//
Artikel Archiv

Realität

Diese Schlagwort ist 10 Beiträgen zugeordnet

Physik und Literatur – Von Sand und Pixeln

Früher wurden die Bilder noch über den Umweg – Auge-Gehirn-Hand-Pinsel – gestaltet. Heute sind es Pixel, in ihrer Abstraktheit kaum zu überbieten. Dennoch vertrauen wir ihnen oft mehr als dem Auge von – sagen wir – Leonardo da Vinci. So habe ich die Wüste gesehen, denke ich, wenn ich den hier visualisierten Datensatz vor Augen habe (siehe Foto). Am besten man denkt nicht weiter darüber nach. Oder? Lassen wir noch kurz Ulrike Draesner zu Wort kommen, die sich darüber Gedanken macht:

Lukas stand auf einem Küchenstuhl und preßte mit aller Kraft eine Reißzwecke in die Wand. Sein Daumennagel war ganz weiß, die Fingerkuppe puterrot. Im Institut hatten sie beim Aufräumen ein Poster mit einer Erdaufnahme des Hubble Space Telescope entdeckt. Da niemand es wollte, hängte Lukas es jetzt überm Küchentisch auf.
Aloe hatte einfach getan, als interessiere sie sich plötzlich brennend für Formel I. Sein Versuch, mit ihr zu reden, war fehlgeschlagen.
Kaum nahm Lukas den Daumen von der Wand, fiel die Reißzwecke wieder heraus. Wahrscheinlich steckte ausgerechnet an dieser Stelle ein Stein. Aber er konnte nicht ausweichen, ohne die drei anderen Kartenecken, die er schon angepinnt hatte, auch wieder zu lösen. Lukas stieg vom Stuhl und betrachtete die aus Millionen von Datenbits zusammengepixelte Aufnahme. Eine geradezu mystische Verschmelzung von Präzision und Phantasie. Alle Pixel echt, alle Farben falsch. Bodenschätze, versteckte Stollen, Ölfelder, Brände und Wald. Computerrhododendren sprossen über die Ozeane, durch die Wüsten zogen sich feine schaumige Riffs weißlicher Stürme, um den Nordpol flockte eine Wolke heller Bläschen, die aussahen, als stecke in jeder ein Babyhai, der in seiner Raumfahrerkapsel durch eine gallertige Masse Nahrung trieb. Jede Farbe ein Ausbruch, ein Gefühl, vieldeutig und rätselhaft. Über Mittelamerika saß eine riesige, grünbraun gesprenkelte Schildkröte, in deren Mitte ein roter Fleck leuchtete wie ein zyklopisches Auge. Er mochte diese Mischung von Genauigkeit und Wahn. Sie erinnerte ihn an mittelalterliche Gemälde vom Rand der Welt und seinen fabelhaften Wesen; hier kehrten sie als harte >Fakten< wieder, waren aber eigentlich nichts als eine Folge von Nullen und Einsen, kein einziges Pigment zunächst, kein einziges Element – ganz irrealer Stoff.
*


* Ulrike Draesner. Mitgift. München: Luchterhand 2002, S. 129f

Werbung

Virtuelle Herausforderung

Es ist wahrlich kein erbauendes Gefühl, sich selbst zwar verdoppelt aber kopflos gegenüberzustehen. Und da sage doch jemand, Spiegel seien verlässlich. Rein physikalisch gesehen sind sie es auch: Einfallswinkel = Reflexionswinkel und erst dadurch entsteht das Malheur. Ein gewellter, eingedellter Spiegel kann eben auch nur ein gewelltes und gedelltes Abbild hervorbringen. Dabei kann es je nach Blickwinkel neben abenteuerlichen Verzerrungen zu Überlagerungen und Verdeckungen, wobei oft entscheidende Partien einer Person dem Blick entzogen werden*.
Dennoch oder vielleicht auch deshalb sind solche meist in Science Centern mehr zur Belustigung als zur Aufklärung aufgestellten Zerrspiegel sehr beliebt. Das Vergnügen, sich in der Spiegelwelt je nach Position und Blickwinkel deformiert und depriviert, aber trotzdem nicht deprimiert zu sehen, resultiert vielleicht auch daraus, dass man im tiefsten Inneren die ebenso tiefe Überzeugung spürt, trotzdem in Wirklichkeit wirklich alles beieinander zu haben. Ich habe Kinder erlebt, die nach einigen Spielchen mit dem Zerrspiegel anschließend zum manchmal daneben angebrachten Planspiegel gegangen sind, vielleicht um sich ihrer körperlichen Integrität zu versichern. Man kann ja nie wissen.
Wenn Ödön von Horváth (1901 – 1938) in diesem Zusammenhang meint:
Mancher müßte in einen Zerrspiegel schauen,
um erträglich auszusehen,

so steckt angesichts des Fotos dahinter schon eine ganze Portion Bosheit.


* Wer kein Science-Center u. Ä. in der Nähe hat, kann sich mit den wandelnden Zerrspiegeln auf den Straßen und Parkplätzen vergnügen. Besonders die gut geputzten Karossen zeigen exzellente Verzerrungen.

Täuschung und Enttäuschung

Was sich hier sich als Holzstamm darstellt, ist es nur zum Teil, wie ein Blick aus einer etwas anderen Perspektive zeigt. Es ist ein alter Zaunpfahl verlängert durch seinen Schatten. Hätte man das sehen können? Vielleicht, wenn man die scheinbare Durchdringung des Schattens durch Gräser bemerkt hätte.
Ich selbst habe zunächst einen längeren Pfahl gesehen und bin erst auf das Phänomen aufmerksam geworden, als ich im Vorbeigehen aus dem Augenwinkel zu sehen vermeinte, wie der scheinbar solide Pfahl im oberen Drittel abknickte. Weiterlesen

Möven über und unter der Wasseroberfläche

Möwenflug

Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
Und zugleich im grünen Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit. Weiterlesen

Never ending stories II – gespiegelte Unendlichkeit

Mit Spiegeln kann man unendlich große virtuelle Räume schaffen – instantan, geräuschlos und ohne die Umwelt zu belasten. Das ist beeindruckend! Ein durch Spiegelung geschaffener Raum ist im Idealfall (wenn sich der Beobachter ganz klein macht, um auf der Symmetrieachse zu sitzen) rein optisch vom realen Raum nicht zu unterscheiden. Mit den dadurch gegebenen Möglichkeiten experimentieren die Künstler schon von jeher. Weiterlesen

Im Bilde sein…

Ich habe immer wieder nach einem Bild gesucht, das die Realitäten und Fiktionalitäten meiner frei flottierenden Gedanken am besten einfangen könnte, denn mit Worten lässt sich ohnehin nicht beschreiben, was im Gehirn abläuft. Es lässt sich allenfalls symbolisch erfassen. Dieses Bild fand ich im Blick in eine Schaufensterscheibe, in der sich Reales und Gespiegeltes ungestört überlagern. Diese freie Superposition, in der sich verschiedene Welten ineinanderschieben, getragen von Gedanken, die grenzenlos Wirkliches und Mögliches auf derselben Bühne auftreten lassen und zugleich als Darsteller, Betrachter und Kritiker fungieren, scheint mir hier auf zeitgemäße Weise anschaulich zu werden. Weiterlesen

Abstraktionen des Realen

abstrakt_1_dsc05775Alles Abstrakte wird durch Anwendung dem Menschenverstand genähert,
und so gelangt der Menschenverstand
durch Handeln und Beobachten zur Abstraktion.

Johann Wolfgang von Goethe Weiterlesen

Kaleidoskopische Aus- und Einsichten

Kaleidoskop_1_rvDenken wir uns, um dies klarzumachen, einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände außerhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiß. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach außen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit welchem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Weiterlesen

Der Tanz ist realer als die Tanzenden

Der-Tanz-ist-realerEine der wichtigsten Einsichten der modernen Physik besteht darin, dass die abstrakten Muster der physikalischen Welt realer sind als die materiellen Dinge, die man „in die Hand nehmen kann“ (Paul Valéry (1871 – 1945)). Oder, wie C. K. Cole es ausdruckstark formuliert: „Der ‚Tanz‘ ist realer als die Atome.(…) Das, was die Materie und die Kräfte fest und ewig macht, sind fast immer unfaßbare, sich ständig wiederholende Rhythmen, die von einem ständig wechselnden Chor gesungen werden. Atome kommen und gehen, aber Erinnerungen können sich ein Leben lang halten. Das Gesetz der Schwerkraft saugt Sterne und Planeten zu Kugelform, unabhängig davon, woraus sie bestehen… Weiterlesen

Flecken auf der Geige abspielen

DiePareidolie2 Holzstruktur, die beim Absägen eines Baumes zum Vorschein kommt, könnte der Form nach an ein Huhn erinnern. Die Frage, ob dieses Huhnartige auch dann als solches vorhanden wäre, wenn man den Baum nicht abgesägt hätte, oder vielmehr, wenn ich es nicht betrachtet hätte und mir diese Gedanken gekommen wären, erscheint müßig. Dennoch ist sie nicht ganz ohne Reiz. Georg Christoph Lichtenberg berührt mit den folgenden Worten einen ganz ähnlichen Aspekt:

„Euler sagt in seinen Briefen über verschiedene Gegenstände aus der Naturlehre …, es würde eben so gut donnern und blitzen, wenn auch kein Mensch vorhanden wäre, den der Blitz erschlagen könnte. Es ist ein gar gewöhnlicher Ausdruck, ich muß aber gestehen, daß es mir nie leicht gewesen ist, ihn ganz zu fassen. Mir kommt es immer vor, als wenn der Begriff sein etwas von unserm Denken Erborgtes wäre, und wenn es keine empfindenden und denkenden Geschöpfe mehr gibt, so ist auch nichts mehr. So einfältig dieses klingt, und so sehr ich verlacht werden würde, wenn ich so etwas öffentlich sagte, so halte ich doch so etwas mutmaßen zu können für einen der größten Vorzüge, eigentlich für eine der sonderbarsten Einrichtungen des menschlichen Geistes. Dieses hängt wieder mit meiner Seelenwanderung zusammen. Ich denke, oder eigentlich, ich empfinde hierbei sehr viel, das ich nicht auszudrücken im Stande bin, weil es nicht gewöhnlich menschlich ist, und daher unsere Sprache nicht dafür gemacht ist. Gott gebe, daß es mich nicht einmal verrücke macht. So viel merke ich, wenn ich darüber schreiben wollte, so würde mich die Welt für einen Narren halten, und deswegen schweige ich. Es ist auch nicht zum Sprechen, so wenig als die Flecken auf meinem Tisch zum Abspielen auf der Geige.

Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher [K 45]

Photoarchiv