…die Frucht ist dort gefallen,
Von der eignen Fülle schwer..
Friedrich Schiller (1759 – 1805)
Aus der Sicht der neuzeitlichen Physik ist der freie Fall, wonach beliebige Gegenstände mit gleicher Beschleunigung fallen, eine äußerst einfache Angelegenheit. Eine Fülle phänomenologisch verschiedener Bewegungen, wie etwa die der Satelliten und Planeten bis hin zu den Elektronen im Bohrschen Atommodell können als einheitlicher Fall, als freier Fall angesehen werden.
Doch fachwissenschaftliche Einfachheit muss nicht Einfachheit schlechthin bedeuten. Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, ist der freie Fall aus lebensweltlicher Sicht alles andere als naheliegend, vor allem deshalb, weil es die unterstellte Freiheit in (der) Wirklichkeit nicht gibt. Sie existiert nur im fiktiven Idealfall einer von allen widerständigen Elementen befreiten Situation, der man sich durch mehr oder weniger aufwendige Konstruktionen allenfalls asymptotisch annähern kann.
Die Tatsache, daß es seit den ersten Anfängen naturwissenschaftlichen Denkens bei den Griechen etwa zwei Jahrtausende gedauert hat, ehe die neuzeitliche Sehweise zum Durchbruch gelangte, kann als deutliches Indiz für die Lebensferne der grundlegenden physikalischen Ideen angesehen werden. Man stelle sich nur einmal vor, was vor dem geistigen Auge von Schülerinnen und Schülern abläuft, wenn sie sich die Aussage: ‚Alle Gegenstände fallen gleich schnell‘ vorzustellen versuchen. Vielleicht sehen sie einen Ziegel vom Dach herunterfallen und am Boden zerschellen, ein Blatt vom Baum langsam zu Boden schweben oder Löwenzahnsamen im Wind verwehen. Beim besten Willen können solche Vorstellungen nicht verhindert werden, auch wenn zehnmal darauf hingewiesen wird, die Aussage gelte streng genommen nur bei Vernachlässigung des Luftwiderstands.
Die Schwierigkeit liegt weniger in der intellektuellen Anforderung, den luftleeren Raum als einen abstrakten Raum ohne störende Medien zu denken. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich auch in anderen Bereichen zuweilen mit sehr anspruchsvollen theoretischen Konstrukten auseinandersetzen. Man denke etwa an komplizierte, abstrakte Zusammenhänge im Mathematikunterricht oder an literarische Fiktionen im Deutschunterricht. Problematisch wird die Sache vor allem durch den Anspruch der Physik, daß die für Idealgestalten „gewonnenen“ Aussagen als Aussagen über die Wirklichkeit schlechthin gelten. Dadurch kommt implizit oder sogar explizit die eigene Lebenswelt der Lernenden ins Spiel. Hier prallen Reales und Gedachtes, sicheres Wissen und vage Vermutungen unversöhnlich aufeinander. Insbesondere muss aus Sicht der Lernenden befremden, daß die mit der physikalischen Beschreibung einhergehende Unterstellung, im luftleeren Raum, in dem kein Leben existieren kann, dem man sich allenfalls mit technischem Aufwand (Vakuumpumpe oder Weltraumraketen) anzunähern vermag, gehe es gewissermaßen realer zu als in der lufterfüllten Welt, in der wir leben.
„Der Sternenhimmel (bzw. der luftleere Weltraum, HJS) ist zum Lehrbuch für die Technik dessen geworden, was natürlicherweise auf der Erde nicht gefunden werden kann“ (Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt 1981 , S 784).
Wenn man dieses Problem leichtfertig beiseite schiebt, indem suggeriert wird, daß im Grunde doch alles ganz einfach sei, müssen die Schülerinnen und Schüler ihre eigene Unzulänglichkeit als Ursache ihrer Verständnislosigkeit ansehen und beginnen, das Fach Physik abzulehnen.
Dass der horror vacui nicht nur von der Natur, sondern auch von den Menschen nachempfunden werden kann, kommt in dem Gemälde von Joseph Wright of Derby (1734 – 1797) zum Ausdruck. In dem mit zunehmendem Luftentzug ersterbenden Flattern der in einer Vakuumglocke eingesperrten Taube, zeigt sich der Horror des Vakuums auf eine sehr lebensweltliche Art: Je idealer desto lebensbedrohlicher wird die Situation. Bei Immanuel Kant löst diese Begebenheit einiges Nachdenken über das ambivalente Verhältnis von physikalischen Ideal- und lebensweltlichen Realgestalten aus: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Grenzen setzt, und wagt sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen und woran er seine Kräfte anwenden könnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen“ (Immanuel Kant: Werke Bd.2. Darmstadt 1968, S. 51).
Diskussionen
Es gibt noch keine Kommentare.