsere Sprache nicht dafür gemacht ist. Gott gebe, daß es mich nicht einmal verrücke macht. So viel merke ich, wenn ich darüber schreiben wollte, so würde mich die Welt für einen Narren halten, und deswegen schweige ich. Es ist auch nicht zum Sprechen, so wenig als die Flecken auf meinem Tisch zum Abspielen auf der Geige.
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher [K 45]