Anlässlich des 90. Geburtstags von Gerhard Richter am 9. Februar 2022
Ein Pendel behält stets seine Pendelebene bei. Das kann man leicht überprüfen. Im einfachsten Fall nimmt man ein passendes Gestell, an dem man eine kleine Kugel u. Ä. an einem Faden schwingen lässt. Dieses Pendel wird sodann auf einen drehbaren Untersatz platziert. Dazu eignet sich zum Beispiel ein Drehstuhl oder eine drehbare Tortenplatte. (Ich selbst benutze meinen alten Schallplattenspieler). Dreht man den Untersatz nun vorsichtig um sich selbst nachdem man das Pendel in Aktion gesetzt hat, so macht man eine interessante Beobachtung: Das Pendel behält unabhängig von der Drehung seine ursprüngliche Pendelebene bei. Viele finden das merkwürdig.
Was würde denn zu beobachten sein, wenn man sich in das drehende System versetzt dächte? Die Pendelebene würde sich drehen. Wäre das nicht noch merkwürdiger?
Es ist ja faktisch so, dass wir permanent auf einem drehenden System hocken, auf unserer Erde. Sie dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst. Davon merken wir nur indirekt etwas, zum Beispiel dadurch dass die Sonne aufgeht, ihre Bahn zieht und wieder untergeht. Durch unser kleines Pendel-Dreh-Experiment könnte nunmehr der Gedanke aufkommen, dass ein Pendel, das man lange genug in Schwingung hält, allmählich seine Pendelebene drehen müsste, weil die Erde sich wie ein elaborierter Drehstuhl rotiert.
Einen ähnlichen Gedanken hatte im 19. Jahrhundert der Physiker Jean Bernard Léon Foucault (1819 – 1869). Nach Vorversuchen in seinem eigenen Keller konnte er am 26. März 1851 im Panthéon mit einem 67 Meter langen Pendel und einem 28 Kilogramm schweren Pendelkörper der Öffentlichkeit ein solches Experiment vorführen und damit die Erddrehung gewissermaßen spürbar werden lassen.
Würde man ein solches Foucaultsches Pendel auf dem Nordpol unserer Erde schwingen lassen, so würde sich die Pendelebene in 24 Stunden genau einmal um sich selbst drehen. Weil das Pendel an anderen Stellen der Erde schräg zur Erdachse steht, bewegt sich die Pendelebene je nach geografischer Breite langsamer.
Bei uns in Münster bräuchte das Pendel der Theorie zufolge für einen Umlauf 30 Stunden. Der empirische Beweis dafür kann inzwischen auch in der profanierten Dominikanerkirche in Münster erbracht werden, wo der Künstler Gerhard Richter (* 09.02.1932) im Rahmen der Installation „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ in einem ansprechenden Ambiente das „Experiment“ für jeden zugänglich gemacht hat.
Das Pendel besteht aus einem 29 m langen Seil mit einer 22 cm großen und 48 kg schweren Messingkugel. Das Seil ist in der hohen Vierungskuppel befestigt und schwingt 4 cm über der kreisrunden Bodenfläche aus Naturstein.
Damit das Pendel nicht durch unvermeidliche Reibungen (vor allem mit der Luft) abgebremst schließlich zur Ruhe kommt, wird es mit einer zentral unter der Schwingungsebene angebrachten vom Fachbereich Physik der Universität Münster entwickelten Elektronik in Gang gehalten.
Über das rein Physikalische des Pendels hinausgehend besteht das Kunstwerk aus zwei an den Wänden angebrachten grauen Doppelspiegeln. Sie reflektieren das Pendel und unvermeidlicherweise die BeobachterInnen gleich mit. Vielleicht sollen auf diese Weise Reflexionen über physikalische und gesellschaftliche Fragen zum Pendel im engeren und weiteren Sinn angeregt werden.
Ich finde das Foucaultsche Pendel in seiner frappierenden Einfachheit vor allem deshalb beeindruckend, weil es eine kosmische Bewegung auf ein menschliches Maß bringt.
Heute ist der Welttag des Buches. Dazu habe ich mich bereits in den Vorjahren geäußert (z.B. hier und hier). Auch habe ich kürzlich mein kleinstes Buch vorgestellt. Das größte Buch steht noch aus: Die Welt als Buch.
Diese Metapher hat zumindest seit den alten Griechen das westliche Denken mitbestimmt. Italo Calvino (1923 – 1985) sieht den Faden der Schrift als „Metapher für die staubförmige Substanz der Welt“ und weist darauf hin, dass „schon für Lukrez die Buchstaben Atome in permanenter Bewegung (waren), die durch ihre Permutationen die verschiedensten Wörter und Laute erzeugten, ein Gedanke, den eine lange Tradition von Denkern aufgreifen sollte, für die sich die Geheimnisse der Welt in der Kombinatorik der Schriftzeichen fanden“ [1].
Wenn aber die Welt ein Buch ist, dann muss man sie lesen können. Diese Aufgabe treibt insbesondere die Protagonisten der neuzeitlichen Physik um. Galileo Galilei (1564 – 1642) hat dies in einem viel zitierten Satz ausgesprochen und auch gleich die Art der Buchstaben benannt: Weiterlesen
An der See besteht alles aus schmalen Waagerechten, die ganze Welt reduziert sich auf ein paar lange, gerade, zwischen Erde und Himmel gezwängte Linien.*
Da die Erde eine Kugel ist, muss die Meeresoberfläche ein Teil der Kugeloberfläche sein. Nur ist die Kugel viel zu groß, als dass wir mit bloßen Augen irgendeine Krümmung wahrnehmen könnten. Wir können sie aber erschließen. Wenn beispielsweise ein Schiff am Horizont auftaucht, sehen wir zunächst die Aubauten (früher waren es die Segel) und dann den Schiffskörper. Wir sehen gewissermaßen, wie das Schiff hinter der Wölbung auftaucht. Diese Erfahrung war übrigens eine der zahlreichen Hinweise, die die Menschen in früheren Zeiten auf die Kugelgestalt der Erde hatten.
Die Aufnahme wurde kurz vor Hochwasser gemacht und die ersten Wellen schwappten bereits über die Uferbefestigung. Da ich nicht daran gedacht hatte, dass kurz nach Neumond (wer achtet schon den Neumond?) mit einer Springtide zu rechnen war, kam ich leider nicht mehr trockenen Fußes zum Deich zurück. Normalerweise (?) läuft hier nämlich nichts über.
* John Banville. Die See. Köln 2006, S. 14
Kann man das Theaterstück „Das Leben des Galilei“ von Bert Brecht (1898 – 1956) verstehen, wenn man den physikalischen Hintergrund der folgenden Passage nicht versteht? Ich kann mich an meinen eigenen Deutschunterricht erinnern, in dem das Theaterstück durchgenommen wurde. Der Sachverhalt des aschfahlen Lichts, das an einer zentralen Stelle thematisiert wird, ist mir jedoch als eine eher mystische Angelegenheit im Gedächtnis geblieben, obwohl Bert Brecht die Situation ziemlich deutlich beschreibt. Offenbar wurden wir damals gar nicht angehalten, die Situation physikalisch zu verstehen. Brecht möchte in diesem Dialog demonstrieren (siehe Foto), welche Probleme die Wissenschaftler an der Schwelle der Neuzeit bewegten: Weiterlesen
Wenn ich dieses Foto sehe, werde ich unwillkürlich an ein Erlebnis aus der Kindheit erinnert, das mich schlagartig davon überzeugte, dass die Behauptung zutreffen könnte, die Erde drehe sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Ich saß in der Eisenbahn und wartete auf die Abfahrt. Dann ging es endlich los bis ich plötzlich sah, dass sich der Zug auf dem Nachbargleis in Bewegung gesetzt hatte und wir immer noch im Bahnhof standen. In diesem Moment erlebte ich gewissermaßen körperlich, dass Bewegungen relativ sind und der Augenschein oft nicht ausreicht festzustellen, was sich „wirklich“ bewegt. Man braucht schon weitere überzeugende Hinweise. Weiterlesen
Das eigentliche Sinnbild unserer Zeit … ist das Individuum in einer fensterlosen Kammer, vor sich hinstierend auf ein reproduziertes Scheinbild der Welt. Es ist wichtig, zu wissen, daß die Reproduzenten bereits dazu übergegangen sind, spezifische Scheinbilder zu liefern, … „Programme“ in Übereinstimmung mit der verschiedenen Aufnahmefähigkeit und dem verschiedenen Geschmack der Konsumenten. Es bedarf nur einer entschlossenen Regierung, um den Spieß umzukehren und Empfangsgeräte zu schaffen, die auf ein bestimmtes Programm geeicht sind. Das ist die Stufe der Entwicklung, auf der die Gefahr völlig ausgeschaltet ist, das Individuum könnte sich selbst begegnen; denn es hat keinen Anlaß mehr, über irgend etwas zu staunen.
(aus: Erich Kuby. Das pausenlose Programm 1950)
„Doch einmal brachte das meilenweit gereiste Familienhaupt vom Markt ein solch Naturgeheimnis mit von der Borsdorfer Art. Mit hochgeröteter Wange, mit schwarzem Butzen schalkhaft lächelnd und edlem Rund sanft geschmeidig nach beiden Polen sich dehnend, wie der große Euler, Neuton und Kopernikus das Weltenall beschreibt. – Warum soll nicht der Apfel nachahmen in seinem Rund, was jedem Geschöpf die Aufgabe ist des Werdens? – So zahlte das weltabgeschlossene Kindesherz mit der Sehnsucht verzehrendem Feuer in der Beschauung des Apfels den Tribut dem Geistesideal der Natur. – Dies brachte den kleinen Erdenwaller bald zu seiner Reise Ziel. Das innere Ideal steigerte seiner Begeisterung Flut; nirgend in der Wüste fand er, wo sie könne an sanftem Ufer sich ebnen: sie brauste hin in die Ewigkeit mit doppeltem Pulsschlag“ (Achim von Arnim (1781 – 1831): Dies Buch gehört dem König).
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Die Welt ist nichts als eine ewige Schaukel. Alle Dinge in ihr schaukeln ohne Unterlaß. Ich beschreibe nicht das Sein, ich beschreibe den Übergang. Es ist ein Protokoll von verschiedenen und veränderlichen Zufällen, von unbestimmten und, wie es sich trifft, wohl gar von widersprechenden Vorstellungen. Nicht bloß der Wind der Zufälle bewegt mich nach seiner Richtung; sondern ich bewege mich noch obendrein, ich wechsle die Richtung. Und wer nur genau auf den Ausgangspunkt achtet, der wird sich schwerlich zweimal in völlig derselben Lage wiederfinden (Michel de Montaigne (1533 – 1592). Weiterlesen
Was hatte sich Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) eigentlich gedacht, als er das neue, Kopernikanische Weltbild, wonach sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, als Ergebnis eines übermäßigen Weingenusses ansah? Seinem folgenden Gedicht nach, haben die Astronomen die weinbedingten Einschränkungen beim Stehen und Gehen als Ausdruck der bewegten Erde interpretiert uns seien so zu der unglaublichen Theorie gekommen. Weiterlesen
So wie in dem Foto sehen wir den Mond nur durch ein Fernrohr oder eine Kamera mit genügend großem Zoom. Als Galileo Galilei (1564 – 1642) zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch sein Fernrohr den Mond mit dieser strukturierten Oberfläche erblickte, sah er mehr als den vertrauten Gefährten der Nacht, er sah gleichzeitig darin die Erde als Himmelskörper, eine für damalige Verhältnisse revolutionäre Ansicht. Denn der Mond in dieser Strukturierung erinnerte ihn an die Erdoberfläche, und – so sein Gedanke – wenn der Mond wie die Erde ist, dann ist die Erde wie der der Mond. Für ihn war das ein weiterer Beweis für das heliozentrische Weltbild. „Galilei ist ein Mann von einer vertrackt reflektierten Optik. Er richtet das Fernrohr auf den Mond, und was er sieht, ist die Erde als Stern im Weltall“ (Hans Blumenberg).
Mit dem „bewaffneten“ Blick Galileis etablierte sich nicht nur ein neues Weltbild, sondern eine Verbindung von Naturwissenschaft und Technik: „Mit dem Fernrohr erzwang die Technik von der Theorie einen Wandel ihrer Vergegenständlichung. In seinem Ertrag bestätigte das technische Gerät seine vorher gar nicht zu begründende Notwendigkeit und verstärkte zugleich damit den Verdacht, daß der Mensch immer weiterer Technisierung bedürftig sein könnte“.Damit war aber klar, dass nicht nur „die Einsicht in das Naturgesetz (die Technik) ermöglicht, sondern die Berufung auf das Naturgesetz (…) ihre Resultate“ legitimiert (Hans Blumenberg).
Auch für den heutigen Leser können die „Betrachtungen über das Weltgebäude“, die der Schriftsteller Johann Peter Hebel (1760-1826) zwischen 1811 und 1815 in dem von ihm herausgegebenen Kalender veröffentlichte, von großem Interesse sein. In einer bildhaften und auf Anschauung ausgerichteten Sprache bemüht sich Hebel darin, seinen Lesern eine Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde zu vermitteln. Darüberhinaus erfährt man viel Interessantes über die Vorstellungen der damaligen Zeit. So zweifelte Hebel nicht daran, dass die Planeten und sogar die Sonne wie die Erde von Menschen bewohnt sind. Hebel war mit dieser Ansicht nicht allein. Selbst der Astronom Wilhelm Herschel, ein Zeitgenosse Hebels, hielt dies für möglich: Weiterlesen
Lange bevor Galilei seine Kugeln die schiefe Ebene hinabrollen ließ und damit der neuzeitlichen Physik einen entscheidenden Impuls gab, haben Mensch und Tier vor allem negative Erfahrungen mit abschüssigen Bahnen gemacht. Solange im geschlossenen Universum eines schrägen Zimmers im Science Center (Phaeno in Wolfsburg) letztlich die Wände die Besucher vor dem Abrutschen bewahren, kann man damit seinen Spaß haben. Im kosmischen Maßstabe wurden jedoch infolge der kopernikanischen Wende diese Wände weggeräumt, und die Menschheit einem offenen Universum ausgesetzt, das die Menschen in Schrecken zu versetzten vermöchte. Jedenfalls geht es selbst Blaise Pascal so, einem der Protagonisten der neuzeitlichen Physik, wenn er sagt: „Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie“. (Die ewige Stille dieser unendlichen Weiten macht mir Angst). Weiterlesen
Die Physik, insbesondere die moderne Physik, ist immer wieder Gegenstand der Belletristik. Dabei fasziniert wohl vor allem das Rätselhafte dessen, was im vorliegenden Beispiel beim Doppelspaltexperiment passiert. Der Leser bekommt den Eindruck, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Das wäre an sich nicht so erstaunlich, wenn es nicht ausgerechnet in einer Disziplin vorkäme, die für Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit, Objektivität… steht:
„Das freut mich, Senor Gonzales. Es geht um die Frage, warum es Sie und mich, die Welt, die Galaxien, das Universum, warum es das alles gibt. Es ist schon spät, ich weiß. Sie sind müde, und ich habe zu viel getrunken, aber ich denke, ich habe auf diese Frage eine Antwort gefunden. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim; Backhaus, Udo. In: W. Kuhn (Hrsg.): Vorträge der Frühjahrstagung 1987 der DPG. Berlin 1987, S. 305
Unter Schatten verstehen wir eine dimensional reduzierte Projektion eines Gegenstandes. Der Schatten ist deshalb strukturärmer und einfacher zu beschreiben. Er ist andererseits wegen dieser Eigenschaft nicht mit seinem Urheber zu verwechseln. Das leuchtet etwa beim Vergleich eines Menschen mit seinem Schatten unmittelbar ein. Die Untersuchung von Schatten, Schattenlesen im engeren wie im weiteren Sinne ist real wie metaphorisch typisch für die naturwissenschaftlich Erkenntnisgewinnung. Bei der Bewertung der Erkenntnisse wird in diesem Fall die Differenz zwischen Schatten und Original allerdings leicht übersehen. Wir wollen anhand einiger astronomischer Beispiele zeigen, dass die grundlegenden Vorstellungen über unsere Welt aus einfachen, von jedermann real nachvollziehbaren Beobachtungen gewonnen werden
können. Die Einfachheit der Beobachtungen soll angesichts der Kompliziertheit unseres Weltbildes auf die nicht zu unterschätzende Rolle von Konventionen bei der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung verweisen.