Diese Nacktschnecke bewegte sich langsam auf ihrem Schleimpfad über die Straße. Es war windig und der Samenflaum der nahegelegenen Pappel erfüllte die Luft. Und da blieb es dann nicht aus, dass auch die Schnecke getroffen wurde. Durch die extreme Klebrigkeit der Schneckenhaut, blieben einige weiße Büschel haften, die der Schnecke offenbar nichts ausmachten. Jedenfalls rutschte sie auf ihrem Pfad weiter, als ob nichts gewesen wäre. Es waren nicht genug Samenflaume, um die nackte Schnecke zu einer weiß gekleideten Schnecke zu machen.
Ich kann mir denken, dass nur die Wenigsten darauf kommen, um welche Pflanze es sich hier handelt. Und wenn ich sage: „Rhabarber“, dann rechne ich mit Zustimmung, aber nur weil „Rhabarber“ nicht nur für eine Pflanze steht, sondern auch für „unsinniges Zeug“. Aber diese winzigen Herzchen – deren Größe man anhand der im Samenstand herumturnenden Ameisen abschätzen kann (ca. 6 – 8 mm) – haben mit Rhabarber sehr viel zu tun. Sie sind die Samen einer leibhaftigen Rhabarberblüte. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere an den kürzliche erschienenen Beitrag „Wenn der weiße Rhabarber wieder blüht“. Dieser Rhabarber ist nun verblüht und versprüht seine unzähligen ebenfalls naturschönen Samen. Der Rhabarber hat es also ganz schön in sich nicht nur im Hinblick auf sein Sauersein (von sauer gibt es offenbar kein passendes Nomen).
Pfingstrose
Verhaucht sein stärkstes Düften
Hat rings der bunte Flor,
Und leiser in den Lüften
Erschallt der Vögel Chor.
Des Frühlings reichstes Prangen
Fast ist es schon verblüht –
Die zeitig aufgegangen,
Die Rosen sind verblüht.
Doch leuchtend will entfalten
Päonie ihre Pracht,
Von hehren Pfingstgewalten
Im tiefsten angefacht.
Gleich einer späten Liebe,
Die lang in sich geruht,
Bricht sie mit mächtgem Triebe
Jetzt aus in Purpurglut.*
Die Pfingstrose – hier im typischen Kugelstadium – ist ein Verpackungskünstler. Jedenfalls erlaubt sie, die Entfaltung schrittweise nachzuvollziehen, wenn sie in den nächsten Tagen ihr Purpur zum Glühen bringt. Der Entfaltungsvorgang wie er in Blüten und Blättern stattfindet ist m.E. eine Art Naturorigami, das mich immer wieder begeistert. Siehe frühere Beiträge, z.B. hier und hier und hier und hier und hier und hier.
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* Ferdinand von Saar (1833 – 1906). Saar gehört neben Marie von Ebner-Eschenbach zu den bedeutendsten realistischen Erzählern der österreichischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Seine Werke zeichnen sich durch humanistisches Ethos und Sozialkritik aus.
Als ich mich ein wenig in die Naturschönheit einer blauen Iris versenkte erblickte ich plötzlich ein Fabeltier, das mich ein wenig an einen blauen Pfau mit offenem Schnabel und geschlossenem Auge erinnert. Ich habe die Blume fotografiert und zeige hier den Ausschnitt, der mir ins Auge gestochen war. Schaut selbst, seht ihr nicht auch das blaue Tierchen?
Dass der Rhabarber auch mal blühen könnte, ist mir in den Jahren, in denen er in unserem Garten wächst und uns mit den sauren Stangen versorgt, nicht wirklich aufgegangen. Erst als er es dann wirklich tat, wie in diesem Jahr, war ich über den gesamten Vorgang doch einigermaßen erstaunt. Die Pflanze bildete nämlich nicht nur Blätter, sondern einen steil aufwärts strebenden Trieb aus, der im Moment vermutlich seine größte Höhe von etwa 150 cm erreicht hat. Dabei habe ich ihn in Unwissenheit über den Vorgang auch wohl noch massiv gestört, weil ich die Blätter wie üblich abgeerntet hatte. Ich vermute, dass der Pflanze dadurch einiges an Energie entgangen sein muss, die sie für die Bildung der Blüte zusätzlich hätte verwerten können. Ich frage mich, wie groß sie dann wohl geworden wäre.
Apropos Rhabarberblatt. Bei Arno Schmidt (1914 – 1979) liest man:
„Ä – Felix-Oswald,“ hob Frau Ruth auch gleich an: „Gib ma-ma ! Von den hartgekochten Eiern – „; wickelte auch eine Brotscheibe aus dem Rhabarberblatt, in welches man sie (mein Rat!) zum Frischblieben ländlich geschlagen hatte; uralte Sitte. Aber <Eier das sauberste Essen>?: „Ich hab schon ma 1gehabt, da war ein wirggel-lebendijer Ohrwurm drin! – Und wenn ich nicht irre, berichtet eine <Bremische Naturforschende Gesellschaft> noch ganz andere Sachen: Neenee!“.
Überhaupt schien die Luft voller Fehlleistungen.*
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* Arno Schmidt. Kühe in Halbtrauer. In: Ausgewählte Werke 3. Berlin; 1990. S. 74
Der Hibiskus stammt ursprünglich aus den Tropen und ist heute auch in den gemäßigten Klimazonen anzutreffen, wo ich ihn nicht nur in seinen roten, sondern auch seinen ebenso schönen gelben Blüten in freier Natur antraf.
Als Topfpflanze kennen wir dieses Malvengewächs inzwischen auch in den eigenen vier Wänden. Er fasziniert nicht nur durch seine auffallend leuchtenden Farben seiner großen Blüten. Erstaunlich ist auch sein Verhalten, seine Blüten nachts zu schließen und tagsüber wieder zu öffnen. Damit kommt er dem menschlichen Verhalten ziemlich nahe. Diese schließen nachts die Augen und viele von ihnen öffnen sie tagsüber auch wieder. Allerdings ist die Motivation für diesen Wechsel eine andere. Durch das Schließen soll die Blüte vor der nächtlichen Kälte geschützt werden (siehe auch den früheren Beitrag).
Hier entwickelt – oder sollte man lieber sagen – entrollt sich ein pflanzliches Blatt, das später zu einem großen Farnblatt wird, das seine Fläche zur Sonne hin ausrichtet. Schaut man sich den pflanzlichen Ring genauer an, so entdeckt man im Innern bereits andeutungsweise die Verzweigungen einzelner Farnblätter, die zu diesem selbstähnlich sind. Selbstähnliche Strukturen sind solche, bei denen Ausschnitte wie das Ganze aussehen.
Mit einem vielzitierten Spruch von Wilhelm Busch, kann man nur sagen: So blickt man klar, wie selten nur, Ins innre Walten der Natur.
Vielleicht wird um die Suche nach der Blauen Blume (spätestens seit Eichendorff) zu viel Gedöns gemacht. Vielleicht hat so manch einer sie in der Hand gehabt und es nicht bemerkt. Ich denke, dass man bei der Suche etwas beherzter zur Sache gehen und wo nötig selbst Hand anlegen sollte. Es ist zwar dann nicht DIE blaue Blume aber immerhin Eine erreichbare blaue Blume.
Moostee
Sechzehn Jahr’ – und wie ein greiser
Alter sitz ich, matt und krank;
Sieh, da senden mir der Geiser
Und der Hekla diesen Trank.
Auf der Insel, die von Schlacken
Harter Lava und von Eise
Starrt, und den beschneiten Nacken
Zeigt des arkt’schen Poles Kreise;
Über unterird’schen Feuern,
In nordlichterhellten Nächten,
Bei den Glut- und Wasserspeiern
Wuchsen diese bittern Flechten.
Aus den dampfumrollten Kegeln,
Aus der Berge schwarzem Tiegel,
Gleich blutroten Sagenvögeln –
Flammenzungen ihre Flügel –
Sahn sie feurig auf zum schwarzen
Himmel mächt’ge Steine sprühen,
Und ein Meer von heißen Harzen
Durch das Schneegefilde ziehen.
Von den Jökuln zu den Fjorden
Durch das dän’sche Inselland,
Breit, ein riesiger Dan’brogorden,
Schlängelt sich das Flammenband.
Wolken, Rauch und Asche wallen,
Und am Strand die Robben winseln,
Und die roten Steine fallen
Nieder auf entfernten Inseln;
Die zerrißnen Berge zittern,
Und das Eismeer schäumt und braut –
Dorten wuchsen diese bittern
Flechten, wuchs dies herbe Kraut. –
Daß die kranke Brust gesunde,
Und sich freue neuer Kraft,
Biet ich träumerisch dem Munde
Ihren dunkelgrünen Saft.
Feuer zuckt durch meine Nerven,
Vor mir liegt das wüste Land;
Die weitoffnen Krater werfen
Himmelan den flüss’gen Brand.
Kühner fühl ich mich und stärker
Bei dem Lodern dieser Glut,
Und die Wildheit der Berserker
Tobt durch mein genesend Blut.
Lavaschein und Nordlicht röten
Mein Gesicht; die Pulse schlagen
Schneller; Edda, laß mich treten
Vor die Helden deiner Sagen!
Ha! wenn dieser Insel Pflanzen
Mir den Lebensbecher reichen,
Mög’ ich dann in meinem ganzen
Leben dieser Insel gleichen!
Feuer lodre, Feuer zucke
Durch mich hin mit wildem Kochen;
Selbst der Schnee, in dessen Schmucke
Einst mein Haupt prangt, sei durchbrochen
Von der Flamme, die von innen
Mich verzehrt: wie rot und heiß
Hekla Steine von den Zinnen
Wirft nach der Faaröer Eis:
So aus meinem Haupt, ihr Kerzen
Wilder Lieder, sprühn und wallen
Sollt ihr, und in fernen Herzen
Siedend, zischend niederfallen!*
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* Ferdinand Freiligrath (1810 – 1876)
Schwerlilienblätter haben eigentlich eine grüne Farbe. Hier schwanken sie zwischen Grün und Blau. Schuld daran ist der Frost. Das Sonnenlicht fällt ein wenig schräg von hinten ein. Die senkrecht zum einfallenden Sonnenlicht orientierten Blätter, zeigen in Durchsicht die typische grüne Blattfarbe. Die weitgehend im Schatten liegenden Teile der Blätter zeigen in diesem Fall ein teilweise intensives Blau. Dafür sind die Eiskristalle verantwortlich, die die Blätter zum großen Teil bedecken. Weil kein durchscheinendes Grün auftritt, kann nur das Himmelblau reflektiert werden, was an diesem sonnigen Wintermorgen durch Reflexionen an den Eiskristallen deutlich verstärkt wird. Auf diese Weise entsteht ein sehr ungewohnter – man könnte fast sagen – künstlicher Eindruck.
Die Platane trennt sich von Zeit zu Zeit von ihrer für das weitere Wohlergehen problematisch gewordenen Borke. So einfach wie die Platane kommen wir Menschen offenbar nicht aus unserer Haut.
Nichts erscheint in solchem Maße vegetabilisch; nicht einmal, wo sie doch die Durchpausung wirklicher Pflanzen verewigen, die Spuren des Farns in der Steinkohle, der Meerlilie im Schiefer. Und trotzdem sind die Dendriten nie lebendig gewesen. Niemals bewässerte auch nur ein Tröpfchen ihre verzweigten Spitzengewebe, niemals schwärmten Samen aus geheimen Quersäcken in ihnen hoch, um sie ringsum zu vermehren. Ihr zartes Laubwerk wurde von einer blinden Kristallisation toter Stoffe, metallischer Oxyde in den Stein eingeschrieben. Doch ihre Büschel, ihr Gezweig erblühen so wunderbar, daß sich der Uneingeweihte mit Sicherheit darüber täuscht. Nur mit Mühe kann man ihn über seinen Irrtum aufklären.
Vorspiegelung sicherlich diese Salze, die das Pflanzlich so vollkommen simulieren, wobei sie allesamt dem Leben und dem Verderben enthoben sind. Trotzdem kann ich mich nicht der Überzeugung erwehren, daß diese falschen Farne, die mit der Pflanze nur das Aussehen gemeinsam haben und einer Welt angehören, die mit der ihrigen unvereinbar ist, auf ihre Weise den Geist belehren, daß es weit umfassendere Gesetzmäßigkeiten gibt, die gleichzeitig das Unbelebte wie das Belebte regieren. *
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Caillois, Roger: Steine. München: Hanser 1983, S. 30f.
Es ist wieder einmal (auch in unseren Breiten) soweit: die Zaubernuss blüht. Besonders eindrucksvoll macht sich ihr kräftiges Gelb in einer von Schnee aufgehellten Umgebung bemerkbar.
Die Zaubernuss ist eine Heilpflanze. Ich weiß nicht wofür oder wogegen. Mir ist ihr Anblick Heilung genug.
Wenn man diesen Ausschnitt aus einem natürlichen Gegenstand sieht, wird man wohl nur mit Mühe erkennen, dass es sich um Baumwurzeln handelt, die auf einem Wanderweg an die Oberfläche getreten und im Laufe der Zeit von den Tritten vieler Wanderer ihrer Borke verlustig gegangen sind und glatt getreten wurden. Ich habe oft das Gefühl, dass etwas auf dem Boden (z.B. Sonnentaler, zugefrorene Wasserpfützen, Blumenfelder…) so schön ist, dass ich nicht darauf zu treten wage. Wir haben es hier jedoch mit der paradoxen Situation zu tun, dass wenn wir diesen Vorsatz befolgt hätten, die Struktur gar nicht entstanden wäre. Dann hätten wir allerdings diesen Vorsatz auch gar nicht befolgen können… Wie komme ich aus diesem Zirkel wieder heraus? Indem ich diese Trittfiguren weiter trete und dazu beitrage, dass sich die Strukturen im Laufe der Zeit weiter wandeln.
Nachdem ich vor wenigen Jahren zum ersten Mal Haareis in freier Natur gesehen habe – aus Abbildungen kannte ich es bereits – entdecke ich es immer häufiger. Ich weiß inzwischen, dass dies ein typisches Zeichen für die Wahrnehmungsaufmerksamkeit ist: Man sieht nur was man kennt. So auch vor ein paar Tagen. Kaum sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt, taucht das weiße Haar im Untergehölz des nahe liegenden Buchenwaldes auf. Die Bedingungen waren allerdings auch ideal, denn einerseits hatte die vorangegangene Regenzeit alles schön durchfeuchtet und andererseits fiel auch die Temperatur nicht allzu weit unter den Gefrierpunkt. Diesmal sah ich das wie Zuckerwatte anmutende Naturprodukt sogar in einem höher gelegenen abgestorbenen Ast einer Buche. Vor kurzem gab ich eine physikalische Erklärung für dieses – offenbar gar nicht mehr so seltene – Naturphänomen..
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaften
Allein was hilft es dir,
zu spalten Haar um Haar?
Friedrich Rückert (1788–1866)
Im Inneren von nassem Totholz treiben Stoffwechselvorgänge eines Pilzes Feuchtigkeit durch dünne Kanäle nach außen. Bei moderaten Minusgraden gefriert das austretende Wasser dabei zu einem seltenen Anblick: zuckerwatteähnlichem Haareis.
Wasser gefriert in freier Natur in den verschiedensten Formen. Der Strukturreichtum reicht von Schneeflocken über zahlreiche Reif- und Raureifphänomene bis zum Haareis. Diese filigrane Erscheinung gefrorenen Wassers findet man selten. Zum einen ist Haareis lediglich in weitgehend naturbelassenen Waldgebieten anzutreffen, und zwar am Holz bestimmter Laubbäume (vor allem Buchen und Eichen), das nicht abgeräumt wird, sondern ungestört vermodert. Zum anderen muss seinem Auftreten eine feuchte Wetterperiode vorangegangen sein, und die Temperaturen dürfen nur ein wenig unterhalb des Gefrierpunkts liegen.
Das Haareis umsäumt verrottende Holzstücke mit auffälligen, weiß leuchtenden, watteähnlichen Strukturen. Bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass die vermeintliche Watte aus vielen sehr dünnen (zirka 0,02 Millimeter) aber langen (bis zu 20 Zentimeter) Eisfäden besteht. Die oft seidenartig schimmernden Fasern treten typischerweise in Büscheln auf. Sie wachsen dicht gedrängt senkrecht zur Oberfläche des Holzstücks aus diesem heraus. Trotzdem verschmelzen die einzelnen Stränge nicht miteinander.
Vor allem letztere Eigenschaft ist sehr erstaunlich. Denn getrennte Eisteile, die sich aber teilweise berühren, neigen dazu, zusammenzufrieren, insbesondere bei Temperaturen in der Nähe des Schmelzpunkts. Die Ausbildung einer gemeinsamen Oberfläche verkleinert die Oberflächenenergie. Warum es bei Haareis anders ist, bleibt vorerst ein Teil seines Geheimnisses, obwohl das Phänomen seit langem bekannt und insbesondere in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich näher untersucht worden ist. Vermutlich spielen hier organische Stoffe eine Rolle, die als schützende Beschichtung wirken.
Schaut man sich die Holzstücke genauer an, so entdeckt man, dass jedes Haar einzeln aus einer winzigen Öffnung im Material heraussprießt. Man gewinnt den Eindruck, ähnlich wie bei der Herstellung von Spagetti würde eine flüssige Substanz durch Düsen gedrückt werden und an der Luft sofort verhärten. Diese Vorstellung ist nicht ganz abwegig, denn laut entsprechender Forschungsarbeiten handelt es sich bei den Löchern in den Holzstücken um die Austrittsöffnungen so genannter Holzstrahlen. Das sind winzige Kanäle, die das Leitgewebe radial von der Mitte bis zur Borke durchziehen und im lebenden Baum dem Transport von Wasser und Nährstoffen dienen. Die einzelnen Eishaare sind an den Mündungen der Holzstrahlen verwurzelt und haben den gleichen Durchmesser wie diese. Außerdem sprießt das Eis stets aus den von der Borke befreiten Abschnitten des Totholzes. Manchmal quillt es sogar aus den Bruchstellen zwischen teilweise gelösten Rindenteilen.
Lange Zeit war unbekannt, wie es im Einzelnen zum frostigen Aufleben der abgestorbenen Holzstücke kommt. Dabei hatte bereits 1918 der später für seine Hypothese der Kontinentaldrift berühmt gewordene Alfred Wegener (1880–1930) wesentliche Erkenntnisse gewonnen. Er hielt das Haareis zunächst selbst für einen der Pilze, die abgestorbenes Holz befallen. Nachdem er erkannte, dass es sich um Eis handelt, vermutete er, Baumpilze seien immerhin maßgeblich an der Entstehung des Haareises beteiligt.
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben den Zusammenhang mit Pilzen nachgewiesen. Wenn man nämlich vom Eis befreite Holzstücke, die sich unter den passenden meteorologischen Bedingungen anschließend erneut in die kristalline Wolle kleiden, mit Hitze, Alkohol oder Fungiziden behandelt, bleibt der Effekt aus. Außerdem ist geschmolzenes Haareis leicht bräunlich gefärbt, was auf organische Rückstände hinweist. Alle behaarten Äste waren mit einer für Laubbäume typischen Pilzart befallen, der Rosagetönten Gallertkruste (Exediopsis effusa).
Doch welche konkrete Rolle spielt der Pilz bei der Bildung des Haareises? Bei anderen winterlichen Phänomenen wie den nadelartigen Eiskristallen an Pflanzen und anderen Objekten sind zwei Dinge verantwortlich: entweder die Resublimation (Gefrieren ohne vorher flüssig geworden zu sein) von Wasserdampf oder die Kristallisation von unterkühlten Wassertröpfchen. In beiden Fällen lagern sich die Wassermoleküle aus dem Dampf oder der Flüssigkeit von außen an entsprechende Keime beziehungsweise schon vorhandene Kristalle an. Demgegenüber wachsen die Eishaare direkt aus dem Totholz heraus, ähnlich wie tatsächliches Haar aus dem Körper eines Lebewesens. Die entscheidenden Vorgänge passieren also innen. Der Stoffwechsel der Pilze ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.
Der Pilz ernährt sich von dem in den Holzstrahlen vorhandenen organischen Material. Dabei gibt er neben Wasser gasförmiges Kohlendioxid ab. Das drückt Wasser durch die Strahlkanäle aus dem Holz heraus. Molekulare Rückstände der Stoffwechselvorgänge des Pilzes wirken als Kristallisationskeime, an denen es beim Austritt an die kalte Außenluft zu dünnen Fäden gefriert. Der ausgetriebene Strom reißt auch deswegen vorerst nicht ab, weil eine Art Saugeffekt beiträgt. Dadurch wird Wasser zur Grenzfläche des Eises gezogen, wo die Flüssigkeit lokale Ladungsunterschiede zwischen den Holz- und Kristalloberflächen ausgleicht und dadurch die Grenzflächenenergie minimiert. Die Pilztätigkeit erklärt ebenfalls, warum das Phänomen nur bei leichtem Frost auftritt: Die beim Stoffwechsel erzeugte Wärme hält die Temperatur im Ast oberhalb des Gefrierpunkts. Wenn es dafür zu kalt wird, erstarrt die Feuchtigkeit im Holz, und das ganze Schauspiel stoppt.
Ähnlich dem Haupthaar eines Menschen neigen sich ganze Büschel der Eisfäden in Scheiteln und Wirbeln zur einen oder anderen Seite. Das ist vor allem Unterschieden bei der Wachstumsgeschwindigkeit eines jeden Haars zu verdanken. Sie schwankt infolge von Unregelmäßigkeiten an den Rändern der Strahlmündungen. Dieses wilde Verhalten erweckt einen geradezu lebendigen Eindruck, der im Reich der Eiserscheinungen einzigartig ist.
Quelle
Hofmann, D. et. al.: Evidence for biological shaping of hair ice. Biogeosciences 12, 2015
Ich wünsche allen Blogfreundinnen und -freunden einen guten Übergang ins Neue Jahr und dort – glücklich angekommen – einen gelingenden Start.
Auf den ersten Blick käme man wohl kaum darauf, dass diese frisch-grünen Nadeln an einem Tannenbaum sprießen. Schaut man sich jedoch die kleinen Wassertröpfchen genauer an, so findet man dort einen Teil des Zweigs abgebildet.
Diese natürlichen Weihnachtsbaumkügelchen verstehen es so schön, ihre Umgebung zu reflektieren und damit auf eine subtile Weise zu vervielfältigen, ohne dass die Vielfalt eine bloße Kopie wäre.
Diese Birke hat es auf ein Schild abgesehen, was man offenbar ohne sie zu fragen angebracht hat. Es sieht aus, als würde das Schild irgendwann völlig verschlungen sein, denn Bäume haben Zeit. Die Einverleibung durch Überwallung ist eine natürliche Reaktion eines Baumes, wenn er mit einem Fremdkörper konfrontiert wird. Denn da er ihn nicht anderweitig loswerden kann, verleibt er ihn sich ein und lässt ihn schließlich in seinem Innern verschwinden. Dort behindert er nicht mehr das Kambrium, die Wachstumsschicht des Baumes.
Das Kambium liegt zwischen dem Holz und der Rinde eines Baums. In ihr finden die Zellteilung und damit das Wachstum des Baumes statt. Dabei erfolgt nach innen hin eine Verholzung und nach außen hin entsteht in etwa dem gleichen Maße der Bast, aus dem sich die harte Rinde entwickelt.
Im vorliegenden Fall überwallt das Kambium dank seiner Fähigkeit zum Zellwachstum das Hindernis, um zu verhindern, dass es nicht bis ins Holz dringt und dem Angriff von Pilzen und Bakterien Tür und Tor öffnet. Es entsteht ein Gewebe, das sogenannte Kallus, das schließlich den Fremdköper überwallt. Wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, kann das Kambium über die so verschlossene Wunde wieder normale Zellen bilden und normal weiterwachsen.
Im Sinne unserer gestrigen Ausführungen zeigt dieses Beispiel einmal mehr, dass zwei Dinge nicht zugleich am selben Ort sein können und gegebenenfalls besondere Maßnahmen getroffen werden müssen, um die Naturgesetze einzuhalten.
Spinnen haben das Problem, ihre Netze so zu bauen, dass sie immer schön gespannt bleiben. Bei festen Begrenzungen muss das Netz von Zeit zu Zeit nachgespannt werden, wenn es durch äußere Einflüsse an Spannung und damit an Tauglichkeit für den Beutefang eingebüßt hat.
Im vorliegenden Fall (siehe Foto) ist die Spinne sehr clever zu Werke gegangen. Sie hat ihr Netz in die Krümmung eines langen Grashalms eingebaut. Dabei hat sie den Grashalm über die natürliche, schwerkraftsbedingte Krümmung hinaus durch die Radialfäden ihres Netzes gespannt, sodass die dadurch hervorgerufene rückwirkende Kraft des Halms umgekehrt das Netz unter Spannung hält.
Wird durch irgendwelche äußeren Einwirkungen, z.B. dem Aufprall einer dicken Fliege, das Spinnennetz gedehnt, so wird dadurch der Halm weiter gespannt und zieht in der nachfolgenden Entspannung das Spinnennetz wieder straff.
Tolle Erfindung unter Einbeziehung örtlicher Gegebenheiten – funktional und naturschön.
Dennoch ist in diesem Netz nicht alles in Ordnung. Durch die Tautröpfchen an den Fangfäden und vermutlich der vorangegangenen Einwirkung von Wind haben sich zahlreiche Fadenabschnitte berührt verbunden. Das dürfte für die ordnngsmäßige Funktion des Netzes im Sinne der Spinne nicht garade förderlich sein.
Manche Menschen fühlen sich gestört durch die mehr oder weniger große Ansammlungen von vermeintlichem, stinkenen „Unrat“ an manchen Stränden des Mittelmeeres, von dem in den beiden Fotos Details gezeigt werden. Dabei handelt es sich um natürlicherweise entstandene, angeschwemmte Überreste von Meerespflanzen. Sie bestehen aus braunen, faserigen kurzen Ästchen, an denen oft noch Reste von länglichen Blättern haften, deren ehemaliges frisches Grün meist nur noch erahnt werden kann.
Es handelt sich um abgestorbene Bestandteile des Neptungrases (posidonia oceanica), das in flachen Bereichen auf dem Meeresgrund wächst. Das Gras ist mit einem Erdspross (Rhizom) im Boden verankert. Es wird zuweilen durch unterschiedliche Einwirkungen herausgerissen und landet irgendwann am Strand, wo es sich an bestimmten Stellen ansammelt.
Als ich diese Ansammlungen zum ersten Mal sah, dachte ich sie wären von beflissenen Reinigungskräften des Strands zusammengetragen worden, um danach abtransportiert zu werden. Das haufenweise Auftreten dieser erst auf den zweiten Blick gefälligen Pflanzenreste ist jedoch einem Selbstorganisationvorgang zu verdanken. Nehmen wir an, einige dieser faserigen Erdsprosse (untere Abbildung) haben sich zufällig ineinander verhakt. Für die anbrandenden Wellen ist es dann schon etwas schwieriger sie vor sich herzutreiben als einzelne Exemplare. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Einzelexemplare durch die unermüdlichen Wellenaktivitäten irgendwann einmal zu einer solchen Ansammlung gelangen, sich dort verhaken und hängenbleiben, wird mit jedem Sproß größer. Denn die Voraussetzungen für eine Verhakung werden umso günstiger, je reichhaltiger die Ankopplungsmöglichkeiten werden. Und diese wachsen mit der Größe der Ansammlung. Fazit: Je größer der Haufen desto schneller das Wachstum. Oder wie schon in der Bibel zu lesen ist: „Wer da hat, dem wird gegeben“ (Matthäus 13:12).
In der Nähe der massenhaften Ansammlung der Erdsprosse, findet man häufig auffällig perfekt geformter Filzkugeln, deren Herkunft nicht unbedingt sofort mit den Sprossen in Verbindung gebracht wird. Trotz der farblichen Ähnlichkeit erinnert die Kugelform mehr an etwas Hergestelltes als an etwas Gewordenes. Und diese Differenz war für mich offenbar so groß, dass meine Hypothesen zunächst in weiter entfernten (im Nachhinein sehr abwegigen) Gefilden festen Grund suchten, als in den ganz in der Nähe befindlichen Seegrashaufen.
Hat man aber erst einmal begriffen, dass hier ein Zusammenhang besteht, kann es ohne fremde Hilfe gelingen, der Entstehung der Filzkugeln auf den Grund zu kommen. Denn ganz ähnlich wie das selbstorganisierte Wachstum durch Verhakungen an Land zu haufenweisen Ansammlungen von Erdsprossen führt, entstehen auf dem Meeresgrund, also dort wo das Neptungras wächst, auf ähnliche Weise diese merkwürdigen Filzbälle (linkes Foto).
Lange bevor die Erdsprosse das Land erreichen, können sie schon unter Wasser zum Spielball der Wellenbewegung werden. Nachdem sie auf diese Weise in einzelne Bestandteile zerfasert werden, kommen sie durch das rhythmische Hin- und Her der Wellen auf dem Boden immer wieder miteinander in Berührung. Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit sich ineinander zu verhaken. Nach einem ähnlichen Prinzip wie beim Wachstum der Haufen kompletter Sprosse am Meeressaum gilt auch hier: Je mehr Teile bereits ineinander verhakt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Teile eingefangen werden. Wegen der durch den Auftrieb verminderten Gewichtskraft der so entstehenden Filzaggregate, bleiben auch größere Exemplare unter Wasser kaum an einer Stelle liegen. Sie werden durch den anhaltenden Wellengang über den Meeresboden geschoben und nach einer gewissen Abrundung gerollt. Herausragenden Fasern werden dabei zunehmend abgewetzt oder ins Innere der entstehenden Kugel gedrückt, die dadurch weiter verfestigt wird. Der Einfang weiterer Pflanzenfasern wird dadurch schließlich immer unwahrscheinlicher. Außerdem nehmen die runden Gebilde aufgewirbelten Sand auf, wodurch sie immer fester und dichter werden. Es findet eine regelrechte Verfilzung statt und die in alle Richtungen gerollten Bälle nehmen eine immer perfektere Kugelform an.
Dass das Rollen von zunächst unförmigen Gegenständen zwangsläufig zu Kugeln führt, kennt man beispielsweise von der Herstellung von Knetgummikugeln: Ein Stück Knete wird zwischen den rotierenden Handflächen unter sanftem Druck gewalzt. Aber auch die kugelförmigen Perlen von Schmuckarmbändern entstehen aus ursprünglich unförmigen Bruchstücken in rotierenden Behältern gleichsam von selbst.
Aus dem abgestorbenen Neptungras kann nach neueren Erkenntnissen Dämmstoff gewonnen werden, das nicht nur eine hohe Wärmedämmung bewirkt, sondern auch ohne weitere Zusätze die gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen des Brandschutzes erfüllt. Ausschlaggebend dafür ist die silikathaltige Faserstruktur der Pflanze. Hinzu kommt, dass das Material frei ist von gesundheitlich bedenklichen Emissionen und Inhaltsstoffen.
Es sollte aber auch darauf hingewiesen werden, dass das Neptungrass ökologisch gesehen für das Mittelmeer überlebenswichtig ist. Es fungiert als eine Art Unterwasserwald, in dem das Wasser gefiltert und geklärt wird, und es bietet zahlreichen Tieren einen schützenden Lebensraum. Als Sauerstoffproduzent kann es u.A. auch als Kinderstube für Fische angesehen werden. Umso Besorgnis erregender ist es, dass das Neptungras bedroht ist. In den letzten 50 Jahren ist es in seinem Bestand aus mehreren Gründen (u.a. Klimaerwärmung) um 34% zurückgegangen. In manchen Regionen des Mittelmeeres werden daher bereits Schutzmaßnahmen ergriffen.
Den Touristen, die das Seegras oft als Verunreinigung ansehen, sei gesagt, dass das Seegras den Strand sogar schützt, indem es den Wellengang schwächt. Sie sollten daher mehr die ästhetischen Aspekte z.B. in Gestalt der schönen runden Filzbälle in den Blick nehmen.
Bei Wanderungen in Wäldern schaue ich mir gern Bäume an, die nicht so ganz der Norm entsprechen. Die befinden sich meist dort, wo sie so wachsen dürfen wie sie wollen, also außerhalb oder am Rande der wirtschaftlich genutzten Waldbereiche. Ich habe diesem Blog bereits zahlreiche Exemplare anvertraut (z.B. hier und hier und hier und hier und hier). Sie sind oft so merkwürdig, dass es schwerfiele zu glauben, dass es so etwas gibt, hätte man es nicht direkt vor Augen.
Auf einer vor kurzem unternommenen Wanderung in den Dammer Bergen fand ich eine Baumgruppe vor, in der zwei Bäume über einen oberarmdicken Ast in Verbindung stehen. In den Fotos ist das Phänomen aus zwei verschiedenen Perspektiven zu sehen.
Schaut man sich das rechte Foto an, so scheint der linke Baum deutlich von der zusätzlichen Verbindung mit dem anderen Baum zu profitieren. Denn oberhalb der Einmündung dieses fremden Asts weitet sich der Stamm ganz entgegen der Norm, wonach Bäume unten dicker als oben sind.
Anders als bei den bisher entdeckten Baumverbindungen fällt mir hier keine plausible Geschichte ein, wie diese Verbindung wohl angebahnt und realisiert wurde. Vielleicht habt ihr eine Idee?
Das ist der Urahn der Spaltpilze, die sich inzwischen in vielen Gebieten ausgebreitet haben, wie beispielsweise
Irgendwas blicke mich aus der Borke einer alten Platane (?) an und kam mir auch noch irgendwie aus dem Fernsehen bekannt vor. Aber auch unabhängig davon empfand ich den Anblick einfach naturschön.
Hier hat eine Raupe ihre Fraßspuren dadurch getarnt, dass sie für neugierige Menschenblicke ein fröhlich tanzende Figur geschaffen hat. Sie soll davon ablenken, nach der Raupe selbst zu suchen. Die schwarzen Punkte, die man in den Fraßspuren entdeckt entsprechen einem Teil der Materie, die die Raupe zu sich genommen und nach Gebrauch (Lebensfunktionen und Körperaufbau) wieder portionsweise abgegeben hat.
Da durch diese Aktion der Raupe an den entsprechenden Stellen die Fotosyntheseeinrichtungen stark in Mitleidenschaft gezogen werden, ist vermutlich auch das Blattgrün (Chlorophyll) zerstört worden. Ich vermute, dass dort die ansonsten überdeckten Farben der Carotinoide und Anthocyane sichtbar werden, ähnlich wie im Herbst, wenn die Bäume das wertvolle Chlorophyll zurückziehen und im Stamm speichern.
Mich beeindruckt immer wieder, wenn an einem trockenen Morgen, die Blätter einer Pflanze nichts besseres zu tun haben, als Flüssigkeit an die Umgebung abzugeben. Dieser als Guttation bezeichnete physiologische Vorgang ist eine Art Notfallprogramm der Pflanzen, seinen Säftehaushalt zu regulieren.
Weil ich mich immer wieder von diesen weinenden Pflanzen auch ästhetisch angesprochen fühle, möchte ich hier einmal mehr auf dieses Naturphänomen aufmerksam machen.
Nicht nur Menschen ver(un)zieren Bäume mit eigenen (Kunst-)Werken. Auch Schnecken scheinen es ihnen nachzumachen. Jedenfalls ist das schon ganz gut gelungene, mit Schneckenschleim gemalte Männchen am Baum ein Zeichen ihres diesbezüglichen Tuns. Menschen versuchen es meist auf andere Art, durch Schnitzen, Ausmalen mit Farben, kreativ Anmalen, Drapieren mit getrickten Textilien oder durch Lichtprojektionen… Manchmal schmücken sich die Bäume auch selbst, z.B. mit einer naturschönen Wucherung oder einem originellen Tattoo. Andere Tierchen gehen eher bildhauerisch vor.
Hier hat sich ein Baum seine Äste auf ästhetisch ansprechende Weise bemalen lassen. Das Foto zeigt den fast waagerecht ausladenden Ast von der Unterseite, an der auch die Totoos zu sehen sind. Nur dadurch, dass ich unter diesem Baum bei Regen Schutz suchte, bekam ich einige Hinweise auf die Entstehung dieser elegant geschwungenen Bögen. Das Regenwasser wurde durch diese vorgezeichneten Bahnen Zufall abgeleitet, um an den tiefsten Stellen herabzutropfen.
Auch wenn ich nicht bis zum Schluss der Trocknung wartete, denke ich, dass nach der Trocknung die im Wasser gelösten Stoffe (die Teilweise von der mit Algen besetzten Oberseite stammen) zurückbleiben und auf diese Weise die Bahnen sichtbar machen. Vermutlich hat es zahlreicher Regenschauer bedurft, um schließlich eine derart deutliche Zeichnung hervorzubringen.
Dieses Phänomen ist gleichzeitig wegen seiner Entstehungsgeschichte interessant und wegen der eindrücklichen Zeichnung naturschön.
Diese Gurkenranke nimmt in ihrer Unentschlossenheit fast menschliche Züge an. Zunächst teilt sie sich und begibt sich auf zwei verschiedene Wege. Ist ja auch effektiver zweigleisig zu fahren, um den nächsten Halt zu finden. Doch dann krümmt sich der eine Strang, rollt sich ein und wird selbstbezüglich. Der andere bemüht sich weiter darum, Halt zu finden. Ich höre schon die Gurke den Alten zitierend raunen: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.
In der Geometrie sind Zahlen und Zahlenverhältnisse der Inbegriff von mathematischer Exaktheit. Ein gezeichnetes oder auf andere Weise realisiertes Rechteck oder Dreieck ist es immer nur eine Annäherung an die geometrische Idealgestalt. Und wenn wir in der Natur geometrische Prinzipien zu erkennen glauben, so handelt es sich auch dort um mehr oder weniger perfekte Realisierungen.
Die auf dem Foto abgebildete Mohnblüte bringt in der einen oder anderen Weise die Vierzähligkeit zum Ausdruck: Vier Blütenblätter, die zudem näherungsweise so geformt sind, dass die Blüte nahezu quadratisch geformt ist, werden ergänzt durch vier dunkle Flecken, die sich wie verlaufende Tinte auf den weißen Blütenblättern ausgebreitet haben.
Das stimmt alles nur ungefähr, aber in diesen Abweichungen von der Idealgestalt bringt die Blüte ihre Individualität zum Ausdruck, derart, dass keine zwei Blüten exakt übereinstimmen. Und genau das macht einen wesentlichen Aspekt die Naturschönheit der Pflanzen aus.
Etwa ein Monat nach der Sommersonnenwende merkt man bereits, dass die Tage wieder kürzer werden. Auch die Vegetation tritt in das Reifestadium ein.
Eine Schwebfliege im Verbund mit den kreisförmig angeordneten Staubblättern zeigt an dieser Blütenuhr an, was die Jahreszeitenstunde geschlagen hat. Sie macht sich etwa bei 7 Uhr zu schaffen, was dem derzeitigen 7. Monat des Jahres entspricht.
Nach der Blüte des einjährigen Silberblatts bilden sich die Samen in einem talerförmigen Gehäuse. Hier sind sie im Gegenlicht der Sonne als dunkle Schatten zu sehen, die wie mit einer Nabelschnur an einem Versorgungsring angeschlossen sind. Interessant und naturschön.
Blumen blühen in den verschiedensten Farben, um zu gefallen und aufzufallen. Nicht unbedingt den Menschen, aber den Bestäubern, Bienen und anderen Insekten. Man findet alle Farben vertreten. Nur grüne Blüten gibt es selten. Das ist verständlich, weil die Blüten aus dem überwiegenden Grün der Pflanzen hervorstechen müssen, um nicht übersehen zu werden. Die wenigen grünen Blüten wirken weniger durch Ihre Farbe als durch Geruch und vermutlich auch durch Farben und andere Merkmale, die wir Menschen gar nicht wahrnehmen. Im vorliegenden Fall dürften Insekten kaum Interesse bekunden – die Blümchen entdeckte ich in einem Kunstmuseum
Die Borke von Bäumen erzählen manchmal ganze Geschichten – entweder aus der Vergangenheit des Baumes oder von den durch sie ausgelösten Assoziationen. Im vorliegenden Fall der Borke einer jungen Espe (Zitterpappel) erinnern mich die Zeichen an einen geheimen Code, den es zu entschlüsseln gilt. Vielleicht sind es aber auch nur die Noten zum hellen Rauschen, das das Espenlaub schon bei winzigen Luftströmungen anstimmt. Auf jeden Fall ist es eine naturschöne, an eine Grafik erinnernde Struktur.
Einfache Dinge
Einerlei geh ich
Zweierlei seh ich
Dreierlei leb ich
Viererlei freut mich am Tage
Einerlei sag ich nicht
Zweierlei trag ich nicht
Dreierlei hab ich nicht
Viererlei schreckt mich zu Tode*
Die Blätter der Kletterhortensie wachsen nach einem mathematisch anmutenden Prinzip: jeweils zwei sich gegenüberliegende Blätter wachsen im rechten Winkel zum Vorgängerpaar heran, sodass die dritte Blattgeneration wieder parallel zur ersten ausgerichtet ist und so immer weiter…
Aber ebensowenig wie die Blätter damit das Abzählen erleichtern wollen, geht es in dem Gedicht von Elisbeth Borchers um einen Abzählreim. Dazu einen Kommentar von Michael Braun:
„Manchmal tarnt sich ein Gedicht als Kindervers, indem es in der Manier eines Abzählreims daherkommt. Auch was sich im Text der 1926 geborenen Elisabeth Borchers als bloße Repetition und Variation ausgibt, entpuppt sich als ein vertrackter Vers über die Ambivalenzen und Widersprüche der menschlichen Existenz. In den fünfzig Jahren literarischer Produktion hat die Dichterin ihre diskrete Schreibweise immer mehr verfeinert, ihre lyrische Diktion wurde im Verlauf dieser Jahre immer asketischer.
Zwischen „einerlei“ und „zweierlei“ liegt in diesem um 1980 entstandenen Gedicht nicht nur eine klangliche und numerische Differenz, sondern ein Abgrund an meist negativen Bedeutungen. „Einerlei “ meint ja etwas Monotones, „Zweierlei“ oder „Dreierlei“ dagegen ein sich vergrößerndes Feld an Widersprüchen. So sind schon die positiven Setzungen der ersten Strophe doppelbödig; in den Negationen der zweiten Strophe verschärfen sich die Widersprüche und Paradoxien, so dass am Ende die Vielfalt der Bedrohungen das lyrische Ich „zu Tode erschrecken“.**
* Elisabeth Borchers (1926 – 2013). Alles redet, schweigt und ruft. Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001
** Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007 (aus: PlanetLyrik)