Ja, die Dämmerung- der Augenblick des planetarischen Schattens – ist die Zeit, in der man großen Gedanken am wahrscheinlichsten begegnen kann. Wegen irgendeines Machtkampfs zwischen den Zapfen und Stäbchen der Netzhaut, der mit dem Nahen der Dunkelheit ausbricht, gibt es ungefähr eine Viertelstunde, in der die Farben, wenngleich weniger deutlich, ungeheuer pigmentiert erscheinen und die wichtigen Dinge, Gesichter und insbesondere die Zähne eines Lächelns, zu Quellen warmen Lichts werden; genau dann können große Gedanken am besten dabei beobachtet werden, wie sie über ihre düsteren Veranden schlendern und aus ihren Kodizes rezitieren.*
Außerdem kann man drei Tage vor dem Jahreswechsel durchaus schon mal anfangen, sich große Gedanken für das Neue Jahr zu machen, auch wenn man angesichts der Einschränkungen durch Corona meinen könnte, es lohne sich nicht, sich groß Gedanken zu machen.
* Nicholson Baker. U&I. Wie groß sind die Gedanken. Reinbek 1999, S.222
Wie oft hatte ich mir vorgenommen, den Sonnenaufgang zu beobachten, zu sehen, was von seiner so häufig besungenen Inspirationskraft noch übrig war, aber immer war ich zu faul gewesen, extra dafür aufzustehen. Der rosige Rand hinter dem Eichenknick hob sich langsam auf Wipfelhöhe, wurde am Horizont über den Weiden kräftiger, satter, in die von Wolken freigegebenen Himmelsstücke floß ein durchsichtiges Blau, und dann erschien der glühende Rand, unterbrochen von den noch schwarzen Baumstämmen, ließ im Höhersteigen deren dunkle Konturen zu einem lässigen Tanz verschwimmen, ergoß sich in flüssigen Bahnen über den Acker, erreichte die Fundamente unseres Hauses, stieg zu den Fenstern, kitzelte mein Gesicht, und plötzlich wußte ich wieder, warum der Umzug von Hamburg aufs flache Land die richtige Entscheidung gewesen war. *
* Klaus Modick. Ins Blaue. Reinbek 1987. S. 191
Die fernen Berge versinken in einem hellen Blau. Dort irgendwo muss unser Ziel sein. Wir sind den Weg noch nicht gegangen, wir wissen nicht, was uns erwartet – wir gehen ins Blaue.
Ins Blaue gehen ist mit Unvorhersehbarkeiten, aber auch bewusster Planlosigkeit und dem damit verbundenen Wunsch nach Überraschungen verbunden.
Physikalisch gesehen ist das Blau der Ferne aus zahlreichen Streuvorgängen des Sonnenlichts an den Luftmolekülen hervorgegangen. Das Licht hat Wege zurückgelegt, die nicht zurück verfolgt werden können. Die ganze Erde ist von einem Blauschimmer umgeben – wir leben auf dem blauen Planeten.
Doch was steckt hinter dem Blau? Erwartet man etwas von ihm, wenn man ins Blaue geht oder fährt? Eine Antwort findet man in Kurt Tucholskys heiter melancholischer Sommergeschichte Schloss Gripsholm: „Dann blickten wir wieder zum Himmel auf. Da war nichts. Er lag glatt, blau und halbhell. Da war nichts.“
In welches Blau blickt der Mensch auf dem Foto?
* Kurt Tucholsky. Schloss Gripsholm. Hamburg 2014, S. 56
Die tieferliegenden dunklen Wolken, die vom Horizont kommend auf uns zu und dann über uns hinweg zogen machten für den Zeitraum von etwa zwanzig Minuten den Blick frei auf die ferneren und höheren Wolken, die voll im Rot des Sonnenuntergangs aufflammten. Das Foto zeigt einen Blick durch das Fenster vor meinem Schreibtisch. Ich finde die Intensität des Rots insofern erstaunlich, als mir nicht bekannt ist, dass aktuell irgendein Naturereignis (Vulkanausbruch, Sandsturm aus der Sahara u.ä.) dafür verantwortlich gemacht werden könnte. Aber eindrucksvoll war es trotzdem.
Dass die Sonne bei Auf- und Untergängen rot wird, ist grob gesagt die Kehrseite dessen, dass der Himmel blau ist. Die Rotfärbung kann durch größere Streupartikel (Staub, Tropfen u.ä.) intensiviert werden. Eine besondere „Vorstellung“ erlebt man, wenn – wie im vorliegenden Fall – das rote Sonnenlicht auf spektakuläre „Leinwände“ in Gestalt von Wolken projiziert wird.
Wenn uns der Schnee in diesem Winter wohl versagt sein wird, möge uns das Foto vom vorletzten Winter daran erinnern, was uns u.A. entgeht. Hier sind es Dämmerungsfarben bei Sonnenaufgang, die von den schneebedeckten Bäumen weitgehend unverfälscht wiedergegeben werden. Weil der Schnee weiß ist, reflektiert er (diffus) das auftreffende Sonnenlicht ungestört. Das ist bei den anderen Oberflächen nicht so. Die Nadeln der Fichten absorbieren aus dem weißen Sonnenlicht rotes und blaues Licht und senden den grünen Rest wieder aus. Weil im rötlich erscheinenden Dämmerungslicht kaum noch Blauanteile enthalten sind und die Lichtintensität realtiv gering ist, erscheinen sie dort, wo sie vom Sonnenlicht getroffen werden, ziemlich dunkel. Durch diesen Kontrast wird die Helligkeit des rot aufflammenden Schnees (fast ein Oxymoron) noch unterstrichen. Man kann dieses Farbphänomen als eine Art Alpenglühen ansehen, das ansonsten bei Dämmerung an hellen Felswänden zu beobachten ist und manchmal eine ganze Ortschaft betrifft.
Der im Schatten liegende Schnee verhält sich entsprechend, indem er das blaue Himmelslicht reflektiert und daher blau aussieht. Oft erkennen wir das nicht, weil unser visuelles System aufgrund der Farbkonstanz die überwiegende Farbe als weiß definieren “möchte” und damit auch in der Regel sehr erfolgreich ist. Weiterlesen
Folge 2:
Geht man der Frage nach, was bis in unsere Tage den Gemälden Leonardos da Vincis so faszinierend ist, so kann man den Eindruck gewinnen, dass er nicht nur malte was er sah, sondern darüber hinaus zahlreiche optische Regeln anwandte, um sich auf kalkulierte Weise über das Reale hinwegzusetzen. Dabei gelang es ihm beispielsweise, der Mona Lisa über die bloße realistische Abbildung hinaus eine große Lebendigkeit zu verleihen. Er nutze einerseits einen Aspekt der Farbperspektive aus, der hier im Blauschleier zum Ausdruck kommt, der die fernen Gegenstände im Hintergrund umgibt. Dabei begründete er sein Vorgehen so: „Ein sichtbarer Gegenstand wird seine wirkliche Farbe in dem Maße weniger zeigen, in dem das zwischen ihn und das Auge eingeschobene Mittel an Dicke der Schicht zunimmt. Das Mittel zwischen dem Auge und dem gesehenen Gegenstand wandelt die Farbe dieses Gegenstandes zur seinigen um“ [1] . Andererseits berücksichtigte er das Phänomen, wonach ferne Gegenstände verschwommen erscheinen: „Scheinbild und Substanz der Dinge verlieren mit jedem Grad an Entfernung an Wirkungskraft, das heißt, je weiter der Gegenstand sich vom Auge entfernen wird, um so weniger (und unvollkommener) wird er mit seinem Scheinbild durch die (zwischengeschobene) Luft hindurchdringen können“ (ebd.).
Bei der Person selbst machte er auf einfühlsame Weise von Licht- und Schatteneffekten auf dem Körper und dem Gewand Gebrauch: „Von der Fleischfarbe und von den Gestalten in großer Entfernung vom Auge… Und vergiß ja nicht, die Schatten sollen nie so beschaffen sein, daß durch ihre Dunkelheit die Farbe an dem Ort, wo sie entstehen, ganz verlorengeht, außer der Ort, wo sich die Körper befinden, ist schon von sich aus finster… Mach keine scharfen Umrisse, löse keine Haare heraus, setze keine weißen Lichter, außer auf weiße Gegenstände. Und die Lichter sollen aus den Farben, auf die sie scheinen, die größte Schönheit herausholen“[2].
Leonardo überließ nichts dem Zufall, er hatte alles vorher erforscht und experimentell untersucht, so dass man mit Recht sagen kann: So physikalisch durchdacht und natürlich zugleich, hat vor ihm keiner gemalt. Dieses durch „physikalische“ Erkenntnisse bestimmte Vorgehen unterscheidet insbesondere die Mona Lisa von den Werken seiner zeitgenössischen Kollegen.
Der Kunsthistoriker und Experte für Leonardo da Vincis Werk, Martin Kemp, betont in diesem Zusammenhang, dass Leonardos Technik Ähnlichkeiten mit den Computersimulationen unserer Tage aufweist, mit denen heute natürlich wirkende Landschaften generiert werden. Auch bei ihnen spielt die physikalische Erfassung auch noch der kleinsten Effekte, die zum Eindruck des Bildes führen, eine wichtige Rolle: „Seine Studien von Licht, das ausgehend von einer punktförmigen Quelle die Konturen eines Gesichtes trifft (Abb. 10), veranschaulichen, daß es ihm darum ging, mittels eines Systems, das dem der Strahlenaufzeichnung in der Computergraphik entspricht, modellierte Formen zu erzeugen“ [3]. Doch diese Details bemerkt man erst auf dem zweiten Blick, wenn man sich u.a. klarmacht, dass
Wir haben es also mit einer virtuellen, konstruierten Wirklichkeit zu tun, in der der Künstler mit der gezielten Handhabung physikalischer Gesetzmäßigkeiten versucht, das Statische und Eingefrorene eines Gemäldes zu überwinden, das bei einer exakten Kopie der Natur so typisch ist.
[1] da Vinci, Leonardo, zit. nach: von Baeyer, Hans Christian: Regenbogen, Schneeflocken und Quarks. Reinbek: Rowohlt 1996
[2] da Vinci, Leonardo: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, zit. nach: André Chastel (Hrsg.) München: Schirmer/Mosel 1990
[3] Kemp, Martin: Leonardo. München: C.H. Beck 2004
Quelle Mona Lisa
Auf einem Flug über Spanien/Portugal. Seit mehr als einer Stunde nur Wolken. Darüber die gleißend helle Sonne. Die in einem satten Weiß reflektierenden Wolken sind auch nicht viel besser. Man muss schon eine Sonnenbrille aufsetzen, um dem überbordenden Ansturm des weißen Lichts problemlos standhalten zu können.
Dann plötzlich dieses Bild. Berge, die aus der offenbar niedrigen Wolkendecke herausragen (siehe unteres Foto). Und zu meiner großen Überraschung sind sie schneebedeckt. Die Sierra Nevada kann es nicht sein, denn wir befinden uns viel weiter westlich. Offenbar ist es einfach so kalt, dass der Schnee hier eine Zeit lang liegenbleibt. Weiterlesen
Das letzte Kapitel, das ich geschrieben habe, hieß: Sonnenuntergänge. Wissen Sie, die Tatsache, daß die Tage enden, ist einfach genial. Ein geniales System. Erst Tage und dann Nächte. Und wieder Tage. Das hört sich banal an, hat aber etwas Geniales. Dort wo die Natur beschließt, sich selbst Grenzen zu setzen, entlädt sich eine Sensation. Sonnenuntergänge. Wochenlang habe ich sie erforscht. Es ist nicht so leicht, einen Sonnenuntergang zu erfassen. Er hat seine Zeiten, seine Ausmaße, seine Farben. Und da nicht ein Sonnenuntergang – nicht ein einziger, sage ich – dem anderen gleich ist, muß man als Wissenschaftler die jeweiligen Besonderheiten zu unterscheiden wissen und das Wesentliche herausarbeiten bis man in der Lage ist zu sagen, dieses ist ein Sonnenuntergang, der Sonnenuntergang schlechthin. Langweile ich Sie?“*
Die Farben eines Sonnenuntergangs sind die Kehrseite des Himmelsblaus. Da das Licht der Sonne beim Untergang einen sehr langen Weg durch die untersten und daher dichtesten Schichten der Atmosphäre zurücklegen muss, wird sehr viel Licht, vorwiegend kurzwelliges (violetes und blaues) Licht gestreut (Rayleighstreuung). Es bleibt also vorwiegend langwelliges (gelbes und rotes) Licht übrig.
*Alessandro Baricco. Oceano Mare – Das Märchen vom Wesen des Meeres. München 2001.
Wie ensteht diese Struktur am Sandstrand? Weiterlesen
Ein Spiegelbild ist nicht materiell,
doch wirklich; man sieht es,
jeder kann es ansehen, greifen keiner.
Ulrike Draesner (*1962)
Es scheint als würde unter dem Pflaster ein Kirschbaum blühen. Schaut genau hin! Der im Wasser gespiegelt zu sehende Baum blüht jetzt im Winter in einem hellen Schneegewand. Der Frühling ist noch in weiter Ferne. Weiterlesen
Als wir gehen und einen letzten Blick durch den Bogen des Schlosstors werfen, ist der ganze Regen des großen Springbrunnens vom Sonnenuntergang durchflammt, wie ein Opal im Feuerschein.
Edmond und Jules de Goncourt: Tagebücher. Frankfurt: Insel Verlag 1996. Weiterlesen
Ein Sonnenaufgang ist schon lange nicht mehr das, was er sprachlich vorgibt zu sein. Da geht nichts auf, was vorher zu war. Da entsteht nichts, was später wieder verschwindet. Sowohl im geozentrischen als auch im heliozentrischen Weltbild entsteht dieser Eindruck dadurch, dass sich die Erde und die Sonne relativ zueinander bewegen. Wir gehen neuzeitlich-kopernikanisch davon aus, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, weil ansonsten beispielsweise die Sterne – je weiter desto schneller – kollektiv um die Erde rotieren müssten und das für entfernte Sterne auch noch mit Überlichtgeschwindigkeit. Trotzdem bleibt es beim Sonnenauf- und -untergang. Weiterlesen
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Rainer Maria Rilke