Ein Trinkglas wird gefüllt, wenn man ein Getränk hineingibt. Vorher war es leer – sagt man. In Wirklichkeit war es nicht leer, sondern mit Luft gefüllt. Aber was ist schon Luft? In dieser Sprechweise ist sie gleichbedeutend mit Leere. Dabei wissen wir, dass wir ohne Luft nicht leben können und es dem Menschen versagt ist einen luftleeren Raum herzustellen. Wenn man vom luftleeren Raum spricht, meint man einen Raum in dem der Luftdruck reduziert ist. In einem sogenannten Ultrahochvakuum ist er sogar sehr stark reduziert.
Wenn man also ein Glas mit einem Getränk füllt, verdrängt man mit einem dichteren Fluid, dem Getränk, ein weniger dichtes, die Luft, die dann außerhalb des Glases Platz findet.
Um die Luft als physikalische Gegebenheit bewusst zu machen, präparieren wir eine Situation, in der sie sich ähnlich wie Wasser verhält. Dazu wird ein leeres – pardon – mit Luft gefülltes Glas überkopf in ein Gefäß mit Wasser gedrückt. In diesem Fall tritt kein Wasser in das Glas ein, weil anders als in der „luftigen“ Umgebung des Alltags im Wasser das dichte und das weniger dichte Medium gewissermaßen ihre Rollen vertauschen, vorausgesetzt es wird außerdem „oben“ und „unten“ vertauscht, indem die Glasöffnung entgegen der üblichen Praxis nach unten gerichtet wird.
Dass durch diese doppelte Vertauschung – Flüssigkeit und Luft sowie oben und unten – die Verhältnisse irgendwie gleich bleiben, wird noch überzeugender, wenn man aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zieht. Eine Konsequenz wäre, dass man in der „wässrigen“ wie in der gewohnten „luftigen“ Umgebung versuchte, Luft von einem Glas in ein anderes umzufüllen.
Ein entsprechender Versuch ist leicht ausgeführt (Skizze): In der kopfstehenden Wasserwelt eines Aquariums wird ein luftgefülltes Glas vorsichtig über (aus der Sicht der Luftwelt: unter) einem „leeren“, also mit Wasser gefüllten Glas geneigt und die Luft ins bis dahin luftleere Wasserglas gegossen. Wie in der Luftwelt muss man aufpassen, dass man nichts vorbeigießt oder das Glas nicht zum Überlaufen bringt. Auch die Verdrängung des Wassers durch die ins Glas strömende Luft erfolgt genauso unauffällig wie die Verdrängung der Luft beim Eingießen von Wasser in der normalen Luftwelt.
Erst durch eine Betrachtung der Dinge in einer anderen Welt versteht man, was in dieser Welt wirklich passiert.
Damit ist der Kern des Problems getroffen. Da aus lebensweltlicher Perspektive alles Erfahrene immer schon benannt und begriffen ist, muss aus neuer unvertrauter Perspektive (hier: aus der Sicht der Wasserwelt) Altbekanntes zum Unvertrauten gemacht werden, um so die Realität in neuer, vorher nicht erlebter Weise sichtbar zu machen.
Die obigen Experimente demonstrieren darüber hinaus ein typisches Vorgehen innerhalb der physikalischen Forschung. Es werden Symmetrieüberlegungen angestellt, um die in einem bereits physikalisch erschlossenen Gegenstandsbereich gemachten Erfahrungen auf einen anderen irgendwie dazu symmetrisch gedachten Bereich zu übertragen.
Im vorliegenden Beispiel zeigt sich aber, dass die fluiden Medien Luft und Wasser zumindest nicht in dem simplen Sinne symmetrisch zueinander angesehen werden können, dass ein bloßer Austausch derselben zu einem entsprechenden Ergebnis führt. Außerdem müssen in einer weiteren Symmetrieoperation Oben und Unten vertauscht werden. Erst diese doppele Vertauschung führt zu Phänomenen, die in der hier unterstellten Vereinfachung vom Medium Wasser oder Luft unabhängig sind.
Der erste Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1842 – 1799) hat sich ausgiebig mit dem Füllen und Leeren von Gläsern befasst und daraus seine Lehre bzw. Leere gezogen:
Ich fragte ihn, ob er das leichteste Verfahren kenne, ein Glas ohne Luftpumpe luftleer zu machen. Als er sagte: Nein, so nahm ich ein Weinglas, das voll Luft war wie alle leeren Weingläser, und goss es voll ein. Er gestund nun ein, das es luftleer sei, und dann zeigte ich ihm das beste Verfahren, die Luft ohne Gewalt wieder zuzulassen, und trank es aus. Der Versuch misslingt selten, wenn er gut angestellt wird. Es freute ihn nicht wenig, und er wurde von uns allen mehrmals angestellt*.
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* Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe IV. München 1967, S. 316
H. Joachim Schlichting. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1.22 (2022) 82 Seiten
Physikalischer Reiz des Gewöhnlichen
Die Menschen haben von jeher die Natur nicht nur wahrgenommen, sondern die Natur auch auf die eine oder andere Weise zu verstehen versucht. Aus heutiger Perspektive erstaunlich tief gehende physikalische Einsichten hat bereits Leonardo da Vinci vor mehr als 500 Jahren bei seinen zahlreichen Beobachtungen und zeichnerischen Rekonstruktionen bewiesen. Damals war die neuzeitliche Physik noch im Entstehen begriffen, sodass man nur darüber staunen kann, wie klar und verständlich Leonardo viele Alltagsbeobachtungen dargestellt hat. Die Kunst kam ihm bei der grafischen Rekonstruktion der Phänomene sehr zugute (S. 6).
Physik und Kunst haben sich von jeher gegenseitig befruchtet und zahlreiche Erscheinungen inspirieren oft durch ihren ästhetischen Reiz dazu, sie näher zu erschließen.
Aber selbst profan wirkende Vorgänge führen manchmal erstaunlich weit bis in die moderne Forschung.
So ist es eine alltägliche Erfahrung, Schnecken auf ihrem glitschigen Schleimfilm gleiten zu sehen. Denkt man jedoch an die eigenen Fortbewegungsprobleme (S. 40), drängen sich Fragen geradezu auf. Wie stellt es die Schnecke an, bergauf zu gleiten oder sich überhaupt vom glitschigen Schleim abzustoßen? (S. 64).
Die wissenschaftliche Antwort führt direkt in die Küche, in der wir es mit ähnlichen Problemen zu tun haben, wenn beispielsweise der Ketchup aus der Flasche wohldosiert auf dem Teller landen soll (S. 72). Flüssigkeiten können je nach mechanischer Einwirkung zwischen zäh- und leichtflüssig wechseln. In Form von Schaum ähneln manche Gemische sogar einem Festkörper (S. 70). Selbst reines Wasser zeigt oft faszinierende Strukturen und überraschende Schauspiele. Es ist sogar musikalisch: Spült man nach der Teepause sein Edelstahlsieb, so bekommt man zuweilen schöne Töne zu hören. Dahinter steckt ein komplexer Vorgang, der erst zum Mysterium wurde, seitdem es diese Teesiebe gibt (S. 78). Andere Strömungsereignisse sind altbekannt, aber nicht weniger imposant und fordern geradezu dazu heraus, selbst ausprobiert zu werden.
Lassen Sie sich durch diese Sammlung inspirieren, fortan den Alltag mit neuen Augen zu sehen.
Ihr H. Joachim Schlichting.
Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1.19 (2019), 82 Seiten
Vertrautes aus physikalischer Sicht
Es schien, als seien die umkränzten Lichtkreuze über Nacht in die Welt gesetzt worden. Nachdem ich diese merkwürdigen Objekte an Häuserwänden und Straßen (siehe S. 30) zum ersten Mal entdeckt hatte, sah ich sie von diesem Tag an überall. Freilich müssen die seltsamen Figuren schon vorher immer wieder auf meine Netzhäute gelangt sein, doch ich hatte sie bis dahin nicht bewusst wahrgenommen. Das ist typisch für viele Phänomene im Alltag und in der Natur. Man muss regelrecht lernen, sie zu sehen – und das gelingt am besten, indem man durch möglichst viele Beispiele dazu angeregt wird. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft Spezial 3 (2016), 82 Seiten
Der Alltag wartet mit einigen Überraschungen auf, wenn man bereit ist, seine Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Oft sind es gerade die unscheinbaren Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, die unversehens zu einer neuen Wirklichkeit werden. Wie schafft es beispielsweise das Wasser bis in die Baumspitzen? Warum springt Popcorn wild in der Pfanne herum?
Schlichting, H. Joachim; Ucke, Christian. In: Weinheim: Wiley-VCH 2016, ISBN-978-3-527-41108-5
ISBN-13: 978-3527409501
Produktbeschreibung
Joachim Schlichting und Christian Ucke zeigen in diesem reich illustrierten Buch: die Physik hat eine spielerische Seite, die man genießen und von der man gleichzeitig viel lernen kann. In einzelnen Kapiteln zu vier großen Themenbereichen der Physik – Mechanik, Thermodynamik, Elektromagnetismus, Optik – stellen sie ungewöhnliche, überraschende, unterhaltsame physikalische Spielereien und Phänomene vor, von Ketten, die sich von selbst zur Fontäne aufbäumen über merkwürdig anschwellende Töne beim Kaffeetrinken bis zu schwebenden Kreiseln und handgemachten Hologrammen. Manche der beobachteten Effekte beruhen auf recht einfachen physikalischen Prinzipien, bei anderen wiederum muss man weiter in die Tiefe gehen, um sie verstehen zu können. Doch alle physikalischen Spielereien haben eins gemeinsam: es macht einfach Spaß, sich mit ihnen zu beschäftigen, und der Aha-Effekt kommt nie zu kurz! Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. Spektrum der Wissenschaft Spezial 3 (2014), 82 Seiten
Ob die Geschehnisse in einer Kaffeetasse, die Tropfen am beschlagenen Fenster oder die Mondphasen: Die vielfältigen Phänomene des Alltags erscheinen uns so vertraut, dass wir den darin wirkenden Gesetzen der Physik keine Beachtung schenken. Wer sie aber doch verstehen will, wie es der Physikdidaktiker H. Joachim Schlichting in diesem Sonderheft tut, gewinnt einen völlig neuen und überraschenden Blick auf die Realität.
(28. August 2014) Weitere Informationen finden Sie hier. Weiterlesen
Schlichting, H. Joachim. Darmstadt: Primus Verlag 2012
„Hans Joachim Schlichting ist etwas selten Schönes gelungen. Alltagsgegebenheiten aus dem Dickicht des gewohnt alltäglichen Blicks herauszuholen, eindrucksvoll aufs Bild zu bannen und dann auch noch mit physikalischen Augen zu sehen oder gar erst zu erkennen ist schon schwierig genug. Solche Phänomene dann auch noch mit einfachen Worten zu beschreiben und zu erklären gelingt derart selten, dass dieses Buch sich deutlich aus der populärwissenschaftlichen Literatur über Phänomene in Physik und Natur heraushebt. Hier trafen das außergewöhnliche Talent eines passionierten Amateurfotografen mit dem in vielen Jahren angesammelten Wissen eines Fachmanns der Physikdidaktik zusammen. Weiterlesen
Ucke, Christian; Schlichting, H. Joachim. In: Weinheim: Wiley-VCH 2011, ISBN-10: 3527409505
ISBN-13: 978-3527409501
Produktbeschreibung: Auf den ersten Blick überrascht die inhaltliche, methodische und phänomenologische Verschiedenheit der Themen in diesem anregenden Mitmach-Buch, denn die Auswahl reicht von Spielzeugen im klassischen Verständnis über Designobjekte bis zu interessanten Gegenständen und Phänomenen des Alltags. Aber auch die Zugänge zu den Themen sind unterschiedlich! Mal stehen exploratorische und experimentelle Aspekte im Vordergrund, mal theoretische Grundlagen. Immer geht es aber um die Freude am Spiel, denn „Spiel, Physik und Spaß“ will zum Nachdenken und Mitmachen anregen. Für jedes Alter findet sich etwas: Einiges spricht schon Kinder im Vorschulalter an, anderes ist für Schüler, Studenten oder Lehrer von Interesse, wieder anderes werden ältere Leser als Spielzeug aus ihrer Jugendzeit erkennen. Weiterlesen