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Didaktik, Geschichte, Wissenschaftstheorie, Marginalia

Nicht jede Höhle ist eine Hölle

Zerberus, den Höllenhund, hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Aber vielleicht ist der Torbogen, den ich auf einer Wanderung entdeckte auch nicht der Eingang zur Hölle. Immerhin machte er mich auf einen Aspekt aufmerksam, den Anne Weber (*1964) folgendermaßen beschreibt:
All ihre Anstrengungen zielen darauf hin, so spät wie möglich dort hinüberzugelangen; aber früher oder später muß jeder auf die andere Seite überwechseln, heißt es. Sie sehen in dieser Wende einen tragischen Schlußpunkt und nennen ihn: der Wirklichkeit ins Auge sehen. Um diesen gefürchteten Augenblick so lange wie möglich hinauszuschieben oder auszublenden, kehren sie ihr Leben lang der Grenze und dem Grenzbewacher den Rücken zu. Zerberus blickt in das Land der Fantasie wie in ein Gemälde von Caspar David Friedrich: er nennt es das Land der Abgewandten. Was die Abgewandten sehen, steht vor ihrem inneren Auge, was sie hören, dringt in ihr inneres Ohr, was sie riechen, strömt in ihre innere Nase. Die Abgewandten kennen kein Außen, weil sie das Außen ungesehen und ungehört in ein Innen verwandeln, als das es dann aufblüht und wundersame Formen annimmt, wie man es ja von Phantasiegespinsten nicht anders erwartet.*

Als Physiker werde ich durch derartige Hohlräume auch noch an den schwarzen Körper oder schwarzen Strahler (Hohlraumstrahler) erinnert. Denn im Idealfall wird alles Licht jeder Wellenlänge, das von außen in die Höhle eindringt absorbiert. Wenn das allerdings das einzige wäre was passierte, müsste es in der Höhle immer wärmer werden. Daher sendet sie Wärmstrahlung aus, die gewissermaßen völlig eigenschaftslos ist, indem sie ihren Ursprung vergessen hat und hinsichtlich ihrer Intensität und spektralen Verteilung unabhängig von der Beschaffenheit des Hohlraums ist. Sie hängt einzig von der Temperatur ab und ist intensiver als die von jedem realen Gegenstand gleicher Temperatur und Oberfläche ausgehende Strahlung. Diese Schwarzkörperstrahlung oder auch Hohlraumstrahlung ist eine Art Referenz für elektromagnetische Strahlungen schlechthin. Solche Referenzen sind wichtig und gehören natürlich rund um die Uhr bewacht.


* Anne Weber. Besuch bei Zerberus. Frankfurt 2004.

Diskussionen

13 Gedanken zu “Nicht jede Höhle ist eine Hölle

  1. Das ist etwas völlig Neues für mich. 🙂
    Was nicht schlecht ist, sondern gut.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 13. Oktober 2018, 00:12
  2. Immer interessant, was es bei dir zu lesen gibt! Ganz abgesehen von diesem ungemein furchterregenden Zerberus 🙂

    Gefällt 1 Person

    Verfasst von Myriade | 13. Oktober 2018, 10:34
  3. Lieber Joachim, die Physik klingt mal wieder recht metaphysisch in meinen Ohren, so dies „gewissermaßen völlig eigenschaftslos ist, indem sie ihren Ursprung vergessen hat“. Ihren Ursprung vergessen sollte auch Persephone, als Hades sie raubte und in das vom Höllenhund bewachte Reich der Schatten schleppte. Ich machte daraus ein Gleichnis für das Schicksal, das die Götter von Brüssel und Berlin den Griechen bereiteten, in zwei Einträgen mit Legebildern von 2015. Abgewandte auch hier : „Sie sehen in dieser Wende einen tragischen Schlußpunkt und nennen ihn: der Wirklichkeit ins Auge sehen“.
    https://gerdakazakou.com/2015/06/27/der-raub-der-persephone/
    https://gerdakazakou.com/2015/06/28/der-raub-der-persephone-bildvarianten-und-details/

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    Verfasst von gkazakou | 13. Oktober 2018, 20:04
    • Liebe Gerda, die Metaphysik und die Physik sind an zahlreichen Stellen eng miteinander verknüpft. Dass ich keinen Hohlraum sehen kann, ohne an die „selbstvergessene“ Hohlraumstrahlung zu denken, ist in der Tat bedenklich. Aber jenseits der déformation professionelle bewegt mich auch immer der mehr philosophische Gedanke, woher die physikalischen Bilder denn alle kommen. Vieles gründet in der Tat bei den alten Griechen.
      Ein Problem der Heutigen ist vielleicht, dass – wenn man beispielsweise an den Finanzsektor denkt – die klare Grenze zur Unterwelt zunehmend unkenntlich werden. Kein Wunder, wenn der Höllenhund zum Gartenzwerg wird.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 14. Oktober 2018, 10:55

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