FORM UND STOFF
Herr K. betrachtete ein Gemälde, das einigen Gegenständen eine sehr eigenwillige Form verlieh. Er sagte: Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu mußte er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zu viel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?*
In dieser Herr-Keuner-Geschichte bringt Bertolt Brecht auf poetische Weise zum Ausdruck, dass man durch Idealisierung der Wirklichkeit verlustig gehen kann. Das hat durchaus einige Relevanz für die Physik, denn diese ist auf Idealgestalten gegründet. Das ist ein wesentlicher Aspekt der physikalischen Sehweise und ihres Erfolgs. Aber es sollte niemals vergessen werden, dass damit nur eine von mehreren Perspektiven der Wirklichkeit angesprochen wird. Wenn man diese Idealgestalten stillschweigend voraussetzt und nicht selbst zu einem wichtigen Gegenstand des Nachdenkens über Physik macht, läuft man Gefahr, dass die Physik unverständlich bleibt und vor allem die Laien sich von der Physik abwenden oder sich ihr gar nicht erst zuwenden.
„Je tiefer man übrigens eindringt, je mehr man wegschneidet, je fester man umklammert, was man festhält- das scheinbar Reale-, desto näher findet man sich dem Unverstehbaren, dem In-bezug-auf-den-Menschen-Formlosen; dem Unähnlichen– die Wahrheit hat mit nichts Ähnlichkeit“**.
*Bertolt Brecht. Geschichten vom Herrn Keuner. Frankfurt/Main 2004, S. 15
** Paul Valéry. Cahiers 2. Frankfurt 1988
Wenn man ein solches Gebäude mit gekrümmten Fassaden erblickt, wird man vielleicht an moderne Architektur à la Hundertwasser erinnert… Aber nein, nicht wirklich. Denn die Linien sind doch wohl etwas zu umstürzlerisch. Außerdem erscheinen sie genau in den Kreuzungen der Sprossen des Fensters, durch das man blickt zusammengezogen zu werden. Man wird ziemlich schnell das Fenster im Verdacht haben. Richtig, es handelt sich um eine Doppeltverglasung und die führt in den meisten Fällen dazu, dass die Scheiben infolge unterschiedlichen Luftdrucks innerhalb und außerhalb der Scheiben deformiert werden. Diese Deformationen führen meist zu kissenförmigen Verzerrungen der Gegenstände, die man im Blick hat.
Aber wie wäre es, wenn wir gar keinen Hinweis auf das Fenster hätten? Würden wir dann die Realität anders wahrnehmen. Würden wir etwa davon ausgehen, dass gesehene Gegenstände je nach Blickwinkel ihre äußere Form ändern? Welche Wirklichkeitsauffassung resultierte daraus? Ich will den Gedanken nicht weiterspinnen, obwohl er geeignet ist, einige stillschweigende Voraussetzungen der Wahrnehmung zu unterminieren. Und da wir nun mal nicht ständig durch Fenster blicken, sind diese Fragen außerdem sehr hypothetisch. Sind sie das wirklich? Sind nicht auch unsere Augen eine Art Fenster? Jedenfalls blicken wir durch den Glaskörper, die Linse, die Hornhaut und nehmen alles auch noch auf dem Kopf stehend wahr. Ist das wirklich vertrauenswürdig? Nun, wir haben nichts Besseres und kommen in der Regel bestens damit zurecht – von Augenfehlern einmal abgesehen. Jedenfalls macht unser Gehirn aus den Seheindrücken die schöne, stabile, in Senkrechten und Waagerechten normierbare Welt. Aber ist nicht gerade darin das Problem zu sehen? Sind wir noch Herr im eigenen Hause?
Am 19. Februar 1473 wurde Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) geboren. Er revolutionierte die Vorstellung der Menschen von der Welt, indem er sich für das heliozentrische Weltbild einsetzte, das bereits Aristarch von Samos (310 – 230 v. Chr.) überzeugender fand als die Vorstellung, dass sich alles um die Erde dreht. Dass sich diese Vorstellung durchsetzte kann als Sieg der reflektierten Anschauung über den unreflektierten Augenschein gefeiert werden. Es spricht einiges dafür, dass der Zeitpunkt für diesen neuerlichen Vorstoß, die Sonne ins Zentrum zu setzen, gut gewählt war. Denn in dieser Zeit etablierte sich das perspektivische Sehen im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn in Kunst und Wissenschaft: Die Erkenntnis, dass man einen bestimmten Standpunkt einnehmen muss, um perspektivisch zu sehen, könnte Kopernikus auf den Gedanken gebracht haben, sich gedanklich auf die Sonne zu versetzen und von dort auf die Erde und die anderen Planeten zu blicken. Dabei wird er die Erde als Planet „gesehen“ haben, der wie alle anderen Planeten auch die Sonne umkreist. Mit den Worten von Hans Blumenberg (1920 – 1996): Weiterlesen
Vor ein paar Tagen besuchte ich ein Museum. Um die Gemälde in Ruhe betrachten oder sich ausruhen zu können, gibt es entsprechende Sitzgelegenheiten. Diese wurden auch intensiv zur Betrachtung genutzt. Ob dabei über eine entsprechende App die in dem Museum ausgestellten Bilder in einem Format betrachtet wurden, an das die heutigen Sehgewohnheiten besser angepasst sind, blieb mir allerdings verborgen.
Immerhin ließ man sich die Museumsatmosphäre nicht entgehen. Dafür gibt es demnächst vielleicht auch eine App.
Georg Christoph Lichtenberg ist einer der ersten, der die Tragweite der Entdeckung der Linse für die Naturwissenschaften und für die Menschheit ganz allgemein erkennt und ausdrucksstark beschreibt. Dabei bringt er aber auch die metaphorische Potenz der Linse als „tubis heuristicus“ gegen die Möglichkeiten der realen Linse in Stellung. Weiterlesen
Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) war Physiker und Schriftsteller. Er lebte in beiden „Welten“ und blickte von der einen in die andere ohne der von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuchung zu erliegen, die Differenzen zwischen beiden Sehweisen einebnen zu wollen. So konnte er aus unvertrauter Perspektive auf Vertrautes blicken und die Dinge so sehen, wie sie noch nicht gesehen worden waren. Er folgte dabei der Regel „nicht bloß aus Beschreibungen anderer, sondern so viel wie möglich durch eigenes Anschauen (zu lernen). Man muß die Sachen oft in der Absicht ansehen, etwas daran zu finden, was andere noch nicht gesehen haben“ (G 206). Von Lichtenberg kann man lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen und auch im Alltäglichen Physikalisches zu entdecken. Weiterlesen
Denken wir uns, um dies klarzumachen, einen Menschen, der ein Kaleidoskop für ein Fernrohr hält. Er glaubt höchst merkwürdige Gegenstände außerhalb wahrzunehmen und widmet ihrer Betrachtung allen Fleiß. Er soll nun in einen engen Raum eingeschlossen sein. Nach der einen Seite hat er ein Fensterchen, welches ihm einen beschränkten und getrübten Blick nach außen eröffnet; nach einer andern Seite ist das Rohr, mit welchem er in die Ferne zu sehen glaubt, fest in die Wand eingeschlossen. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. In: Praxis der Naturwissenschaften -Physik in der Schule 64/6 (2015), S. 9 – 12
„dieser tote sperling“, flüstert einer,
„wird noch durch einen leeren himmel fliegen.“
Jan Wagner (*1971)
Der Beginn der neuzeitlichen Physik wird oft mit Galileo Galilei in Verbindung gebracht, weil er es wagt, die Welt zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Diese neue Sehweise brachte ihm Verständigungsschwierigkeiten mit seinen Kollegen insbesondere den Kirchenvertretern ein, die in mancher Hinsicht an die Lernschwierigkeiten unserer Schülerinnen und Schüler erinnern. An diesem historischen Beispiel können diese oft unterschätzten Probleme aus der Distanz betrachtet und möglicherweise mit Gewinn für das Physiklehren und -lernen diskutiert werden.
Abbildung aus: Brüche, Ernst (Hrsg.) (1964): Sonne stehe still. Mosbach: Physik Verlag
Sonderdruck kann beim Autor angefordert werden (schlichting@uni-muenster.de)
Schlichting, H. Joachim. In: Physik und Didaktik in Schule und Hochschule 2/2, 81-89 (2003).
Die Linse ermöglicht den mikroskopischen und teleskopischen Blick in „Welten“, die dem „unbe-waffneten“ Blick prinzipiell verschlossen sind. Die nach ihrer Entdeckung einsetzenden naturwis-senschaftlichen Bemühungen, die Mikro- und der Makrowelt zu erschließen, stießen bald an eine Grenze, die in der Natur des Lichts erkannt wurde. Dadurch wurde eine Entwicklung in Gang ge-setzt, die schließlich zur Überwindung der optischen Sichtbarkeit führte und die Voraussetzungen für die moderne Mikrophysik und Kosmologie schuf. Dem Sehen kommt dabei nach wie vor eine große Bedeutung zu und wirft die didaktisch relevante Frage auf, welche Beziehungen zwischen dem Bild, dem als Konstrukteur handelnden Beobachter und der Realität auszumachen sind.
Schlichting, H. Joachim. In: PhyDid 1/2 (2003) S. 9-18.
An der Schwelle zur Neuzeit steht ein technisches Objekt, ein Produkt der Brillenmacher, ein „Stückchen Glas, …auf Staub“ abgerieben: die Linse. Wie ein Deus ex machina fällt sie Galilei in die Hände und wird im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne für eine verbesserte, ja eine neue Sehweise sorgen. Die vorher undenkbare Verbindung von Handwerkskunst und spekulativer Welterkenntnis, wird zu einem typischen Aspekt der neuzeitliche Physik.
PDF: Die Welt jenseits der geschliffenen Gläser – Zur Bedeutung des Sehens in der klassischen Physik
H. Joachim Schlichting. In: Reich, Hans H.; Holzbrecher, Alfred; Roth, Hans Joachim (Hrsg.) Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 359 –387.
Interkulturelles Lernen im engeren Sinne spielt meines Wissens in der Physikdidaktik kaum eine Rolle. Die Lernenden bekommen im Gegenteil gewissermaßen als Metalesson vermittelt, daß Physik kulturunabhängig sei. In Afrika, China, Südamerika usw. würde dieselbe Physik betrieben wie in Europa und den USA. Die in dieser Ansicht enthaltenen Mißverständnisse und Probleme sollen hier nur angedeutet werden. Hervorheben möchte ich einen Aspekt, der normalerweise nicht mit interkulturellem Lernen in Verbindung gebracht wird, meines Erachtens jedoch ganz ähnlich strukturiert ist und beim Lernen von Physik eine bislang unterschätzte Rolle spielt: Die perspektivische Differenz zwischen Physik und anderen Bereichen des kulturellen Lebens. Dieser Problemkreis hat allenfalls im sogenannten two cultures gap eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren, ohne daß jedoch Konsequenzen für das Lernen (u.a. von Physik) untersucht worden wären. Dieser Mangel dient mir als Motiv und Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen.
Schlichting, H. Joachim; Nordmeier, Volkhard. In: Physik in der Schule 35/11, 399-401 (1997).
Die geometrische Optik gehört seit Kepler zu den abgeschlossenen Bereichen der klassischen Physik und kann vom intellektuellen Anspruch her gesehen eher zu den einfach zugänglichen Theorien gerechnet werden.
Phänomene der geometrischen Optik sind daher in besonderer Weise geeignet, auf Lernschwierigkeiten und Probleme des Lernens und Lehrens aufmerksam zu machen, die nicht auf der Kompliziertheit des physikalischen Stoffes, sondern auf einer unzureichenden Einübung in die physikalische Sehweise beruhen.
Schlichting, H. Joachim. In Physik in der Schule 34/9,283-288 und 34/10, 339-342 (1996).
Entschuldige! Wieso siehst du das nicht? Bist du denn blind?
Und er will und will es nicht sehen, was Sie sehen, und wo, wie Sie es sehen. Er aber sieht es, wie er es sieht, für ihn sind Sie blind.
Luigi Pirandello
Physikalische Erkenntnis kommt nicht durch eine Beschreibung des Faktischen zustande, sondern macht selbst Altbekanntes, sofern wir damit leben, zur neuen Realität, indem sie es aus einer neuen, der physikalischen Perspektive sichtbar macht. Insofern zeigt uns Physik nicht nur das, was wir noch nicht kennen, sondern auch das, was wir kennen, wie wir es nicht kennen. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht sind vielfältig. Einige besonders wesentliche Aspekte sollen im folgenden diskutiert werden.
PDF: Physik – eine Perspektive der Realität. Probleme des Physikunterrichts (Teil 1 und 2)
Schlichting, H. Joachim. In: Landesinstitut für Erziehung und Unterricht (Hrsg.): Forum Realschule 1995. Naturwissenschaftlicher Unterricht. Materialien RS 9, S. 14 – 34.
Das Sehen spielt im tatsächlichen wie im metaphorischen Sinne eine entscheidende Rolle in der forscherischen und unterrichtlichen Praxis der Naturwissenschaften. Vor diesem Hintergrund wird exemplarisch die Entwicklung der neuzeitlichen Physik von der kopernikanischen Wende bis zur nichtlinearen Physik unserer Tage als Wechsel von Sehweisen dargestellt. Indem die Grundvoraussetzungen der jeweiligen Sehweise skizziert werden, wird ein „pluralistisches“ Bild der neuzeitlichen Physik entworfen, das den unterschiedlichen physikalischen Aspekten der heutigen Welt eher gerecht wird, als die Fixierung auf eine einzige physikalische Wahrheit.
Wie sehen die Naturwissenschaftler heute die Welt, und welche Forderungen ergeben sich daraus für die schulische Bildung?
Schlichting, H. Joachim. In: Astronomie und Raumfahrt 31/22, 16 (1994).
Die neuzeitliche Physik zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß sie die Welt so beschreibt, wie wir sie nicht erleben. Darin liegen letztlich ihre Erfolge aber auch die Schwierigkeiten von Laien begründet, sich physikalische Erkenntnisse zu eigen zu machen. Besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang die Abkopplung physikalischer Beobachtungen von unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen.
Ich möchte im folgenden versuchen, am Beispiel der Rezeption des kopernikanischen Weltbildes einige dieser Schwierigkeiten anzudeuten. Dazu greife ich einerseits auf Reaktionen zurück, wie sie seitens der Poesie zum Ausdruck gebracht wurden: In der Poesie werden nicht selten die Auswirkungen wissenschaftlicher Erkenntnisse auf lebensweltliche Überzeugungen reflektiert, insbesondere dann, wenn ein herrschendes Weltbild in Frage gestellt wird. Andererseits dienen mir die Auseinandersetzungen Galileis mit der Kirche dazu, einige der konzeptuellen Probleme und Verständnisschwierigkeiten zu skizzieren, die bei der Konfrontation verschiedener Vorstellungsrahmenin Erscheinung treten.
Vielleicht lassen sich aus der historischen Distanz und aufgrund der – aus heutiger Sicht- einfachen Verhältnisse Probleme erkennen und analysieren, wie sie insbesondere von Schülerinnen und Schülern im Physikunterricht erfahren
werden.
PDF: Die Erd‘ ist ein Planet … Vom physikalischen Blick am Beispiel von Galileis Blick durch das Fernrohr