Der Himmel war klar, die Luft kalt und wenig bewegt. Auf dem glatten Sand, über den Sperber ging, hatte das sich zurückziehende Meer eine hauchdünne Wasserschicht hinterlassen, auf der sich das Himmelsblau und die wenigen darauf vorüberziehenden Wolken spiegelten, und wie schon einmal war Sperber, als hätte ihn jemand auf den Kopf gestellt und als liefe er zwischen weißen Wolken hindurch über den Himmel. Wie durchsichtig der Boden unter seinen Füßen war! Während Sperber so ging, öffnete sich unter ihm eine grenzenlose Weite, und er sah geradewegs in die Unendlichkeit hinein.*
Wer reflektierend über den reflektierenden Strand in dem Bereich spaziert, der weder eindeutig dem Meer noch dem Land zugerechnet werden kann, erlebt den Himmel nicht nur über, sondern auch unter sich. Mit leicht geneigtem Kopf blickt sie oder er in weiten gespiegelten Raum, ohne befürchten zu müssen abzustürzen. Wenn sich irgendwo das Gefühl der unendlichen Weite einstellt, dann hier auf der dünnen Wasserhaut, die mit jedem Atemzug des Meeres in Form von auslaufenden Wellen immer wieder erneuert wird.
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Anne Weber. Tal der Herrlichkeiten. Frankfurt 2012, S. 214
Meeresstrand
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämm’rung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.*
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* Theodor Storm (1817 – 1888)
Beim Flug über das arktische Meereis war ich beeindruckt von der Schönheit der Strukturen im Eis. Was aus dem Flugzeugfenster wie kleine blaue bis zuweilen auch schwarze Tierchen mit langem Ringelschwanz aussah (linkes Foto), waren Süßwassertümpel (rechtes Foto), die in den Sommermonaten durch das Sonnenlicht in die Eisschicht hineingeschmolzen werden. Da die Eisschollen weitgehend aus Süßwasser bestehen, enthalten diese Tümpel ebenfalls Süßwasser.
Doch die Schönheit dieser Seen ist trügerisch. Zwar gibt es diese Tümpel schon lange, aber im Zuge der Klimaerwärmung nimmt ihre Zahl zu und das ist fatal. Denn diese azurblauen bis schwarzen Seen absorbieren mehr Sonnenenergie als die wasserfreien oft schneebedeckten Flächen, die das Licht hauptsächlich reflektieren. Damit wird aber das Abschmelzen des Eises beschleunigt.
Ein wesentlicher Grund für die Zunahme der Tümpel liegt nach Untersuchungen des Alfred-Wegener-Instituts darin, dass nicht nur die Polareisflächen abnehmen, sondern die Eisschichten jünger und dünner sind. Junges Eis ist glatter als das ältere, das durch Schollenbewegungen und Zusammenstöße rau und zerklüftet ist. Und da sich das Schmelzwasser auf der glatten Oberfläche besser verteilen kann, bilden sich Netze aus vielen Tümpeln.
Ein mit dunklen Wolken bedeckter Himmel gibt am frühen Morgen den Blick auf die aufgehende Sonne frei. Aber eine Lücke tut sich für kurze Zeit auf und es kommt kurzfristig zu einer Art Lichtexplosion, die dann innerhalb von einigen Minuten ausklingt. Die Sonne verschwindet wieder hinter den Wolken und lässt mich mit schummerigem Tageslicht zurück.
Es mag unterschiedliche Motive geben, am Saum des Meeres halb im flachen Wasser halb auf dem festen Land zu gehen und in diesem Fall die Stimmung zu genießen, die durch die tiefstehende und bald untergehende Sonne, das leise Rauschen des Meeres, den Kontakt der nackten Füße mit den Elementen und durch die frischen Gedanken… bei der einen oder dem anderen hervorgerufen wird.
Wir gehen auf der Grenze zwischen Wasser und festem Land, wir sind Grenzgänger – hier sogar im wörtlichen Sinn.
Ich will das hier nicht weiter vertiefen aber vielleicht mit einem Wort Georg Christoph Lichtenbergs (1742 – 1799) ein wenig herausfordern: Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.
Kaum zu glauben, dass ich vor zwei Wochen noch diesen Anblick genießen durfte. Inzwischen gewinne ich den Farben unserer Herbsten ähnlich positive Gefühle ab….
Substanz; die göttliche Salzigkeit trinken und ausatmen, dieses Spiel gleicht für mich der Liebe, die Tätigkeit, bei der mein Körper sich ganz in Zeichen und Kräfte verwandelt, wie eine Hand sich öffnet und schließt, spricht und handelt. Hier gibt sich der ganze Körper der Wassermasse hin, holt sich zurück, begreift sich, verausgabt sich und will sein Möglichkeiten erschöpfen. Sie rührt er auf, sie will er fassen, umarmen, er überbordet an Leben und liebt sie in seiner freien Beweglichkeit, sie besitzt er, mit ihr erzeugt er tausend seltsame Gedanken. Durch sie bin ich der Mann, der ich sein will. Mein Körper wird das unmittelbare Werkzeug des Geistes und dabei der Urheber aller seiner Gedanken. Alles erhellt sich mir. Ich verstehe bis ins letzte, was Liebe sein könnte. Übermaß an Wirklichem! Die Liebkosungen sind Erkenntnis. Die Gebärden des Liebenden wären die Vorbilder für Werke.
Also schwimme! wirf dich kopfüber in diese Welle, die zu dir rollt, mit dir, sich bricht und dich trägt!
Paul Valéry. Werke in sieben Bänden. Frankfurt 1991, S. 253f
Vor einigen Tagen sah ich eine etruskische Vase. Nein, ich war nicht im Museum, sondern am Strand und wartete auf den Sonnenaufgang. Meistens erlebe ich, dass sie Sonne sich irgendwie aus einer mehr oder weniger definierten Dunstschicht herausquält. Diesmal tauchte sie sauber hinter der Horizontlinie auf, zunächst als schmaler roter Bogen, der sich dann aber sehr schnell zu einem fast perfekten Kreis rundete. Ja, nur fast perfekt. Es zeigten sich einige Randunschärfen und die sollten sich dann auch noch in besonderer Weise verstärken: Die Sonne löste sich nicht sofort vom Horizont, sondern blieb kurzfristig an ihm kleben und gab für einen Moment das Bild einer etruskischen Vase ab (siehe Foto). Wer weiß schon genau, wie eine etruskische Vase aussieht. Aber einer derjenigen, die dieses Phänomen als erste erklärt haben, muss sich an eine solche Vase erinnert gefühlt haben. Und diese Namensgebung hat sich gehalten. Daneben gibt es weitere Bezeichnungen, z.B. Omega-Sonne, wegen der Ähnlichkeit mit dem griechischen Buchstaben Omega: Ω.
Was steckt hinter dieser scheinbaren Verzerrung der Sonnenscheibe? Die Strahlen der Sonne durchqueren kurz bevor diese vollständig über dem Horizont zu sehen ist, eine Grenzschicht zwischen kälterer und wärmerer Luft. Dadurch erfahren sie eine ähnliche Ablenkung wie beispielsweise ein Auto auf einer heißen Asphaltstraße (Luftspiegelung), sodass der untere Teil des Fahrzeugs noch einmal teilweise gespiegelt darunter zu sehen ist. Neben dieser noch teilweise ordentlichen Variante einer unteren Luftspiegelung gibt es je nach der Luftschichtung zum Horizont hin weitere Versionen von Spiegelungen bis hin zu solchen, die die Sonne als extremes Zerrbild erscheinen lassen.
In den letzten Tagen war ich noch vor der Sonne aufgestanden. Und da ich mich am Meer befand, ließ ich mir das Erlebnis der gegenseitigen Begrüßung nicht nehmen. Zugegeben, das ist im Winterhalbjahr leichter als im Sommerhalbjahr, aber der Weg zum Meer war auch noch einzurechnen.
Meistens brauchte die Sonne noch eine Strecke, um durch eine diffuse Horizontbewölkung hindurchzukommen. Je nach deren Dichte gab es dann einige Vorgeplänkel partieller Sichtbarkeit der Sonnenscheibe, bis sie dann mit praller Strahlkraft durchbrach und mich zwang, die Augen zu senken.
Dass die Sonne sich aus der Dunstschicht erhebt, ist auch an ihrer uneinheitlichen Färbung zu erkennen. Im unteren Bereich wird noch so viel Licht von der mit der Höhe sich verflüchtigenden (Warum?) Dunstschicht absorbiert, dass die Lichtintensität unseren Augen noch nichts anhaben kann. Es sind vor allem die langwelligen Anteile Rot und Gelb zu erkennen, die vom weißen Sonnenlicht nach der langen Passage schräg durch die Atmosphäre übrig bleiben. Im oberen Bereich der Sonnenscheibe ist bereits das gleißende Weiß des Sonnenlichts zu sehen ist, das kurze Zeit später die ganze Sonnenscheibe erfüllt.
Wenn man den Sonnenaufgang bewusst auf sich wirken lässt, wird man erstaunt sein, wie schnell die Sonne sich erhebt. Es dauert nur etwas mehr als 2 Minuten bis die Sonne ihren eigenen Durchmesser durchlaufen hat. Dieser Eindruck von Schnelligkeit entsteht vor allem deshalb, weil man den Horizont als Bezugslinie im Blick hat, von dem sich die Sonne entfernt.
In unserer Nähe gibt es einen verlassenen Steinbruch. Jedenfalls sieht man hier an Stellen, die noch nicht wieder der Vegetation anheimgefallen sind, interessante Gesteinsformationen, die Einblicke in eine Zeit vermitteln als hier noch Meeresboden war. Dieser ist infolge erdgeschichtlicher Umwälzungen zu Stein geworden und fällt schon dadurch besonders auf, dass er nicht mehr eben sondern ziemlich windschief liegt. Schaut man sich die freien Flächen genauer an, so entdeckt man dünne Sedimentschichten, die nur locker miteinander verbunden sind. Man kann sie teilweise mit einem stabilen Messer abheben. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Ausschnitt des Meeresbodens in Strandnähe, an dem man sogar noch die durch die Wasserwellen erzeugten ehemaligen Rippel erkennen kann. Sie sind den an den heutigen Meeresküsten anzutreffenden Strukturen ganz ähnlich.
Phänomenologisch verschiedene Bereiche der Natur werden oft in äußerst kreativer Weise durch eine auffällige Markierung berandet. So sind Blätter von Bäumen im Sommer oft von gleißend hellen Linien der Lichtstreuung umgeben, während sie im Winter eher von Reifkristallen eingerahmt erscheinen und berandete Wolken und berandete nasse Blätter, berandete Dünen in der Sandwüste…
Ein weiteres meist von einer höheren Warte aus zu beobachtendes Phänomen sind die hellen Ränder an den Meeresküsten (Foto). Es handelt sich um das weiß schäumende Wasser der brandenden Wellen und man fragt sich vielleicht, warum sie unabhängig vom jeweiligen Küstenverlauf stets senkrecht einlaufen.
Die je nach der Windrichtung, den Meeresströmungen und anderen Einflüssen aus einer bestimmten Richtung gegen die Ufer anlaufenden Wellen werden in dem Maße wie ihre Höhe die Größenordnung der abnehmenden Wassertiefe erreicht im unteren Bereich durch Reibung mit dem Boden gebremst. Weil die Seite der schräg einlaufenden Wellen, die zuerst Bodenkontakt erfährt zuerst gebremst und verlangsamt wird und sich dieser Prozess über die ganze Länge der Front fortsetzt, kommt es zu einem Einschwenken der Welle bis sie nahezu senkrecht zum jeweiligen Uferabschnitt weiterläuft. Dabei wird sie im unteren Bereich so stark gebremst, dass sie aus Trägheit im oberen Bereich weiterlaufend sich überschlägt und weißschäumend und tosend ihre Bewegungsenergie verbraucht, d.h. durch Wärme an die Umgebung abgibt.
Da der Schaum des brandenden Wassers aus zahlreichen Luftbläschen besteht, an denen das Licht in alle Richtungen vor allem durch Totalreflexion gestreut wird, erscheint es uns weiß.
Grüß‘ mir das Meer,
Silberne Wellen
Rauschen und schwellen,
Schön ist das Meer!
Grüß‘ mir das Meer,
Golden es schäumt‘,
Ob es auch träumet?
Tief ist das Meer.
Grüß‘ mir das Meer,
Glücklich es scheinet
Ströme es weinet,
Groß ist das Meer*
*Friederike Kempner (1836-1901)
Weißt du, was schön ist, hier? Schau: wir gehen und lassen alle diese Abdrücke im Sand zurück, und sie bleiben bestehen, ganz deutlich und ordentlich. Aber wenn du morgen aufstehst, wirst du auf diesen großen Strand schauen, und nichts wird mehr da sein, kein Abdruck, kein anderes Zeichen, gar nichts. Das Meer löscht alles aus in der Nacht. Die Flut versteckt alles. Als wäre nie jemand hier entlanggegangen. Als hätten wir nie existiert. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem du meinen könntest, du seiest nichts, dann ist es dieser Ort hier. Nicht mehr Land, noch nicht ganz Meer. Kein unechtes leben, kein echtes Leben. Es ist die Zeit. Zeit, die vergeht. Weiter nichts.* Weiterlesen
So hantierten wir im Stickstoff mit anaeroben Gebärden (eben machte Einer aus Armen ein schönes langes Beteuerungszeichen), wir, am Grunde unseres Luftteiches, und die Bäume schwankten wasserpflanzen. Mein linker Schuh betrachte mich kühl aus seinen Lochreihen.
Arno Schmidt (1914 – 1979): Das Steinerne Herz 1990. Weiterlesen
„Wo der Verlust von Realität und Realismus zu beklagen sein soll, ist der Boden unter den Füßen die geläufigste Metapher; wenn das Verlassen der Lebenswelt beschrieben werden soll, wird er zur Metapher der unauffälligen Zuverlässigkeiten, aus denen das Syndrom der Lebensweltlichkeit besteht, die zu thematisieren einer der spätesten Einfälle der Philosophie sein wird…
Sie verlieren auf der hohen See der geistigen Produktivität, wo dem Menschen die Idee der Unendlichkeit gegenwärtig ist,…jene Erdschollen aus dem Gesichte, auf denen sonst der Mensch festen Fuß faßt und seine kleinliche Philisterwelt aufbaut“ (Hans Blumenberg (1920 – 1996)).
„Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe“, sagt Georg Christoph Lichtenberg (1732 – 1799). Dieser Satz fällt mir beim Blick auf die fluchtenden Grenzlinien ein, als ich von einer Sanddüne aus die Menschen am Saum des Meeres entlanggehen sehe und offenbar mehr oder weniger bewusst das Auf-der-Grenze-Spazieren“ genießen. Was von hier oben als gerade Linie aussieht ist, aus der unmittelbaren Nähe betrachtet ein rhythmisches Spiel der auf den Sandstrand auslaufenden Meereswellen, die von den Menschen je nach „Temperament“ entweder gerade gemieden werden oder deren Wechselbad man gerade genießen möchte. Weiterlesen
Der Weg ist das Ziel. Von einem neunstündigen Nonstopflug kann man sich das aber nur schwer vorstellen. Und dennoch war der Flug von Frankfurt von Anchorage (Alaska) für mich ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Ich hatte mir vorher nicht überlegt, wie man nach Anchorage kommt und war davon ausgegangen, dass man wohl in Richtung Nordwesten über die USA und Kanada fliegen müsste. Stattdessen flogen wir fast genau nach Norden: Dänemark, Norwegen und dann über das Nordpolarmeer mit seinen riesigen Packeisfeldern. Wir schrammten südlich am Nordpol vorbei und weiter ging es über das Eismeer bis wir schließlich Alaska erreichten. Das Flugzeug flog auf der kürzesten Verbindung zwischen Frankfurt und Anchorage und das ist ein Großkreis auf der Erdkugel. Spannt man auf einem Globus einen Faden straff zwischen den beiden Orten, so wird er automatisch diese Verbindung einnehmen. Jede Abweichung davon wäre nur mit einem längeren Faden darstellbar. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 41/6 (2010), S.33
Der Horizont ist dort, wo sich die von einem Schiff hinterlassene Bläschenspur im Unendlichen verliert? Von wegen.
http://www.spektrum.de/alias/schlichting/nur-kurz-ist-der-blick-in-die-ferne/1030797