Der verschwundene Stern
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!
Ich wußte seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
Und suchte, bis ich’s fand.
Und blieb denn lange stehen,
Hatt‘ große Freud in mir,
Das Sternlein anzusehen;
Und dankte Gott dafür.
Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.*
An dieses Gedicht von Matthias Claudius wurde ich erinnert, als ich seit dem 4. März, also vor gut einer Woche, vor meinem Fenster erlebte wie sich Jupiter und Venus nahekamen. Danach wurde der Vorhang zugezogen. Der Rest trug sich also zumindest von meiner Warte aus im Verborgenen zu. Jedenfalls gab es von da an keinen Tag, an dem der Himmel frei war. Heute waren die Sternlein verschwunden oder wenn man ihren Charakter als Wandelsterne (Planeten) berücksichtigt, bereits wieder so weit voneinander entfernt, dass man sie kaum noch als Paar ansehen kann. Allenfalls nur deshalb, weil sie in diesem Augenblick die einzigen waren, die sich am Firmament (sic!) sehen ließen.
Soweit die allzu menschlichen Gedanken, die einem dazu einfallen können. In Wirklichkeit hatten sie sich weder genähert, noch gab es irgendeine Unsicherheit, was hinter der Wolkendecke seitdem passierte. In voller Erfüllung der Keplerschen Gesetze haben sie sich (weitgehend) deterministisch verhalten und für jeden Moment war ihre Position rein rechnerisch präsent. Das ist für manche Menschen beruhigend. Am vertrauten Himmel gibt es – zumindest aus der Perspektiv des menschlichen Erlebens – kaum Überraschungen.
Auch wenn ich aus astronomischer Sicht das Verschwinden von Sternen nur mit Planeten, also Wandelsternen, wie man sie damals auch nannte, in Verbindung zu bringen vermag, kamen mir jedoch Zweifel, ob Claudius wirklich an reale Sterne/Planeten gedacht hat. Denn meine Recherchen erbrachten, dass Clemens von Brentano und Achim von Arnim dieses Gedicht unter dem Namen „Christiane“ in „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen hatten, um damit an Claudius‘ Tochter Christiane zu erinnern, die im Alter von 20 Jahren an Typhus starb. Das legt natürlich eine ganz andere Deutung nahe.
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* Matthias Claudius (1740 – 1815).
Die Nordmanntanne schimmert bereits umrisshaft durch die Eisscholle hindurch, die ich aus der schmelzenden Eisschicht des bis vor kurzem zugefrorenen Teichs herausbrach. Sobald sie sich verflüssigt hat, wird der Blick frei und ein naturschönes Relikt des vorangegangenen Frosts vergangen sein. Die schöne Tanne wird bald danach ihre Nadeln abwerfen und ebenfalls vergehen.
Dazu fällt mir der Vers aus »Reuters Morgengesang« von Wilhelm Hauff (1802-1827) ein: Ach, wie bald schwindet Schönheit und Gestalt!
Eigentlich hatte ich es bei diesem Foto auf die Wassertropfen abgesehen, bis mir bei genauerem Hinsehen auffiel, dass nicht ganz klar ist, welcher Grashalm den jeweiligen anderen verdeckt, bzw. welche Sachen sich hier überschneiden, stoßen oder ausweichen… Vielleicht spricht Friedrich Schiller (1759 – 1805) ja auch eine solche Situation an, wenn er sagt: „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen;/ Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken,/ Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben;/ Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt“.* Dass sich zwei Objekte nicht gleichzeitig am selben Ort aufhalten können, hat eine tiefe physikalische Wurzel. Letztlich steckt das Pauli-Prinzip dahinter. Aber das wollt ihr jetzt bestimmt nicht weiter ausgeführt bekommen.
* Friedrich Schiller. Wallensteins Tod – 2. Aufzug, 2. Auftritt
FORM UND STOFF
Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zu viel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?*
In dieser Herr-Keuner-Geschichte bringt Bertolt Brecht auf poetische Weise zum Ausdruck, dass man durch Idealisierung der Wirklichkeit verlustig gehen kann. Das hat durchaus einige Relevanz für die Physik, denn diese ist auf Idealgestalten gegründet. Das ist ein wesentlicher Aspekt der physikalischen Sehweise und ihres Erfolgs. Aber es sollte niemals vergessen werden, dass damit nur eine von mehreren Perspektiven der Wirklichkeit angesprochen wird. Wenn man diese Idealgestalten stillschweigend voraussetzt und nicht selbst zu einem wichtigen Gegenstand des Nachdenkens über Physik macht, läuft man Gefahr, dass die Physik unverständlich bleibt und vor allem die Laien sich von der Physik abwenden oder sich ihr gar nicht erst zuwenden.
„Je tiefer man übrigens eindringt, je mehr man wegschneidet, je fester man umklammert, was man festhält- das scheinbar Reale-, desto näher findet man sich dem Unverstehbaren, dem In-bezug-auf-den-Menschen-Formlosen; dem Unähnlichen– die Wahrheit hat mit nichts Ähnlichkeit“**.
*Bertolt Brecht. Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt/Main 2004, S. 15
** Paul Valéry. Cahiers 2. Frankfurt 1988
Früher wurden die Bilder noch über den Umweg – Auge-Gehirn-Hand-Pinsel – gestaltet. Heute sind es Pixel, in ihrer Abstraktheit kaum zu überbieten. Dennoch vertrauen wir ihnen oft mehr als dem Auge von – sagen wir – Leonardo da Vinci. So habe ich die Wüste gesehen, denke ich, wenn ich den hier visualisierten Datensatz vor Augen habe (siehe Foto). Am besten man denkt nicht weiter darüber nach. Oder? Lassen wir noch kurz Ulrike Draesner zu Wort kommen, die sich darüber Gedanken macht:
Lukas stand auf einem Küchenstuhl und preßte mit aller Kraft eine Reißzwecke in die Wand. Sein Daumennagel war ganz weiß, die Fingerkuppe puterrot. Im Institut hatten sie beim Aufräumen ein Poster mit einer Erdaufnahme des Hubble Space Telescope entdeckt. Da niemand es wollte, hängte Lukas es jetzt überm Küchentisch auf.
Aloe hatte einfach getan, als interessiere sie sich plötzlich brennend für Formel I. Sein Versuch, mit ihr zu reden, war fehlgeschlagen.
Kaum nahm Lukas den Daumen von der Wand, fiel die Reißzwecke wieder heraus. Wahrscheinlich steckte ausgerechnet an dieser Stelle ein Stein. Aber er konnte nicht ausweichen, ohne die drei anderen Kartenecken, die er schon angepinnt hatte, auch wieder zu lösen. Lukas stieg vom Stuhl und betrachtete die aus Millionen von Datenbits zusammengepixelte Aufnahme. Eine geradezu mystische Verschmelzung von Präzision und Phantasie. Alle Pixel echt, alle Farben falsch. Bodenschätze, versteckte Stollen, Ölfelder, Brände und Wald. Computerrhododendren sprossen über die Ozeane, durch die Wüsten zogen sich feine schaumige Riffs weißlicher Stürme, um den Nordpol flockte eine Wolke heller Bläschen, die aussahen, als stecke in jeder ein Babyhai, der in seiner Raumfahrerkapsel durch eine gallertige Masse Nahrung trieb. Jede Farbe ein Ausbruch, ein Gefühl, vieldeutig und rätselhaft. Über Mittelamerika saß eine riesige, grünbraun gesprenkelte Schildkröte, in deren Mitte ein roter Fleck leuchtete wie ein zyklopisches Auge. Er mochte diese Mischung von Genauigkeit und Wahn. Sie erinnerte ihn an mittelalterliche Gemälde vom Rand der Welt und seinen fabelhaften Wesen; hier kehrten sie als harte >Fakten< wieder, waren aber eigentlich nichts als eine Folge von Nullen und Einsen, kein einziges Pigment zunächst, kein einziges Element – ganz irrealer Stoff.*
* Ulrike Draesner. Mitgift. München: Luchterhand 2002, S. 129f
Die Poesie der Wissenschaft liegt nicht offen zutage. Sie stammt aus tieferen Schichten. Ob die Literatur imstande ist, mit ihr auf gleicher Höhe umzugehen, ist eine offene Frage. Letzten Endes kann es der Welt gleichgültig sein, wo sich die Einbildungskraft der Spezies zeigt, solange sie nur lebendig bleibt. Was die Dichter angeht, so mögen diese Andeutungen zeigen, daß es ohne ihre Kunst nicht geht. Unsichtbar wie ein Isotop, das der Diagnose und der Zeitmessung dient, unauffällig, doch kaum verzichtbar wie ein Spurenelement, ist die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet. Weiterlesen
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 12 (2021), S. 60 – 62
Die Sonnenflecke soll ich bemerkt und
die Sonne selbst soll ich übersehen haben!
Friedrich Hebbel (1813–1863)
Vor 450 Jahren, im Dezember 1571, wurde Johannes Kepler geboren. Den meisten ist er durch die nach ihm benannten Planetengesetze vertraut. Weniger bekannt ist: Er brachte die geometrische Optik praktisch zur Vollendung. Beide Leistungen hängen eng zusammen.
Die drei keplerschen Gesetze gelten zu Recht als revolutionär. Indem Johannes Kepler (1571–1630) für die Bewegungen der Planeten physikalische Ursachen annahm, deren Ursprung in der Sonne liegt, lieferte er entscheidende Argumente für das Weltbild von Nikolaus Kopernikus (1473–1543). Die Planetengesetze wiederum waren eine Voraussetzung für eine quantitative Naturbeschreibung, auf der Isaac Newton (1642–1726) die klassische Physik begründen konnte. Seitdem gibt es keinen Unterschied mehr zwischen himmlischen und irdischen Regeln.
Auf einem anderen Gebiet war Kepler ebenso weltbewegend tätig, nämlich der geometrischen Optik. Er brachte sie zu einem bis heute gültigen Abschluss (sieht man einmal von der späteren quantitativen Formulierung des Brechungsgesetzes ab). Beide Bereiche sind enger miteinander verknüpft, als man zunächst denken könnte.
Entscheidend war dabei die Lösung des so genannten Sonnentalerproblems, bei dem sich Astronomie und Optik treffen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurde als Beobachtungstechnik für Sonnenfinsternisse vorgeschlagen, den gefährlichen direkten Blick in die Sonne zu vermeiden, indem man ein Lochkamerabild auf einer Leinwand beobachtet. Denn schon lange vor Kepler war bekannt: Fällt Licht eines hellen Objekts durch eine wie auch immer geformte kleine Öffnung, entsteht hinter dieser eine Abbildung der Quelle. Das genaue Prinzip dahinter blieb aber rätselhaft. Bereits in der pseudo-aristotelischen Schrift Problemata Physica fragt sich der Autor zum einen: »Warum erzeugt die Sonne, wenn sie durch viereckige Gebilde dringt, nicht rechteckig gebildete Formen, sondern Kreise?« und zum anderen: »Warum treten bei Sonnenfinsternis, wenn man durch ein Sieb oder durch Blätterlücken sieht, oder wenn man die Finger der einen Hand mit denen der anderen verflechtet, die Sonnenstrahlen auf der Erde halbmondförmig in Erscheinung?«.
Letztlich geht es dabei um das Problem, wie sich die geradlinige Ausbreitung des Sonnenlichts mit dem Befund vereinbaren lässt, dass es sich selbst beim Durchgang etwa durch ein rechteckiges Loch zu einem kreisförmigen Fleck krümmt. Bemühungen um eine Lösung ziehen sich wie ein roter Faden durch die zweitausendjährige Geschichte der Strahlenoptik. Die Kepler vorliegenden Arbeiten des Mittelalters hinterlassen den Eindruck, Schuld seien die Unzulänglichkeit des Auges und die Art und Weise des Sehens. Der bereits neuzeitlich denkende Kepler erkannte in derartig »ungehörigen und in der Optik nicht anerkannten« Begründungen keine erhellenden Erklärungen. Er ging dem Sachverhalt selbst nach.
Doch warum war das für Kepler so wichtig? Hätte der Astronom die erfolgreiche Beobachtungsmethode von Sonnenfinsternissen nicht einfach akzeptieren können, ohne sie bis ins Detail verstehen zu müssen? Die Antwort darauf ergibt sich aus einem Rätsel, mit dem sich Keplers Zeitgenosse Tycho Brahe (1546–1601) konfrontiert sah. Ihm erschien bei der Sonnenfinsternis am 25. Februar 1598 der Neumond »nicht in der Größe, die er zu anderen Zeiten bei Vollmond hat«. Für Kepler, der zutiefst von der Gültigkeit der Himmelsmechanik überzeugt war und insbesondere die Bahnen und Größen der Himmelkörper für unveränderlich hielt, waren Ansätze völlig inakzeptabel, die zum Beispiel einen bei Sonnenfinsternissen schrumpfenden oder weiter entfernten Mond voraussetzten.
Kepler suchte stattdessen den Fehler bei der Beobachtungsstrategie selbst und entwickelte ein einfaches Modell, mit dem sich die Abbildung physikalisch rekonstruieren und anschaulich verstehen lässt. Auf der bewährten Grundlage des Strahlenmodells der geometrischen Optik nahm er an: Eine punktförmige Quelle sendet Strahlen radial in alle Richtungen aus. Fällt ihr Licht durch eine Öffnung, so erscheint diese in ihrer Form unverändert auf eine dahinter aufgestellte Leinwand projiziert – eine eckige Blende als ebenso kantige, helle Fläche. Doch die Sonne ist nicht punktförmig. Ein entscheidender Schritt brachte Kepler schnell auf die Lösung. Der Trick besteht darin, eine ausgedehnte Lichtquelle als Ensemble unendlich vieler Punktquellen aufzufassen.
Lässt man davon ausgehend in einem Gedankenexperiment beispielsweise eine dreieckige Lichtquelle durch ein rundes Loch strahlen, so liegt die Lösung des Sonnentalerproblems auf der Hand (siehe »Gemischter Umriss«). Anhand einiger ausgewählter Punkte wird erkennbar: Die auf der Leinwand abgebildeten runden Löcher überlagern sich letztlich zu der dreieckigen Form des leuchtenden Objekts.
Diese Modellierung dürfte zu Keplers Zeiten recht kühn gewirkt haben. Denn einerseits war das unendlich Kleine noch nicht vertraut – die später von Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entwickelte Infinitesimalrechnung zeigte die damit verbundenen Vorstellungsschwierigkeiten. Andererseits wird eine ungestörte gegenseitige Durchdringung der Lichtstrahlen unterstellt, und das dürfte ebenso nicht selbstverständlich gewesen sein.
Die Lichtquelle zeigt ihren Umriss auf dem Schirm umso präziser, je kleiner das Loch ist. Dasselbe erreicht man mit zunehmendem Abstand zwischen Blende und Projektionswand, weil die Größe der Abbildung dabei schneller wächst als die von der Lochgröße bestimmte Randunschärfe.
So konnte Kepler die beobachtete Mondverkleinerung von 20 Prozent als einen Beobachtungsfehler erklären. Er beruhte darauf, dass der Schirm zu dicht hinter dem Loch angebracht oder dieses zu groß war. Zahllose Bilder des Lochs traten so weit über den Rand der eigentlichen Sonnenprojektion und überlagerten den Schatten des Monds (siehe »Randunschärfe«). Ein leicht verwaschener Eindruck kann nie vollständig beseitigt werden, doch nach dieser Einsicht wurde es möglich, den Effekt zu beziffern und durch kleinere Löcher und weitere Abstände zu minimieren.
Heute mag uns die Lösung des Problems einfach erscheinen, aber sie war damals alles andere als selbstverständlich. Kepler musste eine völlig neue Herangehensweise entwickeln und die optischen Regeln seiner Vorgänger entsprechend überarbeiten. Später kam zwar heraus, dass etwa Francesco Maurolico (1494–1575) bereits 1521 eine korrekte Erklärung gegeben hatte, allerdings konnte Kepler von ihr nichts wissen. Außerdem handelte es sich um eine relativ isolierte Beschreibung außerhalb eines einheitlichen theoretischen Rahmens.
Im Sinn des Physikers und Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn (1922–1996) kann die von Kepler vollendete geometrische Optik als Ergebnis eines Paradigmenwechsels angesehen werden. Im Mittelpunkt dieser konzeptuellen Revolution stand das Phänomen der Sonnentaler. Als Astronom, der maßgeblich am Durchbruch der kopernikanischen Wende mitgewirkt hat, war Kepler bereits vom neuzeitlichen physikalischen Denken beeinflusst. Jedenfalls war er von den mechanischen Gesetzen der Bewegung der Himmelkörper derart überzeugt, dass er eine merkliche Größenveränderung von Himmelskörpern oder deren Bahnen angesichts des aus seiner Sicht mechanischen Ereignisses einer Sonnenfinsternis für unmöglich hielt. So konnte Kepler die Grenzen des bisher anerkannten Beobachtungsprinzips kritisch hinterfragen – und so verdanken wir ihm neben einer Revolution im Bereich der Astronomie außerdem die moderne Wissenschaft des Lichts.
Schau diese Sonnentaler. Liebevoll betrachtet er das Lichtspiel. – Ist es die Natur in ihrer Kunstmässigkeit, die ihre Schönheit ausmacht, und ist nicht die Technik ihre notwendige Bedingung? (…) Die kreisrunde Form verdanken sie den gebündelten Strahlen, die, gezwungen durch eine winzige Öffnung im Blattwerk, die Sonne abbilden – nach dem Prinzip der Camera obscura, für die der Physiker zuständig ist. Weiterlesen
Heute ist der Welttag des Buches. Dazu habe ich mich bereits in den Vorjahren geäußert (z.B. hier und hier). Auch habe ich kürzlich mein kleinstes Buch vorgestellt. Das größte Buch steht noch aus: Die Welt als Buch.
Diese Metapher hat zumindest seit den alten Griechen das westliche Denken mitbestimmt. Italo Calvino (1923 – 1985) sieht den Faden der Schrift als „Metapher für die staubförmige Substanz der Welt“ und weist darauf hin, dass „schon für Lukrez die Buchstaben Atome in permanenter Bewegung (waren), die durch ihre Permutationen die verschiedensten Wörter und Laute erzeugten, ein Gedanke, den eine lange Tradition von Denkern aufgreifen sollte, für die sich die Geheimnisse der Welt in der Kombinatorik der Schriftzeichen fanden“ [1].
Wenn aber die Welt ein Buch ist, dann muss man sie lesen können. Diese Aufgabe treibt insbesondere die Protagonisten der neuzeitlichen Physik um. Galileo Galilei (1564 – 1642) hat dies in einem viel zitierten Satz ausgesprochen und auch gleich die Art der Buchstaben benannt: Weiterlesen
Mein Kind, ich hab‘ es klug gemacht: Ich habe nie über das Denken gedacht*
In den Jahren, in denen Monet das eruptive Laubwerk und das Schimmern auf dem Teich in Giverny beobachtet, hörten die Physiker auf, an irgendeinem einfachen Konzept der Lokalisation in Zeit und Raum festzuhalten, und ersetzten es durch eine Vorstellung die verwandt ist mit Vibration, mit etwas Unwägbarem im Herzen der Dinge.* Weiterlesen
Ich löste die wächserne Schnur, und das Buch fiel in Falten aus Licht über meine Hände. Meine Hände zitterten unter dem Gewicht des Lichts. Die schweren gelben Rechtecke tränkten meine Handflächen und flossen über meine Hosenbeine. Meine Kleider waren von Licht durchtränkt. Ich fühlte mich wie ein Apostel. Ich fühlte mich wie ein Heiliger, nicht wie ein schmutziger müder Reisender in einem schmutzigen müden Zug. Es war natürlich ein Trick, ein Spiel der blassen Sonne, die durch das dicke Glas verstärkt wurde. Und doch machte mein Herz einen Sprung. Im Augenblick des bewegten Tümpels machte mein Herz einen Sprung. Ich legte meine Hand auf das Buch, es war warm es mußte in der Sonne gelegen haben. Ich lachte; ein paar Zeilen Physik waren in eine Wunder verwandelt worden. Oder: Ein Wunder war in ein paar Zeilen Physik verwandelt worden?
Ich drehte mich um und erblickte mein Spiegelbild im schwarzen Fenster…* Weiterlesen
Wieviel Engel sitzen können
auf der Spitze einer Nadel –
wolle dem dein Denken gönnen,
Leser sonder Furcht und Tadel!
»Alle!« wird’s dein Hirn durchblitzen.
»Denn die Engel sind doch Geister!
und ein ob auch noch so feister
Geist bedarf schier nichts zum Sitzen.«
Ich hingegen stell den Satz auf
Keiner! – Denn die nie Erspähten
können einzig nehmen Platz auf
geistlichen Lokalitäten.*
Als ich den Versuch von Vögeln beobachte, wie sie darum ringen auf die Nadelbaumspitze zu gelangen, wurde ich an die den Scholastikern zugeschriebene Frage erinnert, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben. Im Fall der gewissermaßen materiell beflügelten Wesen, vulgo Vögel, kann die Antwort durch bloßes Hinsehen gegeben werden (siehe Foto). Bei den immateriell beflügelten Geistwesen der Engel, die an keine Lokalitäten gebunden sind, dürfte die Frage Christian Morgenstern zufolge ähnlich einfach zu beantworten sein: keiner.
Vermutlich haben sich die Scholastiker gar nicht mit dieser Frage beschäftigt und es handelt sich um eine auf die (Nadel-)Spitze getriebene Übertreibung ihrer Gegner, um die Spitzfindigkeiten der Scholastiker zu karikieren bzw. diskreditieren. Sie ist bis heute nicht verstummt und hat meines Erachtens durchaus ein didaktisches Potenzial, wenn man beispielsweise an die Untersuchung von subatomaren Objekten mit Hilfe des Rastertunnelmikroskops (REM) denkt. Die Frage, wie viele Elektronen (jene hybriden Wesen zwischen materiellem Teilchen und immaterieller Welle) auf der Spitze des REM Platz haben, kann durchaus zu kreativen Diskussionen führen.
*Christian Morgenstern (1871 – 1914)
In der Belletristik kommen oft Einlassungen über die Physik vor. Erstaunt hat mich insbesondere eine Beschreibung, die in Molière‘s Komödie „Der Bürger als Edelmann“ zu lesen ist. Bei der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung schlägt der Philosophielehrer dem Herrn Jourdain u.a. vor, Physik zu lernen. Wörtlich heißt es da:
„PHILOSOPHIELEHRER: Wollen Sie vielleicht Physik lernen?
HERR. JOURDAIN: Was lehrt sie denn, diese Physik?
PHILOSOPHIELEHRER: Die Physik erklärt die Grundgesetze der natürlichen Vorgänge und die Eigenschaften der Körper, die Natur der Elemente, der Metalle, Mineralien, Gesteine, Pflanzen und Lebewesen und lehrt uns, wie Meteore, wie ein Regenbogen entstehen, wie Irrlichter, Kometen, Blitz und Donner, Gewitter, Regen, Schnee, Hagel, Winde und Luftwirbel zustande kommen.
HERR JOURDAIN: Da ist mir zuviel Getöse dabei, zuviel Wirrwarr.“*
Molière lebte von 1622 bis 1673, seine Lebensdaten überschnitten sich also mit denen der Begründer der neuzeitlichen Physik wie Johannes Kepler (1571 – 1630) und Galileo Galilei (1564 – 1642). Interessant ist insbesondere, dass der Schauspieler und Dramatiker Molière eine erstaunlich zutreffende Beschreibung gibt, die abgesehen davon, dass einige Betätigungsfelder inzwischen in eigene Disziplinen übergegangen sind, volle Gültigkeit besitzt.
Was die Antwort Jourdains hinsichtlich des Getöses betrifft, so sieht der erste deutsche Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) gut 100 Jahre später gerade in dem akustischen Aspekt des physikalischen Experimentierens ein wichtiges didaktisches Moment, wenn er sagt: „Ein physikalischer Versuch, der knallt, ist allemal mehr wert als ein stiller; man kann also den Himmel nicht genug bitten, daß, wenn er einen etwas will erfinden lassen, es etwas sein möge, das knallt; es schallt in die Ewigkeit.“**
So ändern sich die Zeiten.
* Molière: Der Bürger als Edelmann.Moliere. Komödien. Atemis & Winkler: München 1993, S,. 780
**Georg Christoph Lichtenberg. Sudelbücher. München 1987 (F 1138)
Nimm dir Zeit (Relativitätstheorie) und
komm zur Ruhe (Mechanik).
Genieße die Reflexionen und Brechungen des Lichts (Optik) und
lausche besinnlicher Musik (Akustik),
lass es dir bei einem warmen Getränk (Thermodynamik) gut gehen,
lade deine Akkus auf (Elektrizität),
lass die Annäherung der Engel zu (Aeronautik)
Fang einen fallenden Stern (Astronomie)
und…. genieße diese Tage!
Ein letztes kleines Rätsel – in diesem Jahr:
Um was für eine Kugel handelt es sich auf dem Foto?
Seit einigen Jahren führe ich im Frühsommer und im Herbst in Neustadt (Weinstraße) eine Lehrerfortbildung zum Thema „Kunst und Physik“ mit wechselnden Schwerpunkten durch. Ich bin mehrfach gebeten worden, dies in meinem Blog mitzuteilen. Heute findet eine solche ganztägige Fortbildung statt. Dabei geht es diesmal um den Schwerpunkt des Fensters aus künstlerischer und physikalischer Perspektive. Weiterlesen
Folge 2:
Geht man der Frage nach, was bis in unsere Tage den Gemälden Leonardos da Vincis so faszinierend ist, so kann man den Eindruck gewinnen, dass er nicht nur malte was er sah, sondern darüber hinaus zahlreiche optische Regeln anwandte, um sich auf kalkulierte Weise über das Reale hinwegzusetzen. Dabei gelang es ihm beispielsweise, der Mona Lisa über die bloße realistische Abbildung hinaus eine große Lebendigkeit zu verleihen. Er nutze einerseits einen Aspekt der Farbperspektive aus, der hier im Blauschleier zum Ausdruck kommt, der die fernen Gegenstände im Hintergrund umgibt. Dabei begründete er sein Vorgehen so: „Ein sichtbarer Gegenstand wird seine wirkliche Farbe in dem Maße weniger zeigen, in dem das zwischen ihn und das Auge eingeschobene Mittel an Dicke der Schicht zunimmt. Das Mittel zwischen dem Auge und dem gesehenen Gegenstand wandelt die Farbe dieses Gegenstandes zur seinigen um“ [1] . Andererseits berücksichtigte er das Phänomen, wonach ferne Gegenstände verschwommen erscheinen: „Scheinbild und Substanz der Dinge verlieren mit jedem Grad an Entfernung an Wirkungskraft, das heißt, je weiter der Gegenstand sich vom Auge entfernen wird, um so weniger (und unvollkommener) wird er mit seinem Scheinbild durch die (zwischengeschobene) Luft hindurchdringen können“ (ebd.).
Bei der Person selbst machte er auf einfühlsame Weise von Licht- und Schatteneffekten auf dem Körper und dem Gewand Gebrauch: „Von der Fleischfarbe und von den Gestalten in großer Entfernung vom Auge… Und vergiß ja nicht, die Schatten sollen nie so beschaffen sein, daß durch ihre Dunkelheit die Farbe an dem Ort, wo sie entstehen, ganz verlorengeht, außer der Ort, wo sich die Körper befinden, ist schon von sich aus finster… Mach keine scharfen Umrisse, löse keine Haare heraus, setze keine weißen Lichter, außer auf weiße Gegenstände. Und die Lichter sollen aus den Farben, auf die sie scheinen, die größte Schönheit herausholen“[2].
Leonardo überließ nichts dem Zufall, er hatte alles vorher erforscht und experimentell untersucht, so dass man mit Recht sagen kann: So physikalisch durchdacht und natürlich zugleich, hat vor ihm keiner gemalt. Dieses durch „physikalische“ Erkenntnisse bestimmte Vorgehen unterscheidet insbesondere die Mona Lisa von den Werken seiner zeitgenössischen Kollegen.
Der Kunsthistoriker und Experte für Leonardo da Vincis Werk, Martin Kemp, betont in diesem Zusammenhang, dass Leonardos Technik Ähnlichkeiten mit den Computersimulationen unserer Tage aufweist, mit denen heute natürlich wirkende Landschaften generiert werden. Auch bei ihnen spielt die physikalische Erfassung auch noch der kleinsten Effekte, die zum Eindruck des Bildes führen, eine wichtige Rolle: „Seine Studien von Licht, das ausgehend von einer punktförmigen Quelle die Konturen eines Gesichtes trifft (Abb. 10), veranschaulichen, daß es ihm darum ging, mittels eines Systems, das dem der Strahlenaufzeichnung in der Computergraphik entspricht, modellierte Formen zu erzeugen“ [3]. Doch diese Details bemerkt man erst auf dem zweiten Blick, wenn man sich u.a. klarmacht, dass
Wir haben es also mit einer virtuellen, konstruierten Wirklichkeit zu tun, in der der Künstler mit der gezielten Handhabung physikalischer Gesetzmäßigkeiten versucht, das Statische und Eingefrorene eines Gemäldes zu überwinden, das bei einer exakten Kopie der Natur so typisch ist.
[1] da Vinci, Leonardo, zit. nach: von Baeyer, Hans Christian: Regenbogen, Schneeflocken und Quarks. Reinbek: Rowohlt 1996
[2] da Vinci, Leonardo: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, zit. nach: André Chastel (Hrsg.) München: Schirmer/Mosel 1990
[3] Kemp, Martin: Leonardo. München: C.H. Beck 2004
Quelle Mona Lisa
Asymmetrie ist, ihren kunstsprachlichen Valeurs nach, nur in Relation auf Symmetrie zu begreifen.*
Diese Aussage ist durchaus auf die Physik zu übertragen, wenn man sich klarmacht, dass Symmetriebrüche erst in Bezug auf die Symmetrie begriffen werden können: Ohne Symmetrie kein Symmetriebruch.
Dass Kunst und Physik gerade was die Symmetrie betrifft zusammenhängen, hat der Physiker Hermann Weyl (1885 – 1955), u. A. Autor eines klassischen Werks über Symmetrie, folgenderamßen auf den Punkt gebracht: Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1.19 (2019), 82 Seiten
Vertrautes aus physikalischer Sicht
Es schien, als seien die umkränzten Lichtkreuze über Nacht in die Welt gesetzt worden. Nachdem ich diese merkwürdigen Objekte an Häuserwänden und Straßen (siehe S. 30) zum ersten Mal entdeckt hatte, sah ich sie von diesem Tag an überall. Freilich müssen die seltsamen Figuren schon vorher immer wieder auf meine Netzhäute gelangt sein, doch ich hatte sie bis dahin nicht bewusst wahrgenommen. Das ist typisch für viele Phänomene im Alltag und in der Natur. Man muss regelrecht lernen, sie zu sehen – und das gelingt am besten, indem man durch möglichst viele Beispiele dazu angeregt wird. Weiterlesen
Das ist der Fluch und Einwand gegen so Viele unter uns, da? Sie mit bewegter Zunge ihren Abscheu vor der Technik aussprechen! Das ist nicht neu : schon Schiller, Fouqueé, Tieck, gaben einem Widerwillen gegen die Mathematik ungescheut Ausdruck; ohne sich scheinbar im Geringsten darüber Gedanken zu machen, daß sie damit in unverantwortlichster Weise die Realität desavouierten; die verhängnisvolle Kluft verbreiterten, an deren Rändern wir heute verdutzt stehen.
Weiterlesen
Der Schriftsteller Arno Schmidt (1914 – 1979) nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine oft bissige Art auch Schriftstellkollegen wegen deren Unzulänglichkeiten bei naturwissenschaftlichen Fragen zu kritisieren, findet man wohl kein zweites Mal in der Belletristik . Weiterlesen
Dieser Satz stammt von Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799), der auf zahlreiche Grenzgänge zutrifft, die der erste Experimentanphysiker Deutschlands, Philosoph und Schriftsteller zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Forschungsbereichen und gedanklichen Exkursionen unternommen hat. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. In: Stefan Kolling (Hrsg.): Beiträge zur Experimentalphysik, Didaktik und computergestützten Physik. Berlin: Logos 2007, S. 237 – 260
Zwischen der Musik als akustischem Phänomen und der physikalischen Forschung als einer Art Suche nach musikalischen Harmonien bestehen zahlreiche Beziehungen. Bei der Beschreibung von Musik und Musikinstrumenten spielt die Physik eine wichtige Rolle. Umgekehrt hat die Musik weit über rein metaphorische Bezüge hinausgehend vor allem in der revolutionären Phase, die der Ausbildung des Paradigmas der neuzeitlichen Physik vorausging, der physikalischen Forschung wichtige Impulse gegeben. Vor dem gemeinsamen kulturellen Hintergrund der Entwicklung von neuzeitlicher Musik und Physik werden einige Aspekte dieser Beziehungen skizziert.