Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als ob der Propeller eines Turboprop-Flugzeugs (vermutlich „Bombardier Dash 8 Q400“) ziemlich flexibel auf die höhere Beanspruchung der äußeren Enden der einzelnen Blätter reagiert. Denn – so könnte man argumentieren – die Geschwindigkeit ist außen größer als innen und die Blätter wären daher außen einem entsprechend größeren Widerstand ausgesetzt, dem sie durch die Verbiegung Rechnung tragen. Ganz abgesehen davon, dass diese Argumentation physikalisch-technisch gesehen inakzeptabel ist, ist sie nicht stimmig mit der auf dem Foto zu sehenden Figur zu vereinbaren.
Hinzu kommt, dass das was man auf dem Foto oder einem Video sieht, im krassen Widerspruch zur direkten Wahrnehmung des drehenden Propellers steht. Um das zu beurteilen, müsste man aber selbst am Fenster des Flugzeugs sitzen.
Das kuriose Phänomen ist ein ungewolltes Ergebnis der Aufnahmetechnik der Kamera. Es kann typischerweise beim sogenannten Rolling-shutter-Verschluss auftreten, der bei Bildwandlern in CMOS-Sensor-Technik verwendet wird. Bei diesem Verschluss werden nicht alle Bildelemente gleichzeitig belichtet; vielmehr läuft anschaulich gesprochen eine Linie über den Sensor, in der die Belichtung gleichzeitig beginnt. Das hat bei schnell bewegten Motiven zur Folge, dass das abzubildende Objekt sich von der einen zur nächsten Zeile bereits ein Stück weiter bewegt hat. Auf diese Weise wird im vorliegenden Fall das Bild des Propellers aus Streifen aufgebaut, die aufgrund der Rotation jeweils etwas späteren Zeitpunkten entsprechen und die Blätter folglich etwas nach oben gekrümmt erscheinen lassen.
Wenn der Propeller bezogen auf die Kamera pro Zeiteinheit kleinere Abschnitte überstreicht, weil er weiter nach oben kommend sich immer mehr senkrecht zur Kamera bewegt, zwischendurch scheinbar zur Ruhe kommt und anschließend auf der gegenüberliegenden Seite sogar bezüglich der Kamera die Richtung ändert, dreht sich der Krümmungssinn der Propellerbildes sogar um.
Die genauen Ergebnisse dieser Deformationen und Zerstückelungen der aufgenommenen Propeller hängen von der Geschwindigkeit der bewegten Linie und der Rotationsgeschwindigkeit des Propellers ab. Je schneller sich die Linie bewegt, desto kleiner fällt bei gegebener Rotationsgeschwindigkeit des Propellers dieser Deformationseffekt aus. Auch bei Kameras mit Schlitzverschluss kann ein solcher Verzerrungseffekt auftreten. Dabei laufen sogenannte Vorhänge waagerecht oder senkrecht über das Bild.
Und die Moral von dieser Geschichte? Einmal mehr zeigt sich die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Bildung in einer immer mehr durch naturwissenschaftliche Technik geprägten Welt. Im vorliegenden Fall geht es u.a. um das Problem, ob man eher den eigenen Sinnen oder den technischen „Vervollkommnungen“ unserer Sinne vertrauen soll. Die Frage ist nicht generell in der einen oder anderen Richtung zu beantworten. Eine angemessene Einschätzung dieser und ähnlicher Situationen setzt ein Problembewusstsein voraus, das über rein wissenschaftlich-technische Kenntnisse hinausgeht und zu den anspruchsvolleren Aufgaben des MINT-Unterrichts gehört.
Werner Hilger schickte mir das Bild mit der Bitte um eine Deutung des kuriosen Phänomens. Fotografiert wurde es von Markus Hausmann während eines Flugs mit Azores Airlines.
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