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Wege 20: Dem Knaben gleich, der Disteln köpft…

Da ich allein war, gibt es leider kein Foto von dieser Situation, von der außer ein paar Zecken und Schrammen keine Nachwirkungen zu beklagen waren, (wenn man einmal von diesem therapeutischen Text absieht), aber von einer früheren Wanderung mit einem Freund gibt es zumindest dieses Bild, das uns in einer ähnlichen Situation zeigt, die hier ihren Anfang nimmt.

Manchmal ist man so frei oder man kommt nicht umhin, neue Wege zu gehen. Das ist im übertragenen Sinn nicht immer einfach. Man denke nur an die Schwerfälligkeit bei der Umsetzung politischer Entscheidungen. Dass es aber auch im tatsächlichen Sinn Probleme geben kann, kennt wohl jeder von seinen frühen Erfahrungen mit dem Navi. Irgendwo las ich mal, dass ein Autofahrer in einem Kanal gelandet ist, weil das Navi nicht „wusste“, dass die Brücke nicht mehr existierte. Ein weniger drastischer Fall ist in meiner näheren Bekanntschaft passiert als vier junge Männer einen Freund besuchen wollten, der kurz zuvor in einen anderen weit entfernten Ort umgezogen war. Sie kamen nach längerer Fahrt auch in einem Ort mit dem angegebenen Namen an. Nur lag der nicht im Norden, sondern im Süden der Republik. Da könnte man jetzt vieles über das Alltagswissen insbesondere über die Wirkung des Erdkundeunterrichts sagen. Das versage ich mir, weil die Jungs trotz allem eine lustige Fahrt hatten.
Echte tatsächliche Probleme sollte ich vor einiger Zeit auf einer Wanderung haben, als ich einen falschen Weg einschlug, es feststellte und eine Abkürzung zurück zum verpassten richtigen Weg einschlug. Nachträglich gesehen war die Idee nicht gut weder zeitlich noch in manch anderer Hinsicht. Denn der Weg mündete in ein unwegsames Gelände ein. Als ich ich schließlich dabei war, mir den Weg mit bloßen Händen und bei Disteln und Brennnesseln hilfsweise mit Stöckern zu bahnen, war irgendwann der Punkt erreicht, dass an eine Umkehr kaum noch zu denken war. Denn vielleicht war es ja in Kürze geschafft, und der Rückweg als umgekehrter Hinweg lag noch bleischwer im aktuellen Gedächtnis.
In diesem Moment wurde mir plötzlich klar, warum man davon sprach, einen Weg einzuschlagen. Merkwürdigerweise gab mir dieser Gedanke neuen Mut. Ich fühlte mich plötzlich wie mit einer geistigen Machete ausgestattet, das Dickicht des Dschungels einschlagend den Weg fortzusetzen.
War es nicht früher – ja, ganz früher, als es kaum Straßen und freigehaltene Wege gab – oft der Fall, dass man wie Prometheus, dem Knaben gleich, der Disteln köpft* zu Werke gehen musste, um die beabsichtigte Richtung einzuschlagen?


* Johann Wolfgang von Goethe. Prometheus

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Bildwelt und Bildwirkungen

Bilder und Geschichten können den Menschen helfen, jenseits aller Begrifflichkeit in der Dichte ihrer Befindlichkeiten und Gefühle eine Ordnung zu finden, die ihnen Orientierung und Halt im Leben geben kann.
Verbale Erklärungen sind dabei oft ungeeignet, weil Gefühlsmäßiges und Atmosphärisches kaum ohne entscheidende Gehaltseinbußen auf Begriffe gebracht oder in Worte gefasst werden können. Auch wenn Worte fehlen, muss es möglich sein, die Menschen jenseits aller Intellektualität anzusprechen und zu berühren.

Wer sich für das hier zur Illustration genutzte Phänomen physikalisch verstehen möchte, kann sich hier informieren.

Wenn aus Gesteinsschichten Geschichten werden…

Ich befinde mich in einem alten Steinbruch, stehe eine Weile vor einer Felswand und versuche mir vorzustellen, dass ich auf einen ehemaligen Meeresboden blicke. Meine Vorstellungskraft ist groß genug, sodass ich den Kopf nicht zur Seite neigen muss, um den Meeresboden auch in dieser durch erdgeschichtliche Vorgänge schräge aufgefalteten Lage als solchen zu erkennen. Ich erkenne in der Blätterteigstruktur das Ergebnis von Sedimentationen in einem ehemaligen Meer und deren späterer Versteinerung. Weiterlesen

Das Streicheln der Unendlichkeit

Bei Sonnenuntergang sehen alle Städte wunderbar aus, doch manche eben mehr als andere. Reliefe werden geschmeidiger, Säulen runder, Kapitelle lockiger, Gesimse energischer, Turmspitzen strenger, Nischen tiefer, Jünger sehen drapierter aus, Engel schwebender. In den Straßen wird es dunkel, doch es ist immer noch Tag für die Fondamenta und jenen gigantischen flüssigen Spiegel, wo Motorboote, Vaporetti, Gondeln, Dingis und Barken wie verstreute alte Schuhe eifrig auf barocken und gotischen Fassaden herumtrampeln und weder deine eigene Spiegelung noch die einer vorüberziehenden Wolke verschonen .“Abbilden“ wispert das Winterlicht, das nach seiner langen Reise durch den Kosmos schlicht an der Ziegelwand eines Hospitals hängen bleibt oder heimkehrt in das Paradies von San Zaccarias Giebel. Und du spürst die Müdigkeit dieses Lichts, das noch etwa eine Stunde lang in den Marmormuscheln von Zaccaria ruht, während die Erde dem Lichtgestirn die andere Wange bietet. Das ist das Winterlicht in seiner reinsten Gestalt. Es bringt weder Wärme noch Energie, die es irgendwo im Universum oder in der nahen Kumuluswolke abgeworfen und hinter sich gelassen hat. Das einzige Bestreben seiner Partikel ist es, einen Gegenstand zu erreichen und ihn, sei er groß oder klein, sichtbar zu machen. Es ist ein privates Licht, das Licht von Giorgione oder Bellini, nicht das Licht von Tiepolo oder Tintoretto. Und die Stadt verweilt darin und genießt seine Berührung, das Streicheln der Unendlichkeit, aus der es kam. Ein Gegenstand ist es schließlich, was die Unendlichkeit zu etwas Privatem macht.*

Diese poetische Beschreibung eines Sonnenuntergangs, wie man ihn in einer bestimmten Stadt erleben kann, nutzt physikalische Begriffe, um den Worten zusätzliches Gewicht zu verleihen und dem aktuellen Sprachgebrauch entsprechend aufzuladen. Da ist vom Universum, von Energie die Rede, die an Kumuluswolken abgegeben wird, von der Erde als Lichtgestirn, von Lichtpartikeln, die die Gegenstände sichtbar machen usw., ohne dass in irgendeiner Weise einer physikalischen Theorie Rechnung getragen wird. Und dennoch hat man das Gefühl, genau nachempfinden zu können, was gemeint ist. Selbst das Streicheln der Unendlichkeit bekommt einen, wenn auch nicht konkreten, so doch unmittelbar einleuchtenden, vertrauenswürdigen Sinn. In die Alltagswelt abgesunkene, ursprünglich in den Wissenschaften wurzelnde Begriffe, übernehmen nicht nur jeder für sich, sondern auch in fachlich klingenden Zusammenhängen eine metaphorische Rolle, deren Aussagekraft im Bereich der Beschreibung von Stimmungen einer denkbaren (?) wissenschaftlichen Beschreibung übertrifft.


* Aus: Joseph Brodsky. Ufer der Verlorenen. Frankfurt 2002, S. 56

Leonardo da Vinci (5) – Der junge Mond hält die ganze Mondscheibe umarmt

Immer wenn ich den aschfahlen Mond am Himmel sehe, denke ich an die Worte Martin Wagenscheins (1896 – 1988), der sich wiederum auf Leonardo da Vinci bezieht: „Leonardo, ein Meister des Sehens und seiner Muttersprache, mit Glanz und Präzision, Kraft und Zartheit. Ich wähle eine Notiz, die er 1508, in seinem sechsundfünfzigsten Jahr, niedergeschrieben hat. Sie führt uns noch einmal zur Mondsichel zurück, und zwar zu ihrem schönsten frühesten Stadium, in welchem sie, noch ganz nah der Sonne, gerade aus der neumondlichen Unsichtbarkeit heraustretend, als ein besonderes Rätsel die Grau schimmernde ganze Mondscheibe umarmt hält. Weiterlesen

Wege 9: En oll Weg

Oll Drift: en oll Weg, op den Veeh dreven warrt.

In Ostfriesland spricht man teilweise noch Plattdeutsch. Aber Vieh wird kaum noch über alte „Driften“ getrieben und die Natur erobert sich den Weg wieder zurück. Das Schild weist in Richtung eines abzweigenden Weges, der als solcher nur noch erahnbar ist. Damit Radfahrer trotzdem nicht auf den Gedanken kommen, hier abzubiegen, werden sie mit einem modernen Schild dazu angehalten geradeaus weiter zu fahren.
Das sich zunehmend dem Boden zu neigende Schild scheint mir nicht nur sich selbst und seine Botschaft allmählich zum Verschwinden zu bringen, sondern gewissermaßen symbolisch auch die plattdeutsche Sprache und Kultur.

 

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