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Physik und Kultur

Der Kopf ist mehr als ein Kürbis (Lichtenberg 6)

oberflaeche_img_2068rvDie physikalische Metaphorik die Welt als lesbares Buch anzusehen, teilt mit dem Lesen das Problem, ein Oberflächenphänomen darzustellen. Daran ändert auch die Steigerung des Sehens mit der Linse in ihren unterschiedlichen Varianten nichts. Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) sieht als einer der ersten Wissenschaftler die Gefahr, dass kritiklos von der äußeren Ansicht auf das innere Wesen geschlossen wird; das gilt für die unbelebte Natur ebenso wie für den Menschen selbst. Er sieht in der zu seiner Zeit sehr populären Physiognomik, die davon ausgeht, dass der Charakter eines Menschen aus dessen Gesichtsform und –ausdruck abgelesen werden kann, eine ideale Möglichkeit, diese Problematik zu diskutieren und zu konkretisieren. „Von der äußeren Form des Kopfs, in welchem ein freies Wesen wohnt, muß man nicht reden wollen wie von einem Kürbis, so wenig als Begebenheiten, die von ihm abhängen, berechnen, wie Sonnenfinsternissen. Man sagt mit eben dem Grad von Bestimmtheit, der Charakter des Menschen liege in seinem Gesicht, indem man sich auf die Lesbarkeit von allem in allem beruft, als man, sich auf den Satz des zureichenden Grundes stützend, behauptet er handle maschinenmäßig“ [1, S. 290]. An anderer Stelle heißt es: „Was für ein unermeßlicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele! Hätten wir einen Sinn die innere Beschaffenheit der Körper zu erkennen, so wäre jener Sprung noch immer gewagt. Es ist eine ganz bekannte Sache, daß die Instrumente nicht den Künstler machen und mancher mit der Gabel und einem Gänsekiel bessere Risse macht als ein anderer mit einem englischen Besteck“ [1, S. 258].

Wieder einmal erfasst Lichtenberg mit beeindruckender Anschaulichkeit die auch in der physikalischen Beschreibung der unbelebten Natur verbreitete Praxis, in den sichtbaren oder wie auch immer sichtbar gemachten Aspekten das Wesen und Wesentliche zu sehen oder darauf zu schließen. Die auch die modernen Naturwissenschaften bestimmenden Techniken sind nach wie vor dem Lesbarkeitsobligat unterworfen. Man denke nur an die neuesten Varianten der Mikroskopie und Teleskopie. Mit Hilfe von Ultraschallsonden, Rastertunnelmikroskopen, Röntgen- und Radioteleskopen wird alles daran gesetzt, die durch völlig unterschiedliche physikalische Verfahren gewonnenen Daten so aufzubereiten, dass wir auch dort etwas zu sehen bekommen, wo im ursprünglichen Sinne nichts mehr zu sehen ist (vgl. hier).


[1] Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Band III. München:1972.

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