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Poetisches

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Die Fuchsien

Wir tanzen Ballett, daß die Röckchen fliegen,
die weißen und rosa Röckchen aus Tüll.
Der Wind dirigiert, und wir schmiegen und wiegen
und biegen uns, wie der Kapellmeister will.

Wir tanzen auf der Spitze. Wir dreh`n Pirouetten.
Wir bewegen uns unbewegten Gesichts
wie Ballerinen aus alten Balletten.
Von modernen Tänzen halten wir nichts.
*

Im Unterschied zu vielen anderen Blumen überlässt die Fuchsie ihre Blüten der Schwerkraft. Das hat den Vorteil, dass dem aufrechten Stand (wie wohl bei den meisten Mit-Blumen) keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Alles bleibt im Lot und führt bei Einwirkungen des Windes allenfalls zu gedämpften Schwingungen bzw. Tänzen, wie im Gedicht ausdruckstark beschrieben.
Fuchsienblüten im Wind erinnern teilweise an die eindrucksvollen Beschreibungen Heinrich von Kleists in seiner essayistischen Erzählung „Über das Marionettentheater“.

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* Erich Kästner (1899 – 1974)

Bifurkationen

Alles, was sich verästelt,
verzweigt: Delta Blitz Lunge,
Wurzeln, Synapsen, Fraktale,
Stamm- und Entscheidungsbäume;
alles, was sich vermehrt
und zugleich vermindert –

nicht zu fassen,
schon zu reichhaltig
für dieses Spatzenhirn,
dieses x-beliebige Glied
einer infiniten Serie,
die sich hinter dem Rücken
dessen, der da, statt zu denken,
gedacht wird, entwickelt,
verästelt, verzweigt.
*

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* Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997

Eisbruch in der Morgensonne

Der Mathematiker

Es war sehr kalt, der Winter dräute,
da trat – und außerdem war´s glatt –
Professor Wurzel aus dem Hause,
weil er was einzukaufen hat.

Kaum tat er seine ersten Schritte,
als ihn das Gleichgewicht verließ,
er rutschte aus und fiel und brach sich
die Beine und noch das und dies.

Jetzt liegt er nun, völlig gebrochen,
im Krankenhaus in Gips und spricht:
„Ich rechnete schon oft mit Brüchen,
mit solchen Brüchen aber nicht!“
*

Ich rutschte gestern morgen auf einer Eisschicht aus, die sich in der Nacht auf der Außentreppe gebildet hatte, brach mir aber zum Glück keine Knochen. Vielmehr kehrte ich (aus Spaß oder Rache) den Spieß um, brach eine Eisscholle aus dem zugefrorenen Teich heraus und ließ sie in der Sonne glitzern… und gaaanz langsam schmelzen.

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* Heinz Erhardt (1909 – 1979)

Tag- und Nachtgleiche 2023

Heute treten wir in die dritte Jahreszeit ein, den Herbst. Einige Anzeichen machen sich schon seit längerem bemerkbar, andere suchen wir vergeblich. Astronomisch gesehen bedeutet die Tag-und Nachtgleiche, auch Äquinoktium genannt, dass die Sonne senkrecht über dem Äquator steht und der Tag und die Nacht überall auf der Erde gleich lang sind, nämlich 12 Stunden.
Danach werden die Tage kürzer als die Nächte – die dunkle Jahreszeit nimmt hier ihren Anfang. Menschen, Tiere und Pflanzen stellen sich darauf ein. Der moderne Mensch in seiner durch künstliche Beleuchtungen bestimmten Umwelt ist von der zunehmenden Dunkelheit nicht wirklich betroffen, obwohl die Eine oder der Andere gefühlsmäßig auf die astronomisch bedingten Veränderungen reagiert.
Der Herbst wird oft mit dem Herbst des Lebens in Beziehung gebracht, wie es beispielsweise in dem folgenden Gedicht von Emanuel Geibel (1815 – 1884) anklingt:

O wär’ es bloß der Wange Pracht,
Die mit den Jahren flieht!
Doch das ist’s, was mich traurig macht,
Dass auch das Herz verblüht;

Dass, wie der Jugend Ruf verhallt
Und wie der Blick sich trübt,
Die Brust, die einst so heiß gewallt,
Vergisst, wie sie geliebt.

Ob von der Lippe dann auch kühn
Sich Witz und Scherz ergießt,
’s ist nur ein heuchlerisches Grün,
Das über Gräbern sprießt.

Die Nacht kommt, mit der Nacht der Schmerz
Der eitle Flimmer bricht;
Nach Tränen sehnt sich unser Herz
Und findet Tränen nicht.

Wir sind so arm, wir sind so müd’,
Warum, wir wissen’s kaum;
Wir fühlen nur, das Herz verblüht,
Und alles Glück ist Traum.

Es ist schon interessant, wie ein astronomisches Detail, eine Stelle der Erdbahn um die Sonne, zu derart tiefen Gefühlen Anlass geben kann. Offenbar ist das Astronomische nur ein Aspekt der Angelegenheit, der den meisten Menschen noch nicht einmal bewusst ist.

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