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Marginalia, Physik im Alltag und Naturphänomene

Hinter farbigen Gardinen

gardinenbeugungWas macht man, wenn man mutterseelenallein in einer fremden Stadt eine Nacht oder mehrere in einem Hotel übernachten muss? Man blickt aus dem Fenster auf eine meist nicht besonders attraktive Gegend. Wenn aber der Blick durch eine Gardine gefiltert wird, kann man das Glück haben, dass es in dieser tristen Situation zu Lichtblicken kommt, die in Form von bunten Farbtupfern in spektraler Verteilung die Stimmung wieder etwas anheben.
Im vorliegenden Fall blickte ich in einer solchen Situation auf einen Edelstahlschornstein, der einen schmalen Streifen Licht der bereits tiefstehenden Sonne ins Zimmer reflektierte und dabei ein Bild entwarf, das von der Qualität her mit dem nebenstehenden Foto nur unvollkommen wiedergegeben wird. Die darin dominierenden Formen geben ganz grob die quadratische Struktur der Gardine wieder, während die bunten Farben auf den ersten Blick nichts mit dem weißen Sonnenlicht zu tun haben, das der Schornstein in Zimmer lenkt. Ich hatte also kein Kirchenfenster mit modernen Mosaiken à la Gerhard Richter vor Augen, (das ich kurz vorher im Kölner Dom bewundern konnte), sondern erlebte als Kontrastprogramm dazu ein Naturphänomen, das ich an diesem Ort nicht erwartet hätte.
Es handelt sich um ein Beugungsmuster, das durch die Fasern der Gardine hevorgerufen wird. Das von dem sehr schmalen Reflex am Schornstein ausgehende (teilkohärente) Licht wird an den etwa 0,1 mm dünnen Fäden des Gardinengitters gebeugt. Stark vereinfacht kann man sich die Beugung folgendermaßen vorstellen: Das durch die winzigen Öffnungen in der Gardine dringende Licht zerfällt in einzelne Elementarwellen. Treffen sich zwei der an verschiedenen Orten startenden, ansonsten aber gleichen Wellen im Auge des Betrachters oder auf dem Chip einer Kamera, so überlagern sie sich dort. Weil sie unterschiedliche Wege zurückgelegt haben, sind ihre Wellenberge und -täler geringfügig gegeneinander verschoben. Durch diese so genannten Gangunterschiede kann es zu Verstärkung, Abschwächung oder vollständiger Auslöschung der Intensität einzelner Wellenlängen des weißen Lichts kommen. Bei einer Verschiebung um beispielsweise genau eine Wellenlänge aus dem Spektrum des weißen Lichts fallen Wellenberge auf Wellenberge und verstärken sich so. Eine Verschiebung um null Wellenlängen entspricht dabei der 0. Beugungsordnung, eine Verschiebung um eine Wellenlänge der 1. Beugungsordnung und so weiter.
Infolge all dieser Überlagerungen zerfällt das ursprüngliche weiße Licht an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Spektralfarben. Da die Gardine ein sehr unvollkommenes Gitter ist, erscheinen die Farbmuster entsprechend unvollkommen. Aber vielleicht macht das vor dem Hintergrund der schemenhaft zu erkennenden Büsche und Sträucher gerade den ästhetischen Reiz dieser Strukturen aus. Jedenfalls war ich durch dieses Phänomen mit meiner Situation wieder einigermaßen versöhnt.

 

Diskussionen

7 Gedanken zu “Hinter farbigen Gardinen

  1. Erstaunlich, was alles zu physikalischen Betrachtungen inspirieren kann! Es bereitet großes Vergnügen, diesem Blog zu folgen.

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    Verfasst von andreaschopfbalogh | 23. Februar 2017, 13:41
    • Danke für den netten Kommentar. Ich bin mir natürlich durchaus im Klaren, dass der „physikalische Blick“ für den den einen oder der anderen auch irritierend sein kann. Denn die Welt physikalisch zu sehen bedeutet streng genommen, sie so zu sehen, wie die meisten sie nicht nicht erfahren.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 23. Februar 2017, 19:30
  2. Hinter farbigen Gardinen zu sein ist besser als hinter schwedischen Gardinen zu sitzen 😉

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    Verfasst von Malabar | 23. Februar 2017, 21:21
  3. Das klappt auch sehr gut bei Fahnen, besonders bei der Österreichischen und der Europafahne, bei der Deutschlandfahne leider nur im gelben Teil. Und bei Seidenunterwäsche 😉

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    Verfasst von ch | 26. Februar 2017, 12:26

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