Nachdem der Winter nunmehr schrittweise auf dem Rückzug ist, drängen sich immer mal wieder Hinterlassenschaften der kalten Jahreszeit in den Blick. Manchmal zeigen diese sich von der schönsten Seite, wie beispielsweise im obigen Foto. Es handelt sich um eine Fliese, die während der Vereisung vor einiger Zeit mit Salz bestreut wurde, um die Eisschicht zum Schmelzen zu bringen und damit die Rutschgefahr zu beseitigen.
Durch Salz wird der Schmelzpunkt von Wassereis herabgesetzt. Es gefriert bei einer niedrigeren Temperatur als reines Wasser. Es bleibt also auch bei Temperaturen flüssig, die allerdings nicht zu weit unter dem normalen Gefrierpunkt von 0 °C liegen dürfen. Diese Bedingung ist in unseren Breiten den meisten Fällen erfüllt.
Auch eine bereits vorhandene Eisschicht kann oft mit Salz aufgetaut werden, weil sie stets mit einer dünnen Wasserschicht bedeckt ist, die sich mit dem Salz verbindet und zu immer tieferen Schichten vordringt.
Nachdem es wieder wärmer geworden, das Wasser verdunstet ist, bleibt das gelöste Salz zurück und verfestigt sich wieder. Dabei bilden sich der Gitterstruktur des Salzes (Natriumchlorid) entsprechend Salzkristalle, die teilweise ästhetisch ansprechende Muster bilden wie hier auf der früher vereisten und mit Salz behandelten Fliese.
Ich weiß, man sollte beim Enteisen mit Salz sparsam umgehen. Das tue ich normalerweise auch, aber in diesem Fall handelte es sich um eine lokal beschränkte Maßnahme, bei der alles Salz wieder zurückgewonnen wurde. Bevor ich die Fliesen säuberte, erlaubte ich mir jedoch das obige – wie ich meine naturschöne – Foto zu machen.
So könnte man denken, wenn man sieht (Foto), dass die Reifkristalle, die sich in der Nacht gebildet haben, nicht auf der Eisfläche angedockt haben, sondern an den teilweise eingefrorenen trockenen Blättern. Wenn man diese Situation mit der in einem früher beschriebenen ähnlichen Phänomen vergleicht, erscheint dies Wahl unverständlich. Sollte nicht das Eis mit seinen Eiskristallen der idealere Keim sein?
Ich vermute folgenden Grund für diese unterschiedliche Wahl. In der kalten klaren Nacht, in der die Reifkristalle an den Blättern heranwuchsen, waren die Blätter wesentlich stärker abgekühlt als die riesige Eisfläche. Denn die Wärmekapazität des massiven Eises ist wesentlich größer als die der dünnen vertrockneten Blätter. Bei gleichem Energieverlust pro Flächeneinheit kühlen sich daher letztere auf eine wesentlich tiefere Temperatur ab. Der Taupunkt wurde daher dort viel früher unterschritten als über der vergleichsweise warmen Eisfläche. Überschüssige Moleküle gab es daher vor allem an den viel kälteren Blättern, sodass sie vor allem dort andocken konnten.
Vor einigen Tagen hat mir Claudia Hinz diese schöne Aufnahme von einer Sitzbank geschickt. Der Anblick stimmt uns sofort auf den (vielleicht) bevorstehenden Winter ein, insbesondere dann wenn man sich auf diese Bank setzt. Ich würde das allerdings nicht empfehlen. Zwar sind die Eisstacheln relativ harmlos, sie schmelzen sofort dahin, sobald ein warmer Hintern die dazu nötige Schmelzwärme liefert. Aber genau das ist das Problem. Denn vermutlich würde die Wärmeabgabe, die zum Schmelzen (also der Überführung der Eiskristalle in Wasser) nötig ist, einen drastischen Eingriff ins Wohlbefinden dieses empfindlichen Körperteils führen, zumal das entstandene Wasser zumindest normale Textilien durchtränkt und auf diese Weise die Wärmeleitung zusätzlich „befeuert“. Wenigstens im Prinzip, wie Physiker oft zu sagen pflegen.
Außerdem – und das scheint mir noch schlimmer zu sein – würde man ein seltenes, naturschönes Gebilde unwiderruflich zerstören und das auch noch mit dem Hintern. Welcher Kunstverständige könnte das schon mit seinem Gewissen vereinbaren.
Aber nun im Ernst: Wie kam es überhaupt zu diesem herausfordernden „Naturkunstwerk“?
Ich stelle es mir folgendermaßen vor: Die auf der Bank vorhandenen Regentropfen sind in der kalten Nacht zunächst gefroren, während sich an trockenen Stellen (Rau)reif bildete. Entscheidend ist dabei ja immer, dass Keime vorhanden sind, an denen der Wasserdampf kondensieren bzw. sublimieren (also direkt in Eis übergehen) kann. Die besten Keime sind normalerweise die Eiskristalle selbst, deswegen wachsen sie ja an den Stellen weiter, an denen der Anfang geglückt ist. Wurde den Wassertropfen bereits durch die eisige Verhärtung das innewohnende Verlangen (letzteres ist kein physikalischer Terminus) genommen, kugelförmig zu werden, so erinnert durch den üppigen Eishaarwuchs inzwischen nicht das geringste mehr daran, dass dieses Verlangen überhaupt einmal bestanden haben könnte. Es wäre also durchaus verständlich, dass den Tropfen deshalb die kristallinen Haare zu Berge stehen. 😉
. 😉
Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, erstmalig das sogenannte Haareis in freier Natur zu entdecken. Und wie das Schicksal es will, entdeckte ich es einige Zeit später noch einmal. Die Jahrzehnte vorher muss ich wohl blind gewesen sein für diese subtile und feine Hervorbringung der Natur. Vor ein paar Tagen entdeckte ich nur gewissermaßen die Ergänzung zum Haareis, das sogenannte Kammeis. Allerdings hatte ich das auch schon früher beobachtet, daraus aber nicht den Schluss gezogen, dass es auch Haareis geben müsse ;). Diesmal zeigte sich mir das Kammeis in vielgliedrigen Zapfen, die gewissermaßen aus dem Boden hervorquollen, obwohl sie aus Eis bestehen (siehe Foto).
Dieser „Boden“ befindet sich auf einem wenig bewachsenen Hang eines Bergs. Er besteht aus Sand und verwitternden Steinen des felsigen Untergrunds und war nur an der Oberfläche gefroren.
Die Nadeln entstehen anschaulich gesprochen dadurch, dass in den Poren des Bodens gespeichertes Wasser gefrierend sich ausdehnt. Dabei bewegen sich die Spitzen der gefrorenen Wasserfäden nach außen und ziehen aufgrund ihres inneren Zusammenhalts (Kohäsion) weiteres Wasser aus dem Innern nach, das dann in den kälten Bereich gerät und ebenfalls gefriert usw.. Auf diese Weise können beachtliche Eisnadellängen erreicht werden. Das im Foto zu sehende Kammeis ist maximal etwa 7 cm lang. Obwohl Kammeis bis zu 30 cm lang werden kann, habe ich in unseren Breiten nie Zähne gesehen, die länger als 10 cm waren. Manchmal werden mit den wachsenden Zähnen an der Oberfläche zusammengefrorene Bodenbestandteile aus ihrer „Verankerung“ herausgerissen und einfach mit angehoben.
Obwohl die einzelnen Nadeln zunächst unabhängig voneinander aufstreben, bleiben sie oft mehr oder weniger fest miteinander verbunden. Diese innere Verbundenheit macht sich auch darin bemerkbar, dass sich die Bündel aufstrebender Nadeln krümmen, wenn einige Nadeln schneller wachsen als andere. Dann neigt sich das Bündel zur Seite der langsamer wachsenden Nadeln. Im Foto sieht man sogar hauptsächlich gekrümmte Exemplare von Kammeisbündeln, sodass die Ähnlichkeit mit den Zähnen eines Kamms nicht gerade überwältigend ist. Solche Krümmungen aufgrund unterschiedlich starker Ausdehnungen kennt man auch aus anderen Zusammenhängen.
Wesenlich für das Auftreten von Kammeis ist die Eigenschaft des Wassers sich im Unterschied zu den meisten anderen Stoffen beim Erstarren auszudehnen. Das ist der sogenannten Anomalie des Wassers zu verdanken. Eine weitreichende Konsequenz dieser Anomalie für das Leben auf der Erde ist die allerdings sehr vertraute Tatsache, dass Gewässer von oben her zufrieren.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 2 (2022)
Es waren Myriaden im Erstarren zu ebenmäßiger Vielfalt kristallisch
zusammengeschossener Wasserteilchen.
Thomas Mann (1875–1955)
In kalten Nächten wachsen oft weit verzweigte Eiskristalle heran. Wo und wie sie genau entstehen, hängt vor allem von den lokalen Gegebenheiten ab.
Zwar verlieren Pflanzen im Winter ihre Blütenpracht, doch dafür sprießen an ihnen filigrane, dendritische Eiskristalle und bieten einen schönen und physikalisch interessanten Ersatz. Damit solche Strukturen entstehen können, ist neben tiefen Temperaturen aber auch Wasser nötig.
In einer trockenen und wolkenfreien Nacht kann reichlich davon anfallen. Das ist uns bereits aus den wärmeren Jahreszeiten vertraut: Nicht selten sind am frühen Morgen Blätter und andere Gegenstände mit zahlreichen, bei Sonnenschein glitzernden Tautröpfchen benetzt. Durch Abstrahlung von Energie zum dunklen Himmel fällt die Temperatur der Objekte; Luft in deren Nähe kühlt ebenfalls ab. Damit sinkt die maximal mögliche Konzentration des darin enthaltenen Wasserdampfs (maximale Feuchte). Unterschreitet sie die aktuell vorhandene absolute Feuchte, kondensiert das überschüssige Wasser. Die Temperatur, bei der das passiert, heißt Taupunkt.
Kleinere und flachere Gebilde wie Grashalme und Blätter kühlen stärker ab. Denn einerseits ist die pro Zeiteinheit abgestrahlte Energie in etwa proportional zur Größe der Oberfläche, andererseits ist die gespeicherte innere Energie proportional zum Volumen. Wenn r für eine typische lineare Größe eines Gegenstands steht, etwa seinen Radius, dann schrumpft seine Oberfläche proportional mit r^2, sein Volumen aber mit r^3. Wird das Objekt beispielsweise um den Faktor 10 verkleinert, so verringert sich seine Oberfläche um das 100- und sein Volumen um das 1000-Fache. Also nimmt die zu Letzterem proportionale innere Energie stärker ab als die Oberfläche – und mit der inneren Energie ist wiederum die Temperatur verbunden.
Im Winter sind die Verhältnisse nicht grundlegend anders, nur liegt der Taupunkt gegebenenfalls unterhalb des Gefrierpunkts. Dann wird der überschüssige Wasserdampf gar nicht erst flüssig, sondern gefriert an den eiskalten kleinen Strukturen direkt zu Kristallen (Resublimation). Um vom gasförmigen in den festen Zustand überzugehen, benötigen die Wassermoleküle Unterstützung in Form von so genannten Keimen. Das sind meist winzige Partikel, an denen die Kristallisation leichter gelingt als beispielsweise im freien Raum. Der ideale Keim ist ein bereits existierender Eiskristall, und daher wachsen eher vorhandene Exemplare als neue entstehen.
Auf einem Blatt entwickeln sich die ersten Eisstrukturen bevorzugt an dünnen Härchen und anderen winzigen Auswüchsen (siehe »Sprießende Spitzen«). Sie sind nicht nur besonders kalt, sondern ragen oft außerdem ein Stück weit in die Umgebung hinein, die von Wasserdampfmolekülen wimmelt. Deren Verfügbarkeit ist zudem einer der Gründe dafür, dass die entstehenden Eisnadeln meist nicht in beliebige Richtungen wachsen, sondern von ihrer Basis weg ins Freie. Dabei spielt ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: Bei der Resublimation fällt Energie aus Kondensationswärme und Kristallisationswärme an. Nur, wenn sie genügend schnell weggeschafft wird, kann Dampf tatsächlich erstarren.
Haben die Spitzen eine bestimmte Länge erreicht, können Seitenzweige schräg nach oben austreiben, weil ihre Flanken jetzt genügend weit von der Basis entfernt sind. So ergeben sich die dendritischen Strukturen gewissermaßen zwangsläufig.
In der Natur sind vielfältige Eiskristallmuster zu beobachten. Das spiegelt die zahlreichen Möglichkeiten wider, die sich durch die Geometrie der Objekte, die jeweils herrschenden Temperaturverhältnisse, den Nachschub an Wasserdampfmolekülen sowie die Entsorgung der Abwärme ergeben.
Die bislang erläuterten Strukturen entsprechen Verhältnissen mit eingeschränkter Versorgung mit Material und begrenztem Abführen der Kristallisationswärme. In Situationen, in denen reichlich Wasserdampf vorhanden ist und die Wärme optimal abtransportiert wird, gibt es eine ganze Klasse weiterer Eisstrukturen. Sie sind großflächig und dicht. Bei ihnen schlägt sich der Einfluss der hexagonalen Symmetrie der mikroskopischen Wassermoleküle auf die makroskopischen Muster besonders deutlich nieder.
In einem Fall (siehe »Hexagonale Blättchen«) war der Ausgangspunkt der Strukturbildung eine Schneedecke, die sich großflächig über niedriges Buschwerk gelegt hatte. Tagsüber heizte die intensiv strahlende Sonne den dunklen Raum darunter auf – eine feuchtigkeitsgesättigte Atmosphäre entstand. In der anschließenden sternklaren Nacht kühlte sich die obere Schneeschicht stark ab. Von unten stiegen verhältnismäßig warme Luft und Wasserdampf auf. Letzterer schlug sich im Bereich des Schnees nieder und erstarrte. Bei so einer Konstellation wird die Kristallisationswärme leicht in den kalten Nachthimmel abgestrahlt. So füllen sich beim Emporwachsen selbst die Zwischenräume problemlos. In nur einer Nacht können auf diese Weise lamellenartige Strukturen entstehen, die teilweise wie nach oben offene Gefäße aussehen und an manchen Stellen wie Kühlrippen gestaffelt sind. Letztere Ähnlichkeit ist mehr als rein äußerlich, schließlich kommt es gerade bei üppiger und effektiver Produktion von Kristallstrukturen weiterhin darauf an, die Wärme optimal abzugeben. So sind auch die typischen weihnachtsbaumartigen Muster (siehe »Baumartig gestaffelt«) weniger eine ästhetisch ansprechende Laune der Natur, als vielmehr eine physikalische Notwendigkeit.
Es scheint als würden die nadelförmig wachsenden Raureifkristalle die stachelige Form der realen Tannennadeln imitieren. Allerdings sind sie so frei, nur eine Seite des Zweigs zu besiedeln. Denn anders als ihre botanischen Vorbilder wachsen sie nicht der Sonne, sondern dem Wind entgegen, der reichlich Nahrung in Form von Wassermolekülen heranführt. Möglicherweise hat er bei Temperaturen von einigen Graden Celsius unter null auch noch winzige Nebeltröpfchen (unterkühlt) im Gepäck, um sich an den bereits vorhandenen Kristallen anzulagern. Da bei der Kristallisation Wärme abgeführt werden muss, sind die in die kalte Luft hineinreichenden äußeren Spitzen besonders prädestiniert.
Wer gedacht hätte, dass die Eiskristalle erst einmal vorbei sind, sieht sich zumindest in unserer Gegend eines Besseren belehrt. Die jungen Blätter sind mit feinen Eiskristallen besetzt und vermitteln alles andere als ein Gefühl des Frühlings. Allerdings muss ich zugeben, dass zumindest die grünen Pflanzen, die einige Grad unter Null vertragen können, auf eine ästhetisch ansprechende Weise veredelt erscheinen. Einige andere Pflanzen ließen ihre Blätter traurig hängen und wie es den Obstblüten ergangen ist, wird sich spätestens bei Bildung der Früchte zeigen.
Der Reif besteht aus vielen kleinen Eiskristallen. Sie bilden sich, wenn die Temperatur sinkt und die maximale Luftfeuchte die absolute unterschreitet. Dabei kondensiert der überschüssige Wasserdampf zu Tautropfen, die bei weiterer Temperaturabnahme des Blattes kristallisieren. Dieses Phänomen hat mit der Tatsache zu tun, dass kleine Körper an einer kalten Umgebung schneller auskühlen als größere.
Der Grund: Kleine Körper haben eine im Vergleich zu ihrem Volumen größere Oberfläche als größere. Die Oberfläche ist aber maßgeblich für die Abgabe von Wärme an die kältere Umgebung. Das kann man sich folgendermaßen klarmachen: die Oberfläche eines Körpers nimmt grob gesagt mit dem Quadrat seiner Größe (Länge, Radius…) das Volumen aber mit der dritten Potenz zu. Und wenn nun der Körper beispielsweise um den Faktor 10 verkleinert wird, so verkleinert sich die Oberfläche um den Faktor 100 und das Volumen sogar um den Faktor 1000. Das Volumen und damit die zum Volumen proportionale innere Energie des Körpers nehmen also um den Faktor 10 stärker ab als die Oberfläche. Daher kühlt der kleinere Körper etwa 10-mal schneller ab als der größere. Diese für den Wärmeverlust wichtige Oberflächen-Volumen-Relation spielt bei der Abkühlung der Blätter eine wichtige Rolle. Die vom Blatt abstehenden winzigen Zacken und Härchen sind besonders klein und geben daher ihre Energie sehr schnell durch Wärmstrahlung ab, sodass vornehmlich an diesen Stellen der Wasserdampf der Luft kondensiert und schließlich kristallisiert.
… klingt so ähnlich wie: Mäuse husten hören.
In diesen Tagen zeigt sich der Winter in all seinen Facetten. Jedenfalls jenen, die man dem Winter seiner Träume zuschreibt. Lässt man sich nicht zu sehr von dem Schnee blenden, kann man den Blick für das Kleine bewahren und schärfen, das sich oft im Verborgenen abspielt. In diesem Fall war ich auf ein Phänomen gefasst, als ich morgens durch die Balkontür blickend eine Temperatur von -6 °C im nicht geheizten Wintergarten ablas. Mir war klar, dass sobald ich die Tür von der mit Wasserdampf gesättigten Küche öffnete, die Scheiben im Wintergarten beschlagen würden. Sie taten es und vernebelten sofort den Blick auf den winterlichen Garten. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 1, (2021), S. 64 – 65
Vergessen wir die Dinge,
betrachten wir die Struktur
Georges Braque (1882–1963)
Abdrücke im Schnee entwickeln sich unter besonderen Bedingungen zu auffällig kreisförmigen Strukturen. Das liegt vor allem am Wärmeaustausch mit der Umgebung, der sich mit der Konsistenz des gefrorenen Wassers verändert. Weiterlesen
Gefrierendes Wasser und schmelzendes Eis präsentieren sich unter natürlichen Bedingungen in einem überbordenden Gestaltreichtum, der durch die physikalische Beschreibung als Phasenübergänge von flüssig nach fest und fest nach flüssig nur unzureichend erfasst wird. Den jeweiligen äußeren Umständen entsprechend laufen der Kristallisations- und Schmelzprozess meist in Wechselwirkung mit anderen physikalischen Vorgängen ab, die zu sehr komplexen und nicht selten ästhetisch ansprechenden Kompositionen aus Eiskristallen im jeweiligen Kontext der natürlichen Umgebung führen können. Zwischen streng geometrisch aufgebauten hexagonalen Kristallstrukturen und organisch wirkenden floralen Mustern entfalten sich zahlreiche Mischformen, deren Zustandekommen – wenn überhaupt – nur durch detektivische Kleinarbeit physikalisch zu entziffern ist.
In einigen der ausgewählten Fotografien drängen sich Korrespondenzen zwischen Eismustern und organischen Strukturen auf. Es entfaltet sich so etwas wie ein anspielungsreicher, stummer Dialog zwischen zwei Sphären, die wir als völlig verschieden wahrzunehmen gelernt haben. So scheinen sich die Eisblumen am Fenster in ihrem Gestaltreichtum an floralen Mustern zu orientieren und es sieht so aus, als ob die Raureifnadeln am Tannenzweig lediglich die realen Tannennadeln imitierten.
Ich werde über die Wintermonate immer mal wieder ein Foto auswählen das ein interessantes Szenario zwischen Gefrieren und Schmelzen aufzeigt oder einfach nur schön ist. Die unmittelbare Wirkung auf den Betrachter steht im Vordergrund.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 7 (2020), S. 82 – 83
Am Himmel zeigten sich weiße Schrammen.
Guy Helminger (*1963)
In großer Höhe erzeugen die Abgase eines Flugzeugs oft langgestreckte Bänder aus Eiskristallen. Es scheint, als lägen die Kondensstreifen ruhig in der Luft – tatsächlich sind sie voller Bewegungen. Sie rotieren in der Regel gegensinnig zueinander und zerfallen manchmal in ringartige Elemente. Weiterlesen
Während eines Fluges hoch über den Wolken unter strahlend blauem Himmel wurde ich durch Eiskristalle am Kabinenfenster daran erinnert, dass außen ungemütliche Temperaturen von circa – 50° C und nur noch etwa ein Viertel des Luftdrucks (ca. 250 hPa) auf Meereshöhe (Normaldruck von ca. 1000 hPa) herrschen. Die Flugzeugkabine ist daher eine Art Luftballon, der mit warmer Luft gefüllt ist. Es wird zwar nicht der volle Luftdruck auf der Erdoberfläche im Fahrgastraum des Flugzeugs aufrecht erhalten, sondern nur etwa Dreiviertel (750 hPa) des Normaldrucks. Das entspricht in etwa dem Druck, der in 2500 m Höhe im Hochgebirge herrscht.
Damit die Flugreisenden zumindest visuell mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen können, gibt es Flugzeugfenster, die die Differenzen zwischen Innen und Außen so überbrücken, dass der Durchblick weitgehend ungestört bleibt. Ein solches Flugzeugfenster besteht in der Regel aus drei Acrylglascheiben, von denen die innere Scheibe nur dazu da ist, dass die Reisenden nicht mit den beiden extrem kalten äußeren Scheiben in Berührung kommen.
Ein kleines Loch in der mittleren Scheibe sorgt dafür, dass die Druckunterschiede zwischen Kabine und äußerer Scheibe stets ausgeglichen werden können. Der damit verbundene Luftaustausch erfüllt damit außerdem die Funktion, die Ansammlung von Feuchtigkeit zwischen den Scheiben und damit ein die Sicht behinderndes Beschlagen der Scheiben zu verhindern. Damit unterscheiden sich die Flugzeugfenster grundlegend von den mehrfach verglasten Scheiben in Wohnhäusern, die fest versiegelt sind und keinen Luftaustausch mit der Außenwelt ermöglichen.
Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Ab und zu kommt es dann doch dazu, dass Scheiben beschlagen oder sogar Eiskristalle an der äußeren Scheibe entstehen, die meist auf die Nähe des Lochs beschränkt bleiben. Auf dem Foto sieht man den nicht allzu häufig vorkommenden Fall, dass sich die Eisblumen über einen größeren Bereich ausbreiten. Ich habe auf Flugreisen beobachten können, dass die Kristalle während ein und desselben Flugs auch wieder verschwinden können. Da die Kristallbildung nicht an allen Scheiben gleichzeitig auftritt, müssen Besonderheiten in der Nähe des betroffenen Fensters ausschlaggebend sein.
Ein Platz am Flugzeugfenster ist übrigens ein idealer Beobachtungsposten, von dem aus nicht nur großartige Ausblicke aus nicht alltäglicher Perspektive möglich sind, sondern auch Naturphänomene erlebt werden können, die einem normalerweise entgehen.
Auch wenn der Winter in diesem Jahr ausgefallen ist, scheint er sich bei uns in den letzten Nächten mit schönen Eismustern zu verabschieden. Ich beobachte seit etwa einer Woche, wie sich die Wasserpfützen – Überbleibsel der vorangegangenen wasserreichen Wochen – allmählich zurückziehen indem das Wasser versickert. Die frostigen Nächte der letzten Tage geben ihnen Gelegenheit, dies mit einer letzten Grazie zu tun. Allerdings muss man schon früh aufstehen, bevor die Sonne die Eismuster bedenkenlos liquidiert (sic!). Eines dieser Muster ist in diesem Foto zu sehen (zum Vergrößern auf das Bild klicken). Obwohl es am Vortage noch ganz anders aussah, hat sich das fast zur Neige gehende Wasser noch zu einigen Resteismustern aufgeschwungen. Weiterlesen
Vor allem in Obst- und Weinanbaugebieten kann man in diesen Tagen, bzw. den frostigen Nächten Sprinkleranlagen in Betrieb sehen, die oft zu den lange vermissten Winterlandschaften mit ihren Kristallgärten führen. Dies ist natürlich nur ein ästhetischer Nebeneffekt des durch den künstlichen Regen beabsichtigen Schutzes der bereits Blätter und Blüten bildenden Pflanzen vor Erfrierungen. Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass die kristalline Verzauberung der Pflanzen durch die Beschichtung mit Eis eine Erwärmung der Pflanzen bewirken kann. Weiterlesen
Der frühe Frühling in diesem Jahr, der sich gefühlt ja bereits durch den ganzen Winter hindurchzog bringt in diesen Tagen einige botanische Eisblumen hervor. Nachdem vorgestern noch der Löwenzahn seine Blüte in der prallen Sonne entfalten konnte, musste er in der gestrigen Nacht einige kristalline Gäste auf seinen Blütenblättern dulden. In der Nacht sanken die Temperaturen unter Null Grad, sodass der Taupunkt unterschritten wurde: Überschüssiger Wasserdampf kondensierte und/oder resublimierte an feinen Strukturen, so auch an der Löwenzahnblüte. Weiterlesen
Warum ist einer der Kondensstreifen rot? Weiterlesen
Hagelkörner sind so viel anders als Schneeflocken. Sie sind hart und können ab einer gewissen Größe nicht nur schmerzhaft werden, sondern sogar zu größeren Schäden führen. Als sie gestern bei relativ starken Winden auf die Terrasse fielen hüpften sie wie winzige Bälle umher bevor sie auf diese Weise ihre Bewegungsenergie abgegeben hatten und liegen blieben.
Hagel entsteht in Gewitterwolken, indem unterkühles Wasser an Kristallisationskernen gefriert. Dabei wird Kristallisationsenergie an die Umgebung abgegeben, wodurch die normalerweise gegebene Temperaturschichtung innerhalb der Wolke labil wird und mehr oder weniger starke Aufwinde angetrieben werden. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 8 (2019) S. 52 – 53
Doch still, was schimmert
durch das Fenster dort?
William Shakespeare (1564–1616)
Über den Wolken herrschen außerhalb des Flugzeugs dramatisch andere Temperaturen und Drücke als in der Kabine. An den Scheiben, die beide Reiche voneinander trennen, kommt es zu eindrucksvollen optischen und thermodynamischen Phänomenen. Weiterlesen
Vor einiger Zeit fand ich technische und biologische Stachel in trauter Gemeinsamkeit sinnlos nebeneinander dahindämmern. Nicht dass sie einem nicht mehr hätten gefährlich werden können, aber es steckte keine Absicht dahinter. Ähnlich ist es bei dem aktuellen Fundstück (Foto). Wieder zwei Arten von Stacheln verschiedener Art. Diesmal würde ich eher von organischen und anorganischen Stacheln sprechen: die einen – vermutlich wieder Brombeeren des vergangenen Jahres – und die anderen – Eisstacheln des aktuellen Tages. Der Ähnlichkeit in der Form entspricht diesmal überhaupt keine Ähnlichkeit in der Wirkung. Während die Brombeerstachel auch jetzt noch voll wirksam sind, würden die Reifstacheln bereits durch leichte Berührung dahinschmelzen, ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, sich zu wehren.
Wie die Raureifnadeln entstehen, habe ich in einem früheren Beitrag erläutert.
Während das Eis eines Sees auf der freien Fläche meist eine glatt und eben ist, können im Uferbereich ganz unterschiedliche Kristallisationsmuster zutage treten. Hier haben sich größere Kristalle (einige Zentimeter) mit unterschiedlicher Orientierung der Kristallisationsachsen gebildet, die die hexagonal geprägte Form der ins Makroskopische vergrößerten Ursprungskristalle erkennen lassen.
Obwohl beim Gefrieren des Wassers alles gesetzmäßig abläuft, findet man niemals identische Strukturen. Mögen die Anfangsbedingungen an zwei Stellen auch dieselben sein, sie sind trotzdem nie exakt gleich. Die winzigen Unterschiede beim Start wachsen bis ins Makroskopische und führen zu zwar ähnlichen aber niemals identischen Strukturen. Diese Spannung zwischen Ähnlichkeit und Identität machen einen wesentlichen Teil der Schönheit solcher Strukturen aus.
Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft 1 (2019), S. 64 – 65
Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt bewirkt ein Hin und Her zwischen Schmelzen und Gefrieren im Schnee einen erstaunlichen Reichtum an eisigen Strukturen.
Nebeneindrücke sind
wieder einmal das Bestimmende
Robert Musil (1880–1942)
In unseren Breiten sind harte Winter selten. Wenn es einmal geschneit hat, dauert es oft nicht lange bis zum nächsten Tauwetter. Es lohnt sich allerdings, die Phänomene in dem Grenzbereich zwischen Fest und Flüssig aufmerksam zu beobachten. Weiterlesen
Wie in einem früheren Beitrag dargestellt wird ein Kaltwassergeysir im Wesentlichen durch die periodische Lösung und Ausgasung von Kohlenstoffdioxyd in Wasser infolge einer subtilen Druckvariation betrieben. Dass diese im Verborgenen stattfindenden physikalischen Vorgänge zu derartig drastischen Wirkungen in der Außenwelt führen, ist das eigentlich
Beeindruckende an diesem technisch unterstützten Naturschauspiel. Darüber wird aber meist übersehen, dass nach dem Aufstieg der Wassersäule der Rückfall und die Wiederbegegnung des nunmehr weitgehend zerstäubten mit allerlei Mineralien angereicherten Wassers mit der Erde für mein Empfinden spektakuläre Spuren hinterlässt. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. Naturwissenschaften im Unterricht Physik 159/160 (2017) S. 36 – 37
Wie man bereits aus einem alten Kinderlied weiß, kommen die Schneeflocken aus den Wolken und haben einen langen Weg hinter sich. Ihre Entstehungs- bzw. Lebensspanne ist im Wesentlichen auf diesen Fall aus den Wolken beschränkt. Wer sie mit der behandschuhten Hand auffängt, kann dabei die Entdeckung machen, dass keine Flocke der anderen gleicht. Aber in ihrer Vielfalt haben alle Flocken eines gemeinsam: eine sechseckige Grundstruktur. Sehr selten findet man 3- oder 12-zählige Kristalle; aber niemals 4- oder 8-zählige. Weiterlesen
Selbst die vom letzten Jahr übriggebliebenen, vertrockneten Blätter einer Buche erstrahlen in neuem Glanz, wenn der Winter sie mit feinen Eisnadeln schmückt. Diese filigranen und gegen Berührung sehr sensiblen Kunstwerke der Natur entstehen zum einen dann, wenn die Temperatur einige Grade unter Null liegt und die Wasserdampfkonzentration sehr hoch ist (relative Feuchte über 90%). Weiterlesen
»Die Luft hat sich zu weit ausgedehnt, darum wird sie nie ein Saphir.«
Friedrich Hebbel (1813 – 1863) Weiterlesen
Immer wenn die Regentonne erneut zufriert, glänzt sie mit einem neuen Muster aus kristallisiertem Wasser. Der Zufall spielt beim Übergang vom flüssigen zum festen Zustand des Wassers offenbar eine wichtige Rolle und da das so ist, gibt es unzählige Möglichkeiten der Kristallisation. Weiterlesen
Erklärung des Rätselfotos vom Vormonat: Wellenförmige Eiskante
Kondensstreifen entstehen durch Kondensation oder Kristallisation von Wasserdampf in den Abgasen von Flugzeugen der auf diese Weise sichtbar wird. Denn an den Wassertröpfchen bzw. Eiskristallen wird das Sonnenlicht gestreut und dadurch auch in unsere Augen abgelenkt, wodurch wir die Streifen als wolkenartige Gebilde wahrnehmen. Kondensstreifen sind genau genommen nichts anderes als langgezogene Wolken und verhalten sich im negativen wie im positiven Sinne so. Weiterlesen
Wenn ich von gestrickten Eisblumen spreche, möchte ich damit drei Gedanken zum Ausdruck bringen, die beim Betrachten der Eismuster auf den Fensterscheiben kommen können (siehe Foto) . Erstens ist klar, dass es sich um Eiskristalle, also tote Materie handelt. Zweitens drängt sich die Ähnlichkeit der Muster mit Pflanzen geradezu auf. Mit ihren langen, organisch geschwungenen, Ästen und Zweigen scheinen die Eisgirlanden an der Scheibe hochzuranken. Und drittens bleibt dem genauen Beobachter nicht verborgen, dass hier auch noch etwas Künstliches, wenn nicht gar Künstlerisches im Spiel ist: Die Äste haben etwas Zopfartiges an sich und erinnern an geflochtene oder gestrickte Muster. Weiterlesen
Da der Winter bis vor wenigen Tagen zumindest in unserer Gegend ausgeblieben ist, haben sich einige Pflanzen schon ganz schön weit hervorgewagt und bereits damit begonnen, Blattknospen zu entfalten, wie hier an einem Hortensienzweig. Nun hat sie der Winter kalt erwischt. Der Eisregen, der zurzeit alles überkrustet, hat ein solches embryonales Blatt eingehüllt, sodass es nunmehr wie in transparentem Kunstharz konserviert erscheint. Es sieht schön und völlig unversehrt aus (siehe auch: Unterkühlte Schönheiten). Fraglich ist nur, ob dem Blatt diese kalte Umhüllung gut bekommen wird. Weiterlesen
Manchmal sind Weihnachtsbäume sehr unauffällig. Diese feingliedrigen „Bäume“ fand ich in einer Regentonne, die noch etwas Wasser enthielt, als der Frost einsetzte. Die Bäume verdanken sich dem Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit. Die zufälligen Bewegungen, mit denen sich die Wasser(dampf)moleküle auf den wachsenden Eiskristall zu bewegen und dort andocken, werden durch die Notwendigkeit eingeschränkt, der hexagonalen Symmetrie der Wassermoleküle Rechnung zu tragen. Weil außerdem bei der Kristallisation verhältnismäßig viel Energie frei wird, findet das Wachstum insbesondere an den extremalen Stellen statt, von denen die Energie leichter an die Umgebung abgegeben werden kann. Weiterlesen
Erklärung des Rätselfotos vom Vormonat: Kugeltropfen_hydrophil_hydrophob
Gradierwerke waren ursprünglich Anlagen, um aus salzhaltigem Wasser (Sole) Salz zu gewinnen. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim: Wolken – wie mit dem Messer geschnitten. In: Spektrum der Wissenschaften 44/7 (2013) 56 – 57
Ein Flugzeug, das durch Wolken aus unterkühlten Tröpfchen fliegt, kann eine Kettenreaktion an Kristallisationsprozessen auslösen. Es entsteht ein „hole punch“.
Es ist einfach genug: ein Problem entsteht dort, wo ein Loch ist,
im Verständnis, in der Begründung, im Erinnern.
Schwieriger indes: das Geheimnis solcher Leere zu durchdringen,
ohne den gestörten Zusammenhang erst recht zu durchlöchern.
Christiaan L. Hart Nibbrig (*1944)