Spinnen haben das Problem, ihre Netze so zu bauen, dass sie immer schön gespannt bleiben. Bei festen Begrenzungen muss das Netz von Zeit zu Zeit nachgespannt werden, wenn es durch äußere Einflüsse an Spannung und damit an Tauglichkeit für den Beutefang eingebüßt hat.
Im vorliegenden Fall (siehe Foto) ist die Spinne sehr clever zu Werke gegangen. Sie hat ihr Netz in die Krümmung eines langen Grashalms eingebaut. Dabei hat sie den Grashalm über die natürliche, schwerkraftsbedingte Krümmung hinaus durch die Radialfäden ihres Netzes gespannt, sodass die dadurch hervorgerufene rückwirkende Kraft des Halms umgekehrt das Netz unter Spannung hält.
Wird durch irgendwelche äußeren Einwirkungen, z.B. dem Aufprall einer dicken Fliege, das Spinnennetz gedehnt, so wird dadurch der Halm weiter gespannt und zieht in der nachfolgenden Entspannung das Spinnennetz wieder straff.
Tolle Erfindung unter Einbeziehung örtlicher Gegebenheiten – funktional und naturschön.
Dennoch ist in diesem Netz nicht alles in Ordnung. Durch die Tautröpfchen an den Fangfäden und vermutlich der vorangegangenen Einwirkung von Wind haben sich zahlreiche Fadenabschnitte berührt verbunden. Das dürfte für die ordnngsmäßige Funktion des Netzes im Sinne der Spinne nicht garade förderlich sein.
Die Spinne hat hier auf spannende Weise, das gespannte Seil eines Strommastes gefunden, an dem sie mit gespannten Fäden ihr Netz aufgespannt hat. Sie hätte kaum etwas weniger Gespanntes finden können, denn neben der mechanischen Spannung wird in den Stromleitungen eine elektrische Spannung aufrechterhalten. Immerhin sorgt sie für elektrische Energie, die unsere Fernseher befähigt, spannende Unterhaltung frei Haus zu liefern.
Nun bin ich gespannt, ob ihr die Situation auch spannend oder vielleicht sogar entspannend findet. Trotz aller notwendigen Spannungen sind Entspannungen mindestens genau so wichtig. Und sei es nur um die Bereitschaft für neue Spannungen zu ermöglichen.
H. Joachim Schlichting. Physik in unserer Zeit 52/6 (2021), S. 307
Ein einseitig mit einer Schokoladenschicht glasierter Keks krümmt sich allmählich, wenn er ausgepackt ist. Weshalb?
Der Keks muss hier schon einige Zeit gelegen haben, jedenfalls sieht er nicht mehr ganz so frisch aus, und deformiert ist er außerdem (Abbildung). Natürlich war er anfangs perfekt gerade. Er hat einige Zeit außerhalb seiner luftdichten Verpackung verbracht und sich unter den neuen Umweltbedingungen gekrümmt. Neu ist für ihn dabei vor allem die größere Feuchte. In feuchter Umgebung reagiert die Schokoladenseite anders als die Gebäckseite des Kekses. Denn letztere ist aufgrund einiger Inhaltsstoffe, vor allem des Zuckers, stark hygroskopisch. Das heißt es verbindet sich gern mit Wassermolekülen, die in Form von Wasserdampf in der Luft reichlich vorhanden sind. Da das Gebäck außerdem porös ist, weil es aus einem System feiner Kapillaren besteht, kann der Wasserdampf auf einer großen Grenzfläche an zahlreiche Zuckermoleküle andocken. Indem das Gebäck das Wasser aufnimmt, wächst sein Volumen – es quillt auf und dehnt sich aus.
Die Schokoladenseite ist weniger porös und damit ist eine wesentlich kleinere Grenzfläche dem Wasserdampf der Umgebung ausgesetzt. Folglich verbindet es sich mit weniger Wassermolekülen und dehnt sich kaum aus.
Was machen zwei festverbundene flächenhafte Hälften, wenn sich die eine streckt und die andere weitgehend starr bleibt? Das ungleiche Paar krümmt sich zur starren Seite hin. Ein ähnliches Verhalten kennt man vom Bimetall, deren Hälften sich zwar nicht durch Feuchtigkeitsänderung, sondern durch Temperaturänderung ungleich stark ausdehnen und daher krümmen.
Während dieser Effekt beim Bimetall für sinnvolle technische Anwendungen ausgenutzt wird, ist eine Nutzanwendung eines krümmenden Keks schwer zu finden. Es sei denn man nimmt die Krümmung als deutliches Zeichen dafür, dass der Keks jetzt endlich gegessen werden muss.
Als wir in intensiver Unterhaltung vor jener verspiegelten Fassade vorbeigingen (siehe Foto), in der ich gewissermaßen aus dem Augenwinkel die diesseitige Welt zwar unzugänglich und doch irritierend realistisch gedoubled im Schritttempo vorbeiziehen sehe, spürte ich plötzlich so etwas wie einen Sog. Die Unterhaltung war nicht mehr ernsthaft aufrechtzuerhalten. Wir blieben stehen und erkannten die Ursache für das merkwürdige Gefühl: Die Spiegelwand war mit einer Art Spiegelwirbeln belegt, die Teile des Abgebildeten um ominöse Mittelpunkte herum zu wickeln schienen. Als rational denkende Menschen glaubten wir natürlich nicht, den sagenhaften Aleph-Punkt gefunden zu haben, zumal es dann sehr viele davon gab. Und daher näherten wir uns der Fassade und stießen auf eine ganz profane Erklärung des Phänomens. Im Zentrum eines jeden Spiegelwirbels war der Kopf einer ordinären Schraube zu sehen, durch die ein riesiges spiegelndes blankes Blech fixiert wurde (siehe Foto). Durch die Spannung, mit der das Blech an den gewissen Stellen aus der Ebene heraus in eine vertiefte Position gezogen wurde, waren lokale Hohlspiegel geformt worden, die die Gegenstände entsprechend kreissymmetrisch verzerrt widergaben.
…jedenfalls mischt sie sich ins Spinnennetz ein und scheint die zentralen Stellen des Netzes wegzubrennen. Das ist natürlich eine Täuschung, die auf eine physiologische Überforderung bei der menschlichen Wahrnehmung (Irradiation) und eine technische Überforderung bei der Kamera (Blooming) zurückzuführen ist. Interessanterweise führt das zu parallelen Wirkungen mit der Folge, dass das Foto in etwa dasselbe zeigt, was auch das Auge sieht.
Die Sonne nützt sogar der Spinne, indem sie dazu beiträgt, das Netz von den nächtlichen Tautropfen zu befreien. Dadurch wird das Netz wieder weitgehend unsichtbar (wie man bereits jetzt an einigen scheinbar fehlenden Teilstücken erkennen kann) – eine Voraussetzung dafür, dass die Insekten nicht sofort ein materielles Hindernis erkennen und der Spinne ins Netz gehen.
Auf diesem Foto beeindruckt aber besonders, dass die Spinne auch ohne etwas von physikalischen Zusammenhängen zu verstehen die Elastizität der Schilfblüte für ihre Zwecke ausnutzt. Indem sie ihre Fäden zwischen der gebeugten Blüte und dem übrigen Halm spannt, wird das Netz umgekehrt durch die rückwirkenden Kräfte des über die schwerkraftsbedingte Neigung hinaus gebogenen Halms straff gehalten. Das erspart ihr aufwändige Spannvorrichtungen, wie sie ansonsten oft benötigt werden. Ähnlich clever handelte die Spinne, die ein aufgewölbtes Blatt zum Spannen nutzte.
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft 4 (2020), S. 60
Es flüstern und sprechen die Blumen
Heinrich Heine (1797 – 1856)
Fliegende Insekten wie Hummeln sind elektrisch leicht positiv geladen, viele Blüten hingegen negativ. Mit ihrem Pelz können die Tiere die Felder spüren – und so abschätzen, wie viel Nektar noch zu holen ist.
Wer über Blumen schwirrende Insekten beobachtet, fragt sich vielleicht: Sind die Kraft raubenden Anflüge nicht zum großen Teil vergeblich, weil sich bereits andere kurz vorher am Nektar bedient haben? Die prächtigen Farben und Strukturen der Blüten ändern sich schließlich nicht, ebensowenig ihr betörender Duft. Doch es gibt weitere, für uns Menschen unmerkliche Hinweise, ob sich ein Besuch lohnt. Weiterlesen
Sie gehen über den gespannten Seilen
Und schwanken manchmal fast, als wenn sie fallen.
Und ihre Hände schweben über allen,
Die flatternd in dem leeren Raum verweilen. Weiterlesen
Am 8. März feierte Anselm Kiefer seinen 75. Geburtstag. Das nehme ich zum Anlass an einen künstlerischen Aspekt seines Werkes zu erinnern, in dem er die reale Strukturbildung, wie sie beispielsweise bei der Bildung von Trockenrissen wirksam ist, in einige seiner großformatigen Bilder integriert. Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit diese oft überdimensional großen Bildskulpturen im Grand Palais in Paris zu kennen und schätzen zu lernen.
Kiefer hat offenbar die natürlichen Vorgänge selbst in seine künstlerischen Aktivitäten integriert und damit diesen oft übersehenen und missachteten Alltagsphänomenen besondere Wertschätzung und ästhetischen Rang verliehen. Ich will hier nur das Beispiel „Palmsöndagen“ (Palmsonntag) nennen, auf das ich hier aus Urheberechtsgründen nur durch einen Link verweisen kann.
Stattdessen sieht man auf dem hier gezeigten Foto Trockenrisse im Watt des Hamswehrumer Tiefs (Ostfriesland), die eine ganz ähnliche Struktur wie in einem Detail von Palmsöndagen aufweisen.
Obwohl Trockenrisse etwa in Bildern von ausgedörrtem Ackerland in Afrika, negativ besetzt sind, gibt es andere Kontexte, in denen sie ihr ästhetisches Potenzial voll entfalten. Ich denke da nicht einmal an die polygonalen Risse in alten Gemälden, die gewissermaßen einen Teil der Patina derselben ausmachen und selbst bei Restaurierungen beibehalten werden, sondern vor allem an die immer wieder neu entstehenden Rissstrukturen in austrocknenden Pfützen und anderen Feuchtgebieten.
Wenn schlammhaltiger Boden austrocknet verdunstet das Wasser. Dieser Substanzverlust macht sich darin bemerkbar, dass in der Oberfläche eine Zugspannung entsteht. Diese wird schließlich so groß, dass die Oberfläche reißt. Dabei geht sie wie nach den Naturgesetzen nicht anders möglich in ein polygonales Netz aus Rissen über.
Wer sich mehr Details zur Entstehung solcher Rissstrukturen wünscht, schaue hier oder hier oder hier.
Manche Bäume haben einen Drehwuchs. Ein solches verdrilltes Wachstum, das äußerlich durch eine spiralförmige Struktur des Stamms zu erkennen ist, kann die Standfestigkeit eines Baumes verbessern und tritt daher besonders in windreichen Standorten auf. Im vorliegenden Fall ist der Drehwuchs jedoch so stark, dass es den Baum spiralförmig gespalten und einen relativ tiefen Riss hervorgerufen hat.
Die durch den Riss getrennten Baumpartien sind eine Antwort auf die Verlängerung der äußeren Holzschichten infolge der Verdrillung. Sie wird zunächst durch eine Spannung im Stamm aufgefangen, was durch eine gewisse Elastizität des Materials ermöglicht wird. Wenn die Spannung nicht mehr durch rückwirkede Kräfte in den Fasern kompensiert werden kann, kommt es zu dem Riss, der sich im Extremfall der Verdrillung entsprechend von unten nach oben um den Baum herumwindet.
Der Riss ist eine ernste Verletzung des Baumes und ein Einfallstor für Schädlinge. Offenbar ist die hier abgebildete Lärche bereits stark geschädigt. Die übermäßige Zapfenproduktion sowie abgestorbene Äste sind ein deutliches Zeichen dafür. Bevor der Baum als Ganzes abstirbt, sollen noch möglichst zahlreiche „Nachkommen“ in die Welt gesetzt werden.
Holzwirtschaftlich gesehen gehört das Phänomen wie auch der schon früher beschriebene Wimmerwuchs zu den Holzfehlern.
Schlichting, H. Joachim; Suhr, Wilfried. Physik in unserer Zeit 4 (2018) 196-199
Ein zu einer Endlosschleife geschlossener Faden lässt sich in einer Pfeife durch Pusten in einen stabilen Rotationszustand versetzen. Der Luftwiderstand des Fadens erweist sich als wesentlich für den Antrieb und die Stabilisierung des Spielzeugs.
Die Seilschleuder hat durch die zunehmende Verbreitung von Science Centern in den letzten Jahren eine gewisse Bekanntheit erlangt. Sie beeindruckt vor allem dadurch, dass ein zu einer Schlaufe verknüpftes Seil in eine stationäre Rotationsbewegung gebracht werden kann, wobei das Seil durch innere Zugkräfte versteift und stabilisiert wird (Physik in unserer Zeit 2018, 49 (2), 80). Weiterlesen
Suhr, Wilfried; Schlichting, H. Joachim. Physik in unserer Zeit 49/2 (2018) S. 80 – 85
Modellierung einer Seilschleuder
Versetzt man ein geschlossenes Seil in Rotation, so richtet es sich zu einer fontänenartigen Bewegungsfigur auf. Mit zunehmender Umlaufgeschwindigkeit geht diese durch einen phasenübergangsähnlichen Wechsel in einen geschlossenen Loop über. Dabei übernimmt die Dissipation der Bewegungsenergie eine konstruktive Rolle. Weiterlesen
Auf der Insel La Palma läuft man zuweilen über eine Pflasterung (siehe großes Bild), die so aussieht, als habe man die Basaltsäulen (siehe kleines Bild), die in der Nähe an Felsabbrüchen zu entdecken sind, einfach in Scheiben geschnitten und als natürlichen Straßenbelag verwendet. Die dunkelgrauen bis schwarzen Basaltsäulen sind aus erkalteter Lava entstanden. Wenn eruptierte Lava nicht wie es häufig der Fall ist, schnell erkaltet, sondern sich verzögert abkühlt, können beim Zusammenziehen des Materials senkrecht zur Abkühlungsfläche meterlange Säulen entstehen, die im Idealfall einen bienenwabenförmigen sechseckigen Querschnitt ausbilden. Weiterlesen