H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 2 (2023)
Es sollte ›alles, was der Fall ist‹
in theoretischen Gewahrsam kommen
Hans Blumenberg (1920–1996)
Wenn in einer Reihe von Dominosteinen einer umfällt, kommt es oft zur Kettenreaktion. Wie schnell diese abläuft und ob es ohne Unterbrechung klappt, hängt von mehreren Parametern ab: dem Abstand der Steine, der Reibung zwischen ihnen und der Wechselwirkung mit dem Untergrund.
Die beim Dominospiel verwendeten Steine haben schon vor vielen Jahren auf eine ganz andere Art Karriere gemacht. Sie werden dabei nicht mehr nach Regeln aneinander gelegt, sondern in einer möglichst langen Reihe hochkant aufgestellt. Das geschickte Arrangieren findet seinen Abschluss darin, den ersten Stein gegen den zweiten fallen zu lassen. Das löst eine mehr oder weniger schnell laufende Kippwelle aus, die in einer Kettenreaktion durch das gesamte System läuft. Die Energie zum Antrieb des Spektakels stammt aus der Höhenenergie der Dominos.
or dem Start ist jeder Stein in einem stabilen Gleichgewicht. Sein Schwerpunkt befindet sich senkrecht über der Auflagefläche, und seiner Höhe entsprechend besitzt der Dominostein Höhenenergie. Um ihn über seine Kante zu kippen, muss der Schwerpunkt zwangsläufig zunächst ein wenig angehoben werden, bevor der Stein fällt. Dann wird die Höhenenergie in Bewegungsenergie umgesetzt. Diese überträgt sich teilweise beim Aufprall auf den nächsten aufgestellten Stein und stößt ihn um, wodurch nun der übernächste in der Reihe umgeworfen wird und so weiter. Ein Ziel besteht darin, durch geeignete Platzierung der Dominos eine möglichst schnelle Welle auszulösen. Dabei wird in der Regel stillschweigend unterstellt, die Reibung mit dem Boden sei so groß, dass die Steine darauf nicht wegrutschen. Das ist bei den üblichen Untergründen meistens gewährleistet.
Es kann aber auch anders sein. Das zeigt zum Beispiel ein mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommenes Video des Youtubers Destin Sandlin. Die auf seinem Kanal »SmarterEveryDay« dokumentierten Experimente haben David Cantor von der Polytechnique Montréal und Kajetan Wojtacki vom Forschungsinstitut für Grundlagentechnologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau zu näheren Untersuchungen inspiriert. Mit Hilfe von Computersimulationen brachten die beiden Physiker Ketten von bis zu 200 Dominos zu Fall. Sie variierten den Abstand zwischen den Steinen und die Reibungskräfte mit dem Untergrund sowie untereinander.
Eine Erkenntnis daraus: Bei kleinem Abstand zwischen Dominos, wenn also die Kante des angetippten Steins weit oben auf den Nachbarn prallt, breitet sich die Welle nur langsam aus. Denn zum einen ist infolge der geringen Höhendifferenz die Bewegungsenergie noch klein. Zum anderen gleiten während des gemeinsamen Kippens die Stirnflächen lange aneinander, das heißt die Reibungskraft wirkt über eine verhältnismäßig große Strecke, wodurch sich viel Bewegungsenergie in Wärme umwandelt.
Ein rutschiger Untergrund bremst die Kettenreaktion zusätzlich, weil die Steine infolge des Aufpralls im bodennahen Bereich etwas nach hinten weggleiten. Umgekehrt wird die Welle schneller, wenn die Reibung mit dem Untergrund steigt und die Streckenverluste durch solch ein Wegrutschen sinken. In der Praxis haben die Dominos meist gute Bodenhaftung.
Ein interessantes Verhalten ergibt sich bei einem größeren Zwischenraum bis hin zur dreifachen Steindicke. Hier ist kein rückwärtiges Weggleiten mehr zu beobachten – und zwar unabhängig von der Stärke der Reibung mit dem Boden. Der niedrigere Aufprallpunkt kippt den Nachbarn zwar weniger wirkungsvoll um als es beim Anstoßen mit einem kürzeren Hebel oberhalb des Schwerpunkts der Fall ist. Die große Fallhöhe sorgt aber für mehr Bewegungsenergie, und das verhindert weitgehend das Zurückrutschen des Steins. Die beiden gegensätzlichen Effekte gleichen sich teilweise aus, und in einem gewissen Abstandsbereich bleibt die Geschwindigkeit der Welle etwa gleich.
Überschreitet in den Simulationen die Lückenbreite jedoch die dreifache Dicke der Steine und wird die Reibung zwischen den Dominos größer und mit dem Untergrund kleiner, wird die Welle instabil. Denn bei einer solchen Kombination gleiten die Steine mitunter so weit zurück, dass sie ihre Nachbarn nicht mehr erreichen.
Außerdem ändert sich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit nur noch wenig, sobald der Reibungskoeffizient zwischen den Dominos einen bestimmten Wert überschreitet. Vermutlich gleiten die Steine dann ohnehin kaum noch aneinander ab, und es tritt eine Art Sättigungseffekt auf. Ähnliche Erscheinungen gibt es beim Einfluss der Reibung auf den Böschungswinkel eines stabilen Haufens aus Sand. Daher vermuten die beiden Forscher hinter dem Verhalten ein universelles Phänomen.
Die schnellste Wellenausbreitung gibt es mit einer Konfiguration, bei der die Dominosteine relativ dicht zusammenstehen und eine große Reibungskraft mit dem Boden sowie eine kleine untereinander ausüben. Cantor und Wojtacki ermittelten eine Höchstgeschwindigkeit von 2,25 Metern pro Sekunde.
Solche Simulationen helfen zwar, das Verhalten einer Dominokette bis hin zu praktisch nicht mehr realisierbaren Konstellationen auszuloten und zu visualisieren. Damit versteht man jedoch nicht zwangsläufig alle Aspekte der komplexen Dynamik besser. So gibt es beispielsweise im Video von Destin Sandlin seitliche Drehungen, bei denen einzelne Steine regelrecht aus der Reihe zu tänzeln scheinen, wenn sie nicht perfekt mittig angestoßen wurden. Solche Auswirkungen erfasst das virtuelle Kippen von Cantor und Wojtacki nicht. Das manuelle Aufstellen hat Experimenten im Computer noch manche faszinierenden Aspekte voraus. Mehr Spaß macht es ohnehin.
Quelle
Cantor, D., Wojtacki, K.: Effects of friction and spacing on the collaborative behavior of domino toppling. Physical Review Applied 17, 064021 (2022)
Suhr, Wilfried; Schlichting, Joachim. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 68/4 (2015) 200 – 204
Wer glaubte, die Mechanik hielte keine Überraschungen mehr bereit, war über die erst kürzlich bekannt gewordene Kettenfontäne wohl besonders erstaunt. Um es zu erleichtern, das spektakuläre Phänomen auch im Unterricht zu behandeln, wird hier ein dafür aufbereiteter Erklärungsansatz vorgestellt. Anhand eines zusätzlichen Experiments wird nachgewiesen, dass maßgebliche Parameter des Modells im zulässigen Wertebereich liegen.
Schlichting, H. Joachim; Ucke, Christian. In: Physik in unserer Zeit 44/1 (2013), S. 33-35
Ein Dampfjetboot ist eine extrem einfache Wärmekraftmaschine. Ohne bewegliche mechanische Teile verwandelt sie thermische Energie einer Kerzenflamme in mechanische Energie, die sich in periodisch aus- und einströmendem Wasser äußert und das Boot in Bewegung versetzt.
Schlichting, H. Joachim. In: Physik in unserer Zeit, 36/5, 243 (2005).
Fast jeder kennt die Klick-Klack-Maschine, auch Newtons-Cradle genannt (Abbildung 1). Prallt eine Kugel gegen eine Reihe sich berührender Kugeln, so bleibt sie nach dem Stoß stehen, und die letzte Kugel am anderen Ende setzt die Bewegung mit etwa der gleichen Geschwindigkeit fort, mit der die erste auf die Reihe prallte. Dies demonstriert Impuls- und Energieerhaltungssatz. Es gibt jedoch eine Variante, in der die Energieerhaltung verletzt zu sein scheint.
PDF: Attraktive Kugeln
Schlichting, H. Joachim; Ucke, Christian. Este artículo es una versión modificada del original publicado en alemán en la revista: Physik in unserer Zeit 35/6, 272-273 (2004).
Si se suspende del borne de una batería por un imán cilíndrico y un tornillo y se conecta al otro borne de la batería, este dispositivo comienza a rotar. No sólo es el motor eléctrico más sencillo sino también más rápido de construir.
PDF: Un motor eléctrico de construcción sencilla, bajos costes y alta tecnología
Schlichting, H. Joachim; Ucke, Christian (English translation by Jonathan Williams). This article is a modified version which was published originally in German in the journal: Physik in unserer Zeit 35/6, 272-273 (2004).
If a combination of a cylindrical magnet and a screw is suspended from the terminal of a battery and a conducting connection is made with the other terminal, then this assembly begins to rotate. It is not only the simplest but also the fastest electrical motor to construct.
PDF: A fast, high-tech, low cost electric motor construction
Schlichting, H. Joachim; Walter, Reinhold; Waßmann, Harald. In: Physik in der Schule 31/4, 134 (1993).
Wir kennen den Luftwiderstand von zwei Seiten. Zum einen stellt er ein wesentliches Hindernis der Fortbewegung dar. Bei nicht zu niedrigen Geschwindigkeiten wird der größte Anteil der zur Fortbewegung eines Fahrzeuges nötigen Energie für die Überwindung des Luftwiderstandes aufgewandt. Andererseits muß der Luftwiderstand als notwendige Bedingung der Möglichkeit angesehen werden, bewegte Luft als Energiequelle anzuzapfen. Nur dadurch, dass die Flügel einer Windmühle dem Wind einen möglichst großen Widerstand entgegensetzen, gelingt es, einen möglichst großen Anteil der
Windenergie beispielsweise zum Antrieb eines Mahlwerkes nutzbar zu machen.