Die hohen Bäume haben weitgehend verhindert, dass sich in der vorangegangenen sternklaren Nacht die Energieverluste (durch Abstrahlung zum kalten Himmel) von den unter ihrem Dach hausenden kleineren Pflanzen in Grenzen hielt. Jedenfalls reichte die Abkühlung nicht aus, dass der Tau- und Gefrierpunkt unterschritten wurde. Sie blieben weitgehend trocken und eisfrei. Weitgehend. Denn eine Pflanze machte eine auffällige Ausnahme und ließ sich von einer leuchtend weißen Reifschicht überziehen. Vor dem ansonsten relativ dunklen, meist durch Brautöne bestimmten Hintergrund nimmt sich diese faszinierende Symbiose aus organischen und anorganischen Strukturen wie ein dendritischer Leuchtturm aus.
Diese Interpretation des Szenarios lässt sich dadurch stützen, dass ich von der Planze aus durch eine Lücke im Blätterdach der Bäume auf den unbewölkten Himmel blicken kann. Auf diese Weise strömt reichlich Licht ein, das an den Eisstrukturen nahezu vollständig reflektiert wird und zu diesem erhellenden Effekt führt – und mich zu dieser kleinen Geschichte anregt.
In einer klaren Nacht strahlen kleine Objekte – hier die feinen Strukturen der Efeu-Blätter – viel mehr Energie in den kalten Weltraum als sie von dort erhalten. Dadurch sinkt die Temperatur dieser Strukturen unter den Taupunkt. Da dieser jahreszeitlich bedingt immer häufiger unter den Gefrierpunkt sinkt, haben überschüssige Wasserdampfmoleküle, die in ihre Nähe geraten nichts besseres zu tun, als sich dort niederzulassen – als Eiskristalle. Auf dieses Weise ziehen sie Konturen nach und versehen die Blätter mit kleinen kristallenen Tupfern. Die Natur hat eben Geschmack.
Nach einigen Tagen mit Temperaturen über 0 °C, zieht wieder kältere Luft ein. In ihrem monochromen Grau in Grau sieht die Welt sehr schneeträchtig aus. Einige Schneegriesel schweben vom Himmel herab. Man sieht sie nicht aber man spürt sie als winzige Kryopiekser, wenn sie beim Schmelzen der Haut gewissermaßen punktförmig die dazu nötige Wärme entziehen. Weiterlesen