H. Joachim Schlichting Spektrum der Wissenschaften 05 (2023) S. 70-71
Das Sandkorn ist gewiß das nicht
wofür ich es ansehe
Georg Christoph Lichtenberg
Zur Aufbewahrung von Tee benutze ich eine alte ostfriesische Teedose. Im oberen Bereich verjüngt sie sich, damit die Blätter problemlos in den Messbecher geschüttet werden können, der zugleich als Deckel dient. Beim Nachfüllen muss ich einen Trichter benutzen, und das funktioniert nicht immer ohne Probleme. Oft stockt der Fluss der Teeblätter. Die intuitive Idee, ihn durch Druck zu verstärken, bringt hier nichts. Ich erreiche dadurch eher, dass sich alles nur noch mehr verdichtet und ich die Prozedur von vorn beginnen muss.
Dieses Verhalten betrifft nicht nur Teeblätter, sondern alle Granulate wie Sand, Salz, Müsli oder Erbsen. Die Ursache sind so genannte Kraftbrücken. Den größten Teil des ausgeübten Drucks nehmen granulare Netzwerke auf, quer durch das Material verlaufende Verdichtungen. An ihnen wird die Kraft von einer Wand zur anderen abgeleitet. Das baut so etwas wie eine Barriere für nachfließende Materie auf. Dann rutschen die Teilchen nicht mehr in dem Maß nach, wie sie unten herausrieseln, sondern sie stützen sich gegenseitig und an den Wänden ab. Das kann in bestimmten Situationen, wie etwa Getreidesilos, zum Bruch der Behälter führen.
Seit Menschengedenken dient der Effekt der Konstruktion von freitragenden Brücken und Bögen in Gebäuden. Solche Gewölbe werden allerdings gezielt hergestellt, während sie in Granulaten durch Zufall an nicht vorherbestimmbaren Stellen entstehen und sich weitgehend der Kontrolle entziehen.
Beim Tee ist die sanfte Tour erfolgversprechender als Druck. Leichtes Klopfen oder Schütteln senkrecht zur Fließrichtung an der entsprechenden Stelle am Trichter löst die Blockade in den meisten Fällen auf.
In der Physik der granularen Materie werden solche Phänomene auch Jamming genannt. Eine eindrucksvolle Demonstration bietet ein Stab, den man mit großer Kraft in ein schmales Röhrchen presst, das mit Sand oder einem anderen Granulat gefüllt ist. Er sitzt schließlich so fest, dass man mit ihm das Behältnis samt Inhalt hochheben kann, sofern deren Gewicht nicht zu groß ist. Leichtes Schütteln setzt die Schwerkraft wieder in ihre alten Rechte – das Gefäß fällt. Auch das Geschicklichkeitsspiel Scheibenmikado macht von dem erstaunlichen kollektiven Verhalten Gebrauch. Hier muss man aus einer Fläche mit einer starken Feder zusammengedrückten Scheibchen einzelne entfernen, ohne dass sich die Nachbarn bewegen.
Noch bevor die Kraftbrücken im Rahmen der Physik der granularen Materie näher erforscht wurden, habe ich sie unwissentlich beim Spiel mit meinem Sohn im Sandkasten kennengelernt. Der Versuch, ein Installationsrohr in den trockenen Sand zu drücken, gelang mir nur mit äußerster Anstrengung. Klopfen und Rütteln halfen wenig. Zu meinem Erstaunen beobachtete ich bei anderer Gelegenheit, wie mein Sohn ein Trinkglas von vergleichbarem Durchmesser ohne große Mühe auf dieselbe Weise im Sand versenkte. Lag das vielleicht daran, dass Glas auf Grund seiner Materialeigenschaften leichter durch den Sand gleitet als ein PVC-Rohr? Doch als ich letzteres durch einen passenden Deckel fest verschloss, ließ es sich leichter in den Sand schieben.
Das widerspricht der Intuition, weil dann Luft eingesperrt ist und bei der Aktion komprimiert wird. Man könnte leicht vermuten, dadurch käme es zu einer zusätzlichen Gegenkraft, so wie es der Fall ist, wenn man ein umgestülptes Glas in ein Wasserbecken drückt. Stattdessen erleichtert die Luft das Ganze irgendwie.
Die Sache geriet in Vergessenheit, bis ich vor einiger Zeit auf eine Fachpublikation stieß. In dieser berichtete eine Gruppe von Physikern der Universität Paris VII über Messungen, die man als quantitative Fortführung unserer Spielereien im Sandkasten betrachten kann.
Das Team hat derartige Sandexperimente in reproduzierbarer Weise präpariert und sie sowohl in lockeren als auch in verfestigten Schichten durchgeführt. Auf ihren Zylinder übertrugen die Wissenschaftler eine Kraft, indem sie ihn mit einem Behälter belasteten. Dessen Gewichtskraft vergrößerten sie in kontrollierter Weise. Als Maß für die Leichtigkeit des Eindringens des Zylinders ermittelten sie die jeweils erreichte Tiefe.
Die Forscher bestätigten unsere erstaunliche Beobachtung, dass ein geschlossenes Rohr wesentlich einfacher versenkt werden kann als ein offenes. Der Versuch lässt sich mit zwei Plastikbechern reproduzieren, wenn man bei einem der beiden den Boden entfernt. Presst man den intakten Becher in den Sand, gerät das abnehmende Luftvolumen unter erhöhten Druck. Dieser wird schließlich so groß, dass die Luft an der inneren Seite des Zylinders unter den versenkten Rand strömt und an der Außenseite ins Freie gelangt. Das wirbelt den Sand im Grenzbereich auf und verflüssigt ihn regelrecht, indem es fixierende Kraftbrücken unterbricht und verhindert, dass sich neue bilden.
Der Luftstrom beim Druck auf den Zylinder erfüllt in etwa die Funktion meines leichten Klopfens beim Lösen von stockenden Teeblättern. Der luftgefüllte Leerraum zwischen den eigentlichen Teilchen eines Granulats ist also nicht bloß eine nebensächliche Gegebenheit. Vielmehr kann er eine aktive Rolle bei der Bewegung und den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bestandteilen spielen.
Quelle
Clément, R. et al.: Penetration and blown air effect in granular media. Physical Review Letters 106, 2011
In der schon früher beschriebenen Dünenlandschaft gibt es immer wieder etwas Neues zu sehen. Der Sand besteht dort aus hellen und dunklen Körnern, wobei die dunkleren eine größere Dichte haben. Sie werden von Wind, Regen, Gravitation und in Küstennähe auch immer wieder vom anstürmenden Wasser gemischt und aber auch entmischt, wobei sich je nach den wechselnden Bedingungen stets neue Rippelmuster entwickeln. Wie Sandrippel entstehen, wurde in früheren Beiträgen beschrieben (z.B. hier).
Das aktuelle Foto zeigt, wie eine vorher vom Wind glattgeschliffene ältere Musterung (dunkle Streifen) von neuen barchanartigen Rippeln überdeckt wird.
Die Natur ließ mir nur wenig Zeit eine Augenblicksaufnahme dieser ästhetisch anmutenden Umstrukturierung zu machen und in dieser Form für die Nachwelt zu sichern 😉
Da man den Schnee als eine Art Granulat kennt, das je nach Alter aus leichten Flocken bis hin zu kompakteren Kristallen besteht, traut man ihm ein Verhalten, wie in der nebenstehenden Abbildung zu sehen kaum zu. Hier haben sich auf den Ästen abgeladene Schneepakete der Schwerkraft ergeben und teilweise von der Unterlage gelöst, um wie schlaffe Textilien herabzuhängen. Hängender Schnee, wie geht das? Aus kaltem Schnee lässt sich kein Schneeball formen. Er rieselt wie Sand von der Hand. Älterer verharschter Schnee verhält sich demgegenüber wie ein fester Körper. Er fällt allenfalls als Ganzes aber er fällt nicht von selbst auseinander. Dass es zwischen diesen beiden Extremen Abstufungen gibt, derart dass eine Schneedecke gestreckt oder gebogen werden kann, kommt einem kaum in den Sinn. Und doch ist es so, wie man in den Fotos sieht. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 7 (2019), S. 52 – 52
Ein kleiner Irrtum am Anfang
wird am Ende ein großer
Giordano Bruno (1548–1600)
Ist ein Sandhaufen zu steil, rutschen Teile von ihm ab. Doch was passiert mit größeren Objekten auf dem Hang? Ob sie am kritischen Winkel stabil liegen oder ins Gleiten geraten, hängt davon ab, wie stark sie den Untergrund deformieren.
Ein größer werdender Sandhaufen wird ab einer bestimmten Neigung nicht mehr steiler. Vielmehr stellt sich ein charakteristischer Schüttwinkel ein, indem oben aufgetürmter Sand hin und wieder in Lawinen niedergeht (siehe Foto …). Sie flachen den Haufen ab, so dass darauf wieder Sandkörner liegen bleiben können, bis der kritische Winkel erneut überschritten wird. In der nichtlinearen Physik spricht man bei solchen Phänomenen von selbstorganisierter Kritikalität. Weiterlesen
Ein Narre schrieb drei Zeichen in Sand,
Eine bleiche Magd da vor ihm stand.
Laut sang, o sang das Meer.
Sie hielt einen Becher in der Hand,
Der schimmerte bis auf zum Rand,
Wie Blut so rot und schwer. Weiterlesen