Dies war vor vielen Jahren mein Lieblingscafé, am liebsten zu Zeiten, wenn Paris nicht gerade von Touristen überrannt wurde. Abgesehen davon, dass Physik überall ist, kann ich zu diesem Ort nichts Physikalisches beitragen. 😉
Der Himmel war klar, die Luft kalt und wenig bewegt. Auf dem glatten Sand, über den Sperber ging, hatte das sich zurückziehende Meer eine hauchdünne Wasserschicht hinterlassen, auf der sich das Himmelsblau und die wenigen darauf vorüberziehenden Wolken spiegelten, und wie schon einmal war Sperber, als hätte ihn jemand auf den Kopf gestellt und als liefe er zwischen weißen Wolken hindurch über den Himmel. Wie durchsichtig der Boden unter seinen Füßen war! Während Sperber so ging, öffnete sich unter ihm eine grenzenlose Weite, und er sah geradewegs in die Unendlichkeit hinein.*
Wer reflektierend über den reflektierenden Strand in dem Bereich spaziert, der weder eindeutig dem Meer noch dem Land zugerechnet werden kann, erlebt den Himmel nicht nur über, sondern auch unter sich. Mit leicht geneigtem Kopf blickt sie oder er in weiten gespiegelten Raum, ohne befürchten zu müssen abzustürzen. Wenn sich irgendwo das Gefühl der unendlichen Weite einstellt, dann hier auf der dünnen Wasserhaut, die mit jedem Atemzug des Meeres in Form von auslaufenden Wellen immer wieder erneuert wird.
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Anne Weber. Tal der Herrlichkeiten. Frankfurt 2012, S. 214
Was nie geschrieben wurde, lesen, wer möchte das nicht, wer möchte nicht in allem Wahrnehmbaren wie in einem Buch lesen? Jeder Stein, jeder Fuchs, jede Brücke wäre Buchstabe, Silbe oder Wort und es gälte, diese Elemente zu einem Satz, vielleicht zu einer Frage, zusammenzufügen. Vielleicht besaßen wir diese Fähigkeit bis zu einem gewissen Grad, und sie ist uns im Laufe der Jahrtausende abhanden gekommen.*
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* Anne Weber. Besuch bei Zerberus. Fankfurt 2004, S. 65
Zwei Spiegel einander gegenüber:
für den Kurzsichtigen bedeutet es Verwirrung,
für den Weitsichtigen Unendlichkeit.
Arthur Schnitzler[1]
Zwischen zwei parallelen einander gegenüberliegenden Spiegeln findet ein unendlicher „Austausch“ von Spiegelbildern statt: Ein Gegenstand zwischen den Spiegeln wird von beiden Spiegeln gespiegelt aber auch der gespiegelte Gegenstand wird vom jeweils gegenüberliegenden Spiegel gespiegelt und ebenso der gespiegelte gespiegelte Gegenstand und so weiter ad infinitum. Man blickt gewissermaßen in die Unendlichkeit; diese verliert sich allerdings im Grün des Spiegelglases.
„Sie erstaunten auch wirklich beim Eintritte nicht wenig über die ungeheure Gesellschaft, denn Wände und Decke bestanden daselbst aus künstlich geschliffenen Spiegeln, die ihre Gestalten auf einmal ins Unendliche vervielfältigten“. Joseph von Eichendorff (1970, 239) beschreibt hier eine wohl jedem bekannte Situation. Man gerät zwischen zwei Spiegel und blickt in einen unendlich langen Tunnel, in dem die Gegenstände und Menschen undendlich oft gespiegelt werden und man sich selbst unendlich oft gegenübersteht (Abbildung oben). Dazu braucht man heute allerdings keinen Festsaal mehr, ein verspiegelter Fahrstuhl tut es auch (Abbildung Mitte).
Denn wenn das Licht das Spiegelglas durchläuft, bevor es an der metallischen Rückseite reflektiert wird, bleibt ein winziger Bruchteil im Glas stecken. Die Glasscheibe reflektiert das Licht dann abzüglich dieses absorbierten Anteils und erhält dadurch einen geringfügigen Grünschimmer, den man aber bei normalen Scheiben nicht sehen kann. Blickt man jedoch vor die Kante eine Scheibe, so erscheint alles in ein intensives Grün getaucht: Das Licht hat einen sehr großen Glasquerschnitt durchquert und beträchtliche Anteile der Komplementärfarbe von Grün verloren (Abbildung unten links).
Beim Unendlichkeitsspiegel, der aus normal dicken Scheiben besteht, bekommt man den Grünton des Glases trotzdem zu sehen, weil das Licht diese Scheiben immer wieder durchläuft. Dadurch summieren sich nach einer hinreichend großen Zahl von Reflexionen die kurzen Strecken durch das Glas zu einer beträchtlichen Dicke auf und führen schließlich zu der in Abbildung Mitte deutlich zu erkennenden Grüntönung des Lichts.
Wie stark der Einfluss der Absorptionen auf die Farbe des Lichts ist, wurde kürzlich eingehend untersucht (Lee et al. 2004). Die Abbildung unten rechts zeigt die spektrale Intensität des Lichts nach einer (rote Kurve) und nach 50 Reflexionen (grüne Kurve). Während nach einer Reflexion noch alle Wellenlängen fast gleich stark vertreten sind, findet man nach 50 Reflexionen ein deutlich eingeschränktes Spektrum mit einem Maximum bei einer Wellenlänge von 550 nm, die dem grünen Licht entspricht. Es sind also vor allem Lichtanteile im langwelligen und kurzwelligen Bereich absorbiert worden.
Der Reiz solcher Doppelspiegel beruht vor allem auf dem Kontrast zwischen dem Wissen um die Einfachheit der Konstruktion und der sinnlich erfahrenen Komplexität des Blicks: Lediglich die mangelnde Planparallelität der Spiegel und die zunehmende Dunkelheit verhindern, dass man das Unendliche tatsächlich zu Gesicht bekommt.
Die idealerweise unbegrenzte Zahl von Spiegelbildern, die nur durch die Absorptionen im realen Spiegelglas in die endlichen Schranken verwiesen wird, ist über das Phänomen selbst hinaus eine eindrucksvolle Visualisierung dessen, wie man zumindest prozessual das Unendliche im Endlichen denken kann. Es spielt daher in der Metaphorik der Philosophie und Poesie eine wichtige Rolle. So versucht zum Beispiel Friedrich Schlegel (1964, 351) die Problematik zwischen Ich und Welt metaphorisch durch den Doppelspiegel zu fassen: „Wo der Gedanke des Ichs nicht eins ist mit dem Begriffe der Welt, kann man sagen, daß dies reine Denken des Gedankens des Ichs nur zu einem ewigen Sichselbstabspiegeln, zu einer unendlichen Reihe von Spiegelbildern führt, die immer nur dasselbe und nichts Neues enthalten“. Und Harry Mulisch (2005, 44) versucht mit Hilfe dieser Metapher das zueinander reflexive Verhalten zweier Menschen zu erfassen: „Jeder fühlte sich dem andren unterlegen, jeder war Knecht und zugleich Herr, wodurch eine Art von Unendlichkeit entstand, wie zwischen zwei Spiegeln, die sich ineinander spiegelten“.
Literatur
Joseph von Eichendorff. Werke. Bd. 2, München 1970, S. 239.
R. L. Lee et al. Am. J. Phys. 2004, 72 (1), 53.
Friedrich Schlegel. Werke. Kritische Ausgabe. München 1964.
Harry Mulisch. Die Entdeckung des Himmels. Reinbek 2005, S. 44.
Heute feiern einige Leute den Pi-Tag. Nach der amerikanischen Schreibweise lautet das Datum des heutigen Tages 3/14, die ersten drei Ziffern der Zahl Pi, mit der wir im Mathematikunterricht zu tun hatten/haben und – was wohl den wenigsten bewusst ist – für alles Runde in der Welt zuständig ist.
Ein Beispiel sind die Speiseölreste in der Pfanne (Foto), die sich nach Zugabe von Wasser zu fast perfekten Kreisen organisierten, wobei die Perfektion der Rundung mit der Zahl der Nachkommazahlen der Zahl Pi wächst.
Wisława Szymborska hat ihre Gedanken zu Pi in dem folgenden Gedicht zum Ausdruck gebracht.
Die Zahl Pi
Bewundernswert ist die Zahl Pi
drei Komma eins vier eins.
Auch alle Folgeziffern sind nur Anfang,
fünf neun zwei, weil sie nie ein Ende findet.
Sie läßt sich nicht einfangen sechsfünf dreifünf mit einem Blick
acht neun mit einer Berechnung
sieben neun mit der Phantasie,
sogar drei zwei drei acht mit einem Scherz, das heißt Vergleich
vier sechs mit irgend etwas
zwei sechs vier drei in der Welt.
Die längste Schlange der Erde reißt nach ein paar Metern ab.
Ähnlich, zwar etwas später, tun’s die Fabelschlangen.
Der Zug der Ziffern, aus denen die Zahl Pi besteht,
hält nicht am Rande des Zettels an,
er zieht sich über den Tisch hinaus, durch die Lüfte,
durch Mauern, Blätter, Vogelnester, Wolken, stracks zum Himmel,
durch alle Aufgeblasenheit und Bodenlosigkeit des Himmels.
O wie kurz, wie mauskurz ist der Kometenschweif!
Wie schwach der Strahl des Sterns, daß er sich krümmt im erstbesten Raum!
Und hier zwei dreifünfzehn dreihundert neunzehn
meine Fernsprechnummer deine Kragenweite
das Jahr eintausendneunhundertdreiundsiebzig sechster Stock
Einwohnerzahl fünfundsechzig Groschen
der Hüftumfang zwei Finger Scharade und Chiffre,
in welcher mein Nachtigallchen, flieg und sing
ebenso bitte Ruhe bewahren
oder Himmel und Erde vergehn,
nicht die Zahl Pi allerdings, oh, nein, die nicht,
sie hat noch ihre gar nicht üble fünf,
nicht beliebige acht,
nicht letzte sieben,
wenn sie, ach, wenn sie die träge Ewigkeit antreibt
zum Dauern.*
Wer weitere Facetten des Pi-Tags kennenlernen möchte, kann sich u. A. hier und hier und hier und hier und hier informieren.
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* Wisława Szymborska (1923 – 2012). In: Hundert Freuden. Frankfurt am Main, 1986.
Der verschwundene Stern
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!
Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
Und suchte, bis ich’s fand.
Und blieb denn lange stehen,
Hatt‘ große Freud in mir,
Das Sternlein anzusehen;
Und dankte Gott dafür.
Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.*
An dieses Gedicht von Matthias Claudius wurde ich erinnert, als ich seit dem 4. März, also vor gut einer Woche, vor meinem Fenster erlebte wie sich Jupiter und Venus nahekamen. Danach wurde der Vorhang zugezogen. Der Rest trug sich also zumindest von meiner Warte aus im Verborgenen zu. Jedenfalls gab es von da an keinen Tag, an dem der Himmel frei war. Heute waren die Sternlein verschwunden oder wenn man ihren Charakter als Wandelsterne (Planeten) berücksichtigt, bereits wieder so weit voneinander entfernt, dass man sie kaum noch als Paar ansehen kann. Allenfalls nur deshalb, weil sie in diesem Augenblick die einzigen waren, die sich am Firmament (sic!) sehen ließen.
Soweit die allzu menschlichen Gedanken, die einem dazu einfallen können. In Wirklichkeit hatten sie sich weder genähert, noch gab es irgendeine Unsicherheit, was hinter der Wolkendecke seitdem passierte. In voller Erfüllung der Keplerschen Gesetze haben sie sich (weitgehend) deterministisch verhalten und für jeden Moment war ihre Position rein rechnerisch präsent. Das ist für manche Menschen beruhigend. Am vertrauten Himmel gibt es – zumindest aus der Perspektiv des menschlichen Erlebens – kaum Überraschungen.
Auch wenn ich aus astronomischer Sicht das Verschwinden von Sternen nur mit Planeten, also Wandelsternen, wie man sie damals auch nannte, in Verbindung zu bringen vermag, kamen mir jedoch Zweifel, ob Claudius wirklich an reale Sterne/Planeten gedacht hat. Denn meine Recherchen erbrachten, dass Clemens von Brentano und Achim von Arnim dieses Gedicht unter dem Namen „Christiane“ in „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen hatten, um damit an Claudius‘ Tochter Christiane zu erinnern, die im Alter von 20 Jahren an Typhus starb. Das legt natürlich eine ganz andere Deutung nahe.
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* Matthias Claudius (1740 – 1815).
Er befindet sich im Dunkelsteiner Wald, tastet mit aufgestellten Lichtern die zurückweichenden und sich wieder aufbäumenden Straßenränder ab, an jeder Kreuzung auf dem brüchigen Fahrdamm rangierend, er wüßte gerne, wohin die Hinweisschilder gekommen sind und wer die wenigen vorhandenen Schilder verdreht hat und wofür das Bezahlen von Steuern gut sein soll, wenn nicht einmal auf die Beschilderung der Straßen Verlaß ist, und ob unter den neuen Herren vielleicht doch alles besser wird, breitere Straßen, hellerer Mond, bessere Orientierung.*
* Arno Geiger. Es geht uns gut. Roman. München 2005, S. 60
Weihnachten! – Welch ein prächtiges Wort! – Immer höher türmt sich der Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen; immer schwerer tauen am Morgen die gefrorenen Fensterscheiben auf! Ach, in vielen armen Wohnungen tun sie es gar nicht mehr. – Hinter den meisten Fenstern lugen erwartungsvoll Kindergesichter hervor; da und dort liegt auf der weißen Decke des Pflasters ein verlorener Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft, und bedeckte Platten Eisenblech, die vorbeigetragen werden, verbreiten einen wundervollen Duft.*
* Wilhelm Raabe. Die Chronik der Sperlingsgasse.
Die Chronik der Sperlingsgasse
Die Nordmanntanne schimmert bereits umrisshaft durch die Eisscholle hindurch, die ich aus der schmelzenden Eisschicht des bis vor kurzem zugefrorenen Teichs herausbrach. Sobald sie sich verflüssigt hat, wird der Blick frei und ein naturschönes Relikt des vorangegangenen Frosts vergangen sein. Die schöne Tanne wird bald danach ihre Nadeln abwerfen und ebenfalls vergehen.
Dazu fällt mir der Vers aus »Reuters Morgengesang« von Wilhelm Hauff (1802-1827) ein: Ach, wie bald schwindet Schönheit und Gestalt!
Eigentlich hatte ich es bei diesem Foto auf die Wassertropfen abgesehen, bis mir bei genauerem Hinsehen auffiel, dass nicht ganz klar ist, welcher Grashalm den jeweiligen anderen verdeckt, bzw. welche Sachen sich hier überschneiden, stoßen oder ausweichen… Vielleicht spricht Friedrich Schiller (1759 – 1805) ja auch eine solche Situation an, wenn er sagt: „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen;/ Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken,/ Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben;/ Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt“.* Dass sich zwei Objekte nicht gleichzeitig am selben Ort aufhalten können, hat eine tiefe physikalische Wurzel. Letztlich steckt das Pauli-Prinzip dahinter. Aber das wollt ihr jetzt bestimmt nicht weiter ausgeführt bekommen.
* Friedrich Schiller. Wallensteins Tod – 2. Aufzug, 2. Auftritt
FORM UND STOFF
Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zu viel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?*
In dieser Herr-Keuner-Geschichte bringt Bertolt Brecht auf poetische Weise zum Ausdruck, dass man durch Idealisierung der Wirklichkeit verlustig gehen kann. Das hat durchaus einige Relevanz für die Physik, denn diese ist auf Idealgestalten gegründet. Das ist ein wesentlicher Aspekt der physikalischen Sehweise und ihres Erfolgs. Aber es sollte niemals vergessen werden, dass damit nur eine von mehreren Perspektiven der Wirklichkeit angesprochen wird. Wenn man diese Idealgestalten stillschweigend voraussetzt und nicht selbst zu einem wichtigen Gegenstand des Nachdenkens über Physik macht, läuft man Gefahr, dass die Physik unverständlich bleibt und vor allem die Laien sich von der Physik abwenden oder sich ihr gar nicht erst zuwenden.
„Je tiefer man übrigens eindringt, je mehr man wegschneidet, je fester man umklammert, was man festhält- das scheinbar Reale-, desto näher findet man sich dem Unverstehbaren, dem In-bezug-auf-den-Menschen-Formlosen; dem Unähnlichen– die Wahrheit hat mit nichts Ähnlichkeit“**.
*Bertolt Brecht. Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt/Main 2004, S. 15
** Paul Valéry. Cahiers 2. Frankfurt 1988
Und ‘ne merkwürdige Ecke ist das ja: heut früh lag hinten, mitten im Waldgras – wo gestern Abend noch nichts gewesen war ! – eine Kugel von einem Fuß Durchmesser. Gelb pampig-schuppig; als Otje mit’m Stock drauf schlug, wuppte es büchsen, und stieß dann eine flache, matt-giftgründe Rundum-Staubwolke aus : „‘n Bovist ! – Jung sollen sie eßbar sein.“ Aber Otje, massiv=verächtlich : „‘Eßbar‘ bist letzten Endes auch – Du. – Falls De nich zu sehr nach Bock schmeckst.“*
An diese Passage Arno Schmidts wurde ich erinnert, als ich das schon ältere Exemplar des Staubpilzes von der Größe eines Fußballs halb unter einer Hecke verdeckt entdeckte. Mich hat vor allem die große Annäherung an die Kugelform beeindruckt, die in der Natur zwar angestrebt, aber nicht immer in dieser Deutlichkeit erreicht wird.
Die Bedeutung der Kugelform in der natürlichen und wissenschaftlich-technischen Welt liegt vor allem darin, dass die Oberfläche im Verhältnis zum Volumen minimal ist. Das spielt in zahlreichen physikalischen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Beispielsweise tendieren Wassertropfen und Seifenblasen zur Kugel, weil dabei maximal viel Oberflächenenergie an die Umgebung abgegeben werden kann. Die Abgabe von unter den gegebenen Umständen maximal viel Energie an die Umgebung (Entropiesatz bzw. 2. Hauptsatz der Thermodynamik zählt zu den wesentlichen Vorgängen in der Welt.
* Arno Schmidt. Kühe in Halbtrauer. In: Ausgewählt Werke 3. Berlin 1990, S. 49
Früher wurden die Bilder noch über den Umweg – Auge-Gehirn-Hand-Pinsel – gestaltet. Heute sind es Pixel, in ihrer Abstraktheit kaum zu überbieten. Dennoch vertrauen wir ihnen oft mehr als dem Auge von – sagen wir – Leonardo da Vinci. So habe ich die Wüste gesehen, denke ich, wenn ich den hier visualisierten Datensatz vor Augen habe (siehe Foto). Am besten man denkt nicht weiter darüber nach. Oder? Lassen wir noch kurz Ulrike Draesner zu Wort kommen, die sich darüber Gedanken macht:
Lukas stand auf einem Küchenstuhl und preßte mit aller Kraft eine Reißzwecke in die Wand. Sein Daumennagel war ganz weiß, die Fingerkuppe puterrot. Im Institut hatten sie beim Aufräumen ein Poster mit einer Erdaufnahme des Hubble Space Telescope entdeckt. Da niemand es wollte, hängte Lukas es jetzt überm Küchentisch auf.
Aloe hatte einfach getan, als interessiere sie sich plötzlich brennend für Formel I. Sein Versuch, mit ihr zu reden, war fehlgeschlagen.
Kaum nahm Lukas den Daumen von der Wand, fiel die Reißzwecke wieder heraus. Wahrscheinlich steckte ausgerechnet an dieser Stelle ein Stein. Aber er konnte nicht ausweichen, ohne die drei anderen Kartenecken, die er schon angepinnt hatte, auch wieder zu lösen. Lukas stieg vom Stuhl und betrachtete die aus Millionen von Datenbits zusammengepixelte Aufnahme. Eine geradezu mystische Verschmelzung von Präzision und Phantasie. Alle Pixel echt, alle Farben falsch. Bodenschätze, versteckte Stollen, Ölfelder, Brände und Wald. Computerrhododendren sprossen über die Ozeane, durch die Wüsten zogen sich feine schaumige Riffs weißlicher Stürme, um den Nordpol flockte eine Wolke heller Bläschen, die aussahen, als stecke in jeder ein Babyhai, der in seiner Raumfahrerkapsel durch eine gallertige Masse Nahrung trieb. Jede Farbe ein Ausbruch, ein Gefühl, vieldeutig und rätselhaft. Über Mittelamerika saß eine riesige, grünbraun gesprenkelte Schildkröte, in deren Mitte ein roter Fleck leuchtete wie ein zyklopisches Auge. Er mochte diese Mischung von Genauigkeit und Wahn. Sie erinnerte ihn an mittelalterliche Gemälde vom Rand der Welt und seinen fabelhaften Wesen; hier kehrten sie als harte >Fakten< wieder, waren aber eigentlich nichts als eine Folge von Nullen und Einsen, kein einziges Pigment zunächst, kein einziges Element – ganz irrealer Stoff.*
* Ulrike Draesner. Mitgift. München: Luchterhand 2002, S. 129f
Arno Schmidt gehört zu meinen favorisierten Autoren und das nicht nur wegen seiner großen Affinität zu den Naturwissenschaften. Ich habe schon des Öfteren Bezug auf ihn genommen (siehe hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier gebe ich auf; es sind zu viele Stellen). Was mich an Schmidt fasziniert ist vielleicht das Schmidtsche. Und was ist das Schmidtsche? Hier ist eine Antwort: Weiterlesen
Als ich diese lange Allee in einem Park entlang spazierte und im Blätterbaldachin der Laubbäume die winzigen Löcher sah durch die die Sonne hindurch stieß, kam mir der alberne Gedanke, dass Lichttropfen auf den Boden fielen und in runden Flecken auseinanderliefen.
Später las ich ein Buch von Guy Helminger, in dem ich folgenden Satz fand:
Das Licht fiel in kleinen Tropfen zwischen den Blättern hindurch und musterte den Park.*
War der Gedanke also doch nicht so albern?
Physikalisch gesehen handelt es sich um die in diesem Blog schon mehrfach angesprochenen Sonnentaler. Die winzigen Öffnungen im Blätterdach der Bäume wirken wie Lochkameras und bilden die Sonne auf dem weitgehend im Schatten liegenden Boden ab.
* Guy Helminger. Etwas fehlt immer. Erzählungen. Frankfurt 2007. S. 225
Als die Sonne aufging, schlenderte ich gemächlich über ein hügeliges goldgelbes Gefilde, dessen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten über den goldenen Boden hinstreckten. Der Himmel war so dunkelblau wie Lydias Augen, woran ich unversehens dadurch erinnert wurde; in weiter Ferne zogen sich blaue Berge hin.*
Den Dichtern gönnt man (vielleicht mit Ausnahme von Arno Schmidt) gern einige dichterische Freiheiten bei der Beschreibung naturwissenschaftlicher Phänomene. Dieser Eindruck könnte vielleicht auch in diesem Zitat von Gottfried Keller bei dem einen oder der anderen entstehen. Aber ein solcher Eindruck wäre falsch. Im Gegenteil, ich bin erstaunt wie einfühlsam und zugleich präzise Naturbeschreibungen auch an anderen Stellen in seinen Werken sind.
Der Ich-Erzähler wandelt über goldgelbes Gefilde – vermutlich Sand. Unser visuelles System ist so organisiert ist, dass es dazu tendiert, in einer gegebenen Umgebung die überwiegende Farbe als Weiß wahrzunehmen (Chromatische Adaptation). Das hat in der beschriebenen Situation nicht dazu geführt, das Gelb für Weiß anzusehen, aber vielleicht doch, dass ein etwas ausgeblichenes in Richtung Weiß gehendes Gelb gesehen wird. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Einschätzung der anderen Farben. Ihr Ton rückt ein wenig in Richtung Komplementärfarbe von Gelb und das ist Blau (chromatische Verschiebung).
In den Schattengebieten wird der wahrgenommene Blauanteil nicht nur infolge der chromatischen Verschiebung angehoben, sondern auch weil hier zusätzlich der blaue Himmel eine indirekte blaue Beleuchtung beisteuert. Allerdings wäre bei genauerer Betrachtung auch noch zu berücksichtigen in welchem Maße der gelbe Untergrund zumindest einen Teil des Blaus absorbiert (Komplementärfarbe).
Das gilt auch in den Schattengebieten, in die kein weißes Sonnenlicht gelangt, sondern nur das Licht des Himmels. Geklärt werden kann aus den Angaben des Dichters allerdings nicht, inwieweit die teilweise Komplementarität von blauem Licht und gelbem Untergrund eine Rolle spielt.
Zusätzlich kommen zum einen Lydias blaue Augen ins Spiel. Wusste oder ahnte Gottfried Keller, dass das Blau der Augen physikalisch eine ähnliche Ursache wie das Himmelblau hat? Zum anderen fehlen auch die blauen Berge nicht, die letztlich auch einen Effekt des Himmelsblaus darstellen.
* Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Werke 4. Zürich 1971, S. 65
Die Poesie der Wissenschaft liegt nicht offen zutage. Sie stammt aus tieferen Schichten. Ob die Literatur imstande ist, mit ihr auf gleicher Höhe umzugehen, ist eine offene Frage. Letzten Endes kann es der Welt gleichgültig sein, wo sich die Einbildungskraft der Spezies zeigt, solange sie nur lebendig bleibt. Was die Dichter angeht, so mögen diese Andeutungen zeigen, daß es ohne ihre Kunst nicht geht. Unsichtbar wie ein Isotop, das der Diagnose und der Zeitmessung dient, unauffällig, doch kaum verzichtbar wie ein Spurenelement, ist die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet. Weiterlesen
Ein Prall – ein Schall – dicht am Gesicht –
Verloren ist das Gleichgewicht.
So töricht ist der Mensch. – Er stutzt,
Schaut dämisch drein und ist verdutzt,
Anstatt sich erst mal solche Sachen
In aller Ruhe klarzumachen. –
Hier strotzt die Backe voller Saft;
Da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft.
Die Kraft, infolge der Erregung,
Verwandelt sich in Schwungbewegung.
Bewegung, die in schnellem Blitze
Zur Backe eilt, wird hier zu Hitze.
Die Hitze aber, durch Entzündung
Der Nerven, brennt als Schmerzempfindung
Bis in den tiefsten Seelenkern,
Und dies Gefühl hat keiner gern.
Ohrfeige heißt man diese Handlung,
Der Forscher nennt es Kraftverwandlung *
Auch wenn man heute eher von Energieumwandlung sprechen würde, ist der entscheidende Gedanke, den Wilhelm Busch hier herausarbeitet, die Umwandlung von Bewegungsenergie in Wärmeenergie – Busch spricht von Hitze. Ich habe versucht, das Experiment nachzustellen, aber nicht mit ruhender Backe und bewegte Hand, sondern mit einer 100 g schweren Stahlkugel, die ich auf eine harte Unterlage fallen lasse.
Um den Umwandlungseffekt nicht nur zu visualisieren, sondern auch berechnen zu können, lege ich auf die Stahlunterlage ein Blatt Druckerpapier. Wenn die Kugel auf die Unterlage auftrifft, wird fast alle Energie auf einmal in einer winzig kleinen Berührfläche freigegeben. Es kommt zu einem Knall und einer starken lokalen Erhitzung bzw. Temperatursteigerung. Obwohl der Knall nicht zu überhören ist und damit auch ein Teil der freigesetzten Energie als Schallenergie abgegeben wird, ist ihr Beitrag vergleichsweise gering und wird hier nicht weiter verfolgt.Durch die lokale fast augenblickliche Energieabgabe, kommt es zu einer starken Temperaturerhöhung. Das erkennt man daran, dass ein Loch im Papier entsteht. Und dieses Loch ist in den meisten Fällen sogar durch einen auf die Verbrennung zurückgehenden braunen Rand gesäumt. Hinzu kommt, dass man einen deutlichen Brandgeruch wahrnimmt und manchmal von einer kleinen Rauchfahne umweht wird.
Wer hätte gedacht, dass die Temperaturerhöhung durch die beim Stoß freiwerdende Energie die Entzündungstemperatur von Papier (ca. 360 °C) übertrifft?
Dies kann man übrigens leicht rechnerisch abschätzen. Geht man nämlich vereinfachend davon aus, dass die Bewegungsenergie beim Fall der Kugel aus 1 m Höhe vollständig in Wärme (besser: thermische Energie) verwandelt wird, so kommt man zu einer Temperaturerhöhung von ca. 600° C. Das liegt so weit über der erforderlichen Entzündungstemperatur, dass die vereinfachenden Voraussetzungen mehr als ausgeglichen werden.
* Wilhelm Busch (1832 – 1908)
Wie kaum ein anderer Dichter hat sich Bertolt Brecht (1898 – 1956) mit der Mathematik und den Naturwissenschaften auseinandergesetzt. Dabei muss man nicht nur an das „Leben des Galilei“ denken, in dem er entscheidende Ideen der neuzeitlichen Physik auf eindrucksvolle Weise auf den Punkt bringt. Es ist überliefert, dass Brecht die Entwicklungen in der modernen Physik des 20. Jahrhunderts aufmerksam verfolgte und beispielswiese 1930 einen Vortrag über Kausalität von Albert Einstein hörte und bewunderte. So blieb es nicht aus, dass Ideen der Physik insbesondere in seine Vorstellungen über das neue Theater eingeflossen sind. Beispielsweise stellte er sich New Yorker Theaterleuten im Jahr 1935 mit den Worten vor: „Ich bin der Einstein der neuen Bühnenform“.
Natürlich war Brecht nicht gefährdet, mathematisch naturwissenschaftliche Ideen auf die Probleme der Gesellschaft zu übertragen. Eher ging es ihm darum, die Diskrepanz zwischen den Kalkulierbarkeiten der Naturwissenschaften und der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar zu machen. So auch in dem Fragment gebliebenen Gedicht „Gespräch über den Alltagskampf“. Es wiurde in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben und für ein Stück über Rosa Luxemburg (1871 -1919) gedacht.
Gespräch über den Alltagskampf
Mit zwanzig hätte ich gern Mathematik studiert und Sternkunde
In den Zahlen waschen wir das Unreine
Aus Geschehen und Körpern. Selbst das Zufällige, das
Uns so quält in den Kämpfen, erscheint
In den Wahrscheinlichkeitskalkulationen
der Mathematik gebändigt. Die großen
Bewegungen der Gestirne gestatten
Gute Voraussagen. Auch da
Sind die Kugeln im Weltraum nicht völlig rund, die Kurven
Gespräch über den Alltagskampf
Nicht ganz stetig, aber beobachtet über Sternjahre
Und Weltraumentfernungen befriedigen sie
den ordnenden Geist.
Auch hättest du, Mathematik studierend und Sternkunde an statt
Politik und Wirtschaft, weniger Betrug getroffen. Die Sternbahnen
werden nicht so verheimlicht als die Wege der Kartelle. Der Mond
Klagt nicht auf Geschäftsschädigung.*
* Bertold Brecht. Gesammelte Werke 10. Gedichte 2. Frankfurt 1967, S. 966
Die physikalische Größe der Zeit ist sehr genau messbar. Sie ist nach Erkenntnissen der Relativitätstheorie aber auch vom Bewegungszustand der Objekte abhängig auf die sich die Zeitmessung bezieht. So laufen die inneren Prozesse eines physikalischen Systems bezogen auf einen Beobachter langsamer ab, wenn sich das System relativ zum Beobachter bewegt. Der Effekt wird aber erst dann so richtig offenbar, wenn die Bewegung nahezu mit Lichtgeschwindigkeit erfolgt.
Der Gedanke, dass Zeit in irgendeiner Weise von der Bewegung, bzw. der Geschwindigkeit abhängt, ist in der Literatur schon vor der Physik geäußert worden, die diesen Gedanken erst im Rahmen der Relativitätstheorie Einsteins begrifflich erfasste. Das folgende Beispiel aus einem Lustspiel, mag dies demonstrieren:
Darin äußert sich der Schulmeister, ein Protagonist aus diesem Stück, über eine bevorstehende Schlacht:
„… auch flüstert man sich aus zuverlässigen Quellen in die Ohren, daß das auseinandergelaufene Heer des Ypsilanti am 25sten künftigen Monats in einer großen Bataille gesiegt hat.
Tobies: (Nase und Maul aufsperrend): Am 25sten k ü n f t i g e n – ?
Schulmeister: Wundern Sie sich nicht, Herr Tobies! Die Kuriere gehen rasch! Verbesserte Poststraßen, verbesserte Poststraßen!
Tobies: Jesus Christus! So ’ne Poststraße, worauf der Kurier einen Monat vorausläuft, möchte ich vor meinem Tode wohl ‚mal sehen!
Schulmeister: Freilich ist so etwas hier zu Lande rar! Aber, Herr Tobies, Sie werden ja aus eigner Erfahrung bemerkt haben, daß ein gutes Pferd auf einer guten Chaussee den Weg von einer Stunde in einer halben zurücklegt; wenn Sie sich nun das Pferd immer besser und die Chaussee immer vortrefflicher denken, so muß es ja natürlich dahin kommen, daß das Pferd den Weg in einer Viertelstunde, in zehn Minuten, in einer Minute, in nichts, in gar nichts und zuletzt in noch weniger als gar nichts zurück gelegt! Begreifen Sie?
Tobies: Ich begreife, aber verstehen tu ich Sie hol mich der Teufel! Doch noch nicht.
Schulmeister: Da Sie mich schon begreifen, macht es soviel nicht aus, ob Sie mich auch verstehen.“*
Hier ist der Autor noch ein erheblichen Stück über den Wettlauf zwischen dem für seine Schnelligkeit bekannten Achilles und einer sich langsam bewegenden Schildkröte noch erheblich hinausgegangen. Die dem griechischen Philosophen Zenon von Elea (5. Jh. v. Chr.) zugeschriebene Behauptung, dass Achilles trotz seiner größeren Schnelligkeit die mit einem kleinen Vorsprung startende Schildkröte niemals einholen geschweige den überholen könne, ist gar nicht so leicht zu widerlegen. Jedenfalls, wenn man sich auf die mathematische Seite des Problems einlässt.
Christian Dietrich Grabbe. (1801-1836): Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Frankfurt 1987, S.12f
Dürfen Schriftsteller und Poeten „lügen“, indem sie Situationen beschreiben, die es so nicht geben kann? Ich maße mir nicht an, dies beurteilen zu wollen. Das müssen die Poeten unter sich ausmachen. Arno Schmidt ( 1914 – 1979) ist einer unter ihnen, der seine Kollegen immer wieder tadelt, wenn sie seiner Meinung nach in dieser Hinsicht Fehlverhalten zeigen. Dabei nimmt er ein Wort von Samuel Butler (1835 – 1902) zum Motto: „I don’t mind lying, but I hate inaccuracy!“. Diese Ungenauigkeit wirft Schmidt zum Beispiel einem seiner Lieblingsautoren vor: Weiterlesen
…vier Naturhistoriker treten mit blutrünstigen Köpfen auf; jeder hat einen Kieselstein in der Hand und sie sagen:
Da haben wir uns ganz expreß mit diesen Kieselsteinen die Köpfe zerbrochen und können doch nicht herausbringen, was der sogenannte Finger ins Licht steckende Generalsuperintendent für ein Kerl ist! O! O! O!.
Und einer von ihnen sagt:
Nicht verzagt, meine Herren! Die Wissenschaft ruft! Lassen Sie uns noch einmal probieren! Mutig! Noch einmal die Köpfe zerbrochen! …
Sie schlagen sich mit den Steinen vor die Köpfe, dass die Funken stieben, bringen nichts heraus, und entfernen sich fluchend.*
Wenn damit gegen die Naturwissenschaftler gestichelt werden sollte, so bin ich bereit, meinen Kopf hinzuhalten, so dass sich jeder davon überzeugen kann: Sie sind trotz vielfältigen Kopfzerbrechens keineswegs blutrünstig. 😉
* Christian Dietrich Grabbe (1801 – 1836). Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Frankfurt 1987, S. 100f
Vor dem historischen Osnabrücker Rathaus kann man zurzeit eine Ausstellung eines weiß gefärbten Wurzelstumpfes einer 200-jährigen Eiche sehen. Sie wird mit White Root bezeichnet und ist hier von dem Osnabrücker Künstler Volker-Johannes Trieb (*1966) platziert worden. Sie stammt von den Seelower Höhen, wo sich die letzten Kämpfe des zweiten Weltkrieg zugetragen haben. Nach der Eröffnung der Ausstellung in Osnabrück wurde im Rathaus des 50. Todestages des gebürtigen Osnabrückers Erich Marie Remarque (1898 – 1970) gedacht, der in seinem Werk u.A. die Greuel der Kriege thematisiert hat (siehe auch hier).
Als ich vorgestern das Kunstwerk besuchte, fand ich außerdem von der weißen Wurzel ausgehende Bahnen von Grablichtern vor, die jeweils mit einem beschrifteten Keramikschild versehen auf das Rathaus zulaufen. Dabei stellte ich fest, dass die Bahnen nicht parallel zueinander verlaufen, sondern geringfügig divergieren mit der Wirkung, dass von der Wurzel aus gesehen, die perspektivische Verjüngung weitgehend kompensiert wird. Allerdings verrät sie sich in der Zunahme des Zwischenraums zwischen den Lichterreihen in Richtung Rathaus (mittleres Foto).
Auf den Keramikschildern liest man:
ES GIBT IM GEHEN EIN BLEIBEN,
IM GEWINNEN EIN VERLIEREN,
IM ENDE EIN NEUANFANG.
Dieser Ausspruch kommt vermutlich aus Japan, wo er lautet:
Es gibt ein Bleiben im Gehen,
ein Gewinnen im Verlieren,
im Ende einen Neuanfang. (Quelle)
Nach dem gestrigen nahezu Sommertag ist es kaum noch vorstellbar, dass vor gut einem Monat noch Schnee und Kälte herrschten. Indem ich nunmehr feststelle, dass der Vollmond vom Palmsonntag allmählich angeknappert wird, also abnimmt, werde ich an die runde Eisscholle erinnert (siehe Foto), die ich aus der Vogeltränke herausgelöst und dann spielerisch in den Schnee gesteckt hatte, wo sie von der tiefstehenden Sonne lichterloh entflammt wurde. Mir stand sofort das Bild des Vollmonds vor Augen, der durch eine Wolkenschicht hindurchtauchte. Einiges stimmt an dieser Assoziation: das Runde, das im Sonnenlicht leuchtende, die Strukturierung der Oberfläche, das Eisige… Dass diese glasige Lichtlache* eine flache, transparente Scheibe ist und zudem kein Licht reflektiert, sondern bricht und einen Schatten hervorruft, stört dabei nur wenig. Weiterlesen
Wenn man den aus Magnetkugeln gefertigten Kreisel (unteres Foto) in sehr schnelle Rotation versetzt (oberes Foto), müsste der schließlich zerreißen, indem sich die äußeren Kugeln tangential entfernten. Die Fachtermini, die von Laien bei der Beschreibung eines solchen Vorgangs bemüht werden, sind neben Magnetismus Zentrifugalkraft.
Diese Termini tauchen auch in der Belletristik immer wieder auf, auch wenn es nicht um physikalische Sachverhalte geht. Hier ein Beispiel:
Mir war, als entwickelte sie einen zu geringen Magnetismus für die Dinge, die ihr gehörten. Es gab da keinen Sog, der die Sachen rund um ihre Person zusammenhielt, sondern eher im Gegenteil eine Zentrifugalkraft, die alles ihr bestimmte und ihr Gehörige weit von ihr wegfliegen ließ.*
Das klingt sehr ähnlich, obwohl es hier um eine Veranschaulichung des Verhaltens eines Menschen geht. Hier wird Magnetismus nicht als physikalische Eigenschaft von Objekten verstanden, sondern ganz allgemein als Anziehungskraft. Vermutlich will der Autor aber mehr sagen als das; vielleicht will er etwas mit Worten nicht Erfassbares durch etwas Geheimnisvolles zum Ausdruck bringen, das im Alltagsverständnis auch dem Magnetismus anhaftet.
Der zweite verwendete physikalische Terminus ist die Zentrifugalkraft. In der Physik handelt es sich um eine Scheinkraft, also keine wirkliche Kraft, sondern nur eine solche, die dadurch zustande kommt, dass sich die/der Beobachter* selbst bewegt. Dazu ein Beispiel: Wenn bei einer scharfen Linkskurve im PKW die Person auf dem Beifahrersitz sich gegen die Tür gedrückt fühlt, erfährt sie eine Zentrifugalkraft. Vom nicht bewegten Straßenrand betrachtet sieht die Situation ganz anders aus. Die Person tendiert lediglich dazu, aus Trägheit ihren Bewegungszustand beizubehalten, und sich weiterhin gleichförmig geradeaus zu bewegen. Aber das Auto beschleunigt nach links und durch diese Bewegungsänderung wird sie gezwungen mitzumachen – was in Bezug auf das Auto gesehen wie eine Kraft wirkt.
Auch in diesem Fall scheint es mir, als wollte der Autor diesen weitgehend ungeklärten Aspekts der Zentrifugalkraft anklingen lassen. Obwohl beide Begriffe aus einer exakten Wissenschaft stammen und eine eindeutige Definition besitzen, werden sie hier paradoxerweise gerade dazu genutzt, etwas Ungefähres, Schwebendes, nicht adäquat in Worte zu Fassendes zu beschreiben.
* Martin Mosebach,: Das Beben. Dtv: München 2007, S. 93
Der Bach fiel einmal mitten im Wald über einen Stein so, daß er aussah wie ein großer silberner Steckkamm.*
Vielleicht hat Robert Musil (1889 – 1942) einen solchen silbernen Kamm gemeint, dessen fluide Zinken im Zentrum des Fotos, zwar etwas verbogen und zittrig sind, aber immerhin gut genug für eine Pareidolie. Mit etwas Glück findet man im Vordergrund auch noch ein vierblättriges Kleeblatt, ebenfalls fluide, aber vielleicht gerade deshalb Glück bringend.
* Robert Musil. Drei Frauen. Reinbek: Rowohlt 1994, S. 20
Kinder und Hunde fürchten sich oft Rolltreppen zu benutzen. Diese Furcht und die möglichen Gedanken, die dabei entstehen können, hat Nicholson Baker (* 1967) zu beschreiben versucht. Dabei reflektiert der Protagonist Howie in dem bemerkenswerten Roman: Rolltreppe oder die Herkunft der Dinge vor allem scheinbar unwichtige Dinge und Handlungsabläufe, die den Alltag bestimmen. Mit großer Akribie und Ernsthaftigkeit malt Howie sich u. A. am Beispiel einer Rolltreppe aus, welche Gefahren sie birgt. Insbesondere die einerseits fantastischen aber andererseits mit nahezu naturwissenschaftlicher Akribie beschriebenen detailversessenen Exkurse sind m. E. ein Hochgenuss: Weiterlesen
Ich möchte einen Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und Sätze schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der Ernst beständig zur Seite steht. Denn einzig darin besteht für mich das Leben, im Fluktuieren zwischen zwei Polen, im Hin und Her zwischen den beiden Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern, daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde liegt*.
Hermann Hesse. Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. 1977; S. 107
Weißt du was ein Dreieck ist? Unentrinnbar wie ein Schicksal; da hilft kein Rütteln und Zwängeln, kein Schwindeln, es gibt nur eine einzige Figur aus den drei Teilen, die dir gegeben sind. Hoffnung, das Scheinbare unabsehbarer Möglichkeiten, was unser Herz so oft verwirrt, zerfällt wie ein Wahn vor den drei Strichen. So und nicht anders! Sagt die Geometrie.*
Die Dreiecke auf dem Teich werden von zufallsbedingen floralen Auswüchsen überformt, die aus der Sicht der Geometrie so gar nicht zu den geraden Linien passen wollen. Offenbar waren diese unabsehbaren Möglichkeiten der Eisbildung nicht erwartet worden, als zu Beginn des Zufrierens die drei Teile über die Wasseroberfläche eilten und sich zu einer geometrischen Figur vereinigten – einem Dreieck.
*Max Frisch. Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. In: Stücke. Frankfurt 1962, S. 259
Als ich kürzlich durch Kommentare angeregt mal wieder „Das Ende der Welt“ von Christoph Ransmayr hervorkramte, das ich vor etwa 10 Jahren las, stieß ich auf die folgende Stelle über den Stein. Da ich zahlreiche Steine und Versteinerungen gesammelt habe und immer wieder fasziniert von ihnen bin, möchte ich Ransmayr sprechen lassen, denn so schön könnte ich es nie ausdrücken: Weiterlesen
Die fernen Berge versinken in einem hellen Blau. Dort irgendwo muss unser Ziel sein. Wir sind den Weg noch nicht gegangen, wir wissen nicht, was uns erwartet – wir gehen ins Blaue.
Ins Blaue gehen ist mit Unvorhersehbarkeiten, aber auch bewusster Planlosigkeit und dem damit verbundenen Wunsch nach Überraschungen verbunden.
Physikalisch gesehen ist das Blau der Ferne aus zahlreichen Streuvorgängen des Sonnenlichts an den Luftmolekülen hervorgegangen. Das Licht hat Wege zurückgelegt, die nicht zurück verfolgt werden können. Die ganze Erde ist von einem Blauschimmer umgeben – wir leben auf dem blauen Planeten.
Doch was steckt hinter dem Blau? Erwartet man etwas von ihm, wenn man ins Blaue geht oder fährt? Eine Antwort findet man in Kurt Tucholskys heiter melancholischer Sommergeschichte Schloss Gripsholm: „Dann blickten wir wieder zum Himmel auf. Da war nichts. Er lag glatt, blau und halbhell. Da war nichts.“
In welches Blau blickt der Mensch auf dem Foto?
* Kurt Tucholsky. Schloss Gripsholm. Hamburg 2014, S. 56
An Erika erhebt sich kein Haar, an Erika flattert kein Ärmel, an Erika ruht kein Staubkorn sich aus. Ein eisiger Wind ist aufgetreten, und da läuft sie aufs Feld, die Eiskunstläuferin in ihre kurzen Kleidchen und den weißen Schlittschuhen. Die glatte Fläche von allen reicht von einem Horizont zum anderen und weiter! Sirren auf Eis! Die Organisatoren der Veranstaltung haben das richtige Tonband verlegt, so daß diesmal keine Musicalpotpourris ertönen, und das unbegleitete Flirren der Stahlkufen wird immer mehr zu metallisch-tödlichem Schaben, ein kurzes Aufblitzen, ein für alle unverständliches Morsezeichen am Rande der Zeit. Weiterlesen
KNELLER: Wenn es eine Wissenschaft der Linie gibt, verstehe ich dann nicht mehr davon als jeder andere?
KARL: Zugegeben, Herr Kneller. Und weiter?
KNELLER: Dieser Mann hier, wagt, im Widerspruch zu mir, zu mir! die Behauptung, daß eine richtige Linie eine gerade Linie sei und daß alles, was sich bewegt, in einer geraden Linie verläuft, es sei denn, daß irgendeine allmächtige Kraft es von seiner Bahn ablenkt. Dies, so behauptet er, sei das erste Gesetz der Bewegung. Er lügt.
KARL: Und was ist Ihre Meinung, Herr Kneller?
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Abstrakt ist man nicht. Das Sein muß sich in einer Form verfangen, eine Zeitlang in ihr erscheinen, hier oder dort, so oder so. Jedes Ding ist, solange es dauert, zu seiner Form verurteilt, dazu, so zu sein, wie es ist, nicht mehr anders sein zu können.*
* Luigi Pirandello. Einer, Keiner, Hunderttausend. Frankfurt 1969
Weiß der Teufel, was die Welt ist. Jedenfalls hat dieser sehr klare Vorstellungen darüber, wie man aus einem kurzen Dialog mit einem Herrn namens Rattengift entnehmen kann:
Teufel: Wissen sie auch, was die Welt ist?
Rattengift: Welche Frage? Die Welt ist der Inbegriff alles Existierenden, vom kleinsten Würmchen bis zu dem ungeheuersten Sonnensystem.
Teufel: So will ich Ihnen denn sagen, daß dieser Inbegriff des Alls, den Sie mit dem Namen Welt beehren, weiter nichts ist als ein mittelmäßiges Lustspiel, welches ein unbärtiger, gelbschnabeliger Engel, der in der ordentlichen, dem Menschen unbegreiflichen Welt lebt, und wenn ich nicht irre, noch in Prima sitzt, während seiner Schulferien zusammengeschmiert hat. Das Exemplar, in dem wir uns befinden, steht, glaube ich, in der Leihbibliothek zu X, und eben jetzt wird es von einer hübschen Dame gelesen, welche den Verfasser kennt und ihm heute abend, d.h. über sechs Trillionen Jahre, beim Teetische ihr Urteil darüber mitteilen will.
Rattengift: Herr, ich werde verrückt!- Ist die Welt ein Lustspiel, was ist denn die Hölle, die doch ebenfalls in der Welt ist?
Teufel: Die Hölle ist die ironische Partie des Stücks und ist dem Primaner, wie das so zu gehen pflegt, besser geraten als der Himmel, welches der bloß heitere Teil desselben sein soll.*
Wenn der gelbschnabelige Engel auch noch Donald Duck heißt, dann sind die hellseherischen Kräfte Grabbes (1801 – 1836) geradezu phänomenal. 😉
* Christian Dietrich Grabbe. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. In: Grabbes Werke. Erster Band. Berlin und Weimar 1987, S. 258f.