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Physik im Alltag und Naturphänomene

Frühling – die Pflanzen fahren aus ihrer Haut

Gebrauchsgegenstände werden in der Regel mehr oder weniger aufwändig verpackt. Damit sollen die Produkte zum einen vor Beschädigungen bei Lagerung und Transport geschützt werden. Zum anderen – und dieser Grund ist oft noch wichtiger – sollen sie gefallen und zum Kauf verführen. Wenn man sich die Tricks der Verpackungsindustrie genauer anschaut wird man über den Einfallsreichtum staunen. Oft lassen sich die papiernen Behältnisse durch Lösen weniger Klebestellen auf verblüffend einfache Grundformen zurückführen.
Bei der Verpackung von Geschenken steht oft gar nicht mehr der praktische Gesichtspunkt im Vordergrund, sondern vielmehr die  Ästhetik, die dem des Inhalts in manchen Fällen sogar übertrifft und eine Art Vorspiel zum eigentlichen Geschenk darstellt. Und wer hätte nicht schon Geschenke erhalten, bei denen die Verpackung mehr hermachte als das eigentliche Geschenk.
Und dann ist da ja auch noch das Inverse, das Entpacken als eine Art Hinauszögern der Überraschung und der Freude über das Geschenk. Die Ungeduldigen wollen diese Phase des Schenkens am liebsten überspringen und reißen dem Geschenk die Verpackung gewissermaßen vom Leibe. Ich denke, die haben eine Enttäuschung geradezu verdient. Und dann gibt es die, die geradezu einen Kult des Entpackens zelebrieren und versuchen das Verpackungsmaterial wenn möglich unversehrt in die ursprüngliche Form zurückzuversetzen. Dass Verpacken zur Kunst werden kann und über den Bereich des Schenkens hinausgeht, haben die international bekannten Verpackungskünstler Jeanne Claude und Christo in vielen spektakulären Aktionen bewiesen, auch wenn man dabei eher von Verhüllen spricht. Und ist die Mode u.a. als Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses immer wieder schön und neu gekleidet vor sich selbst und seine Mitmenschen zu treten nicht auch eine besonders elaborierte Form der Verpackung – der Verpackung von Menschen? Der ursprüngliche Zweck der Bekleidung scheint in vielen Fällen zur Nebensache geworden zu sein.
Verpackungskünstler erlebt man auch in der Natur. Allerdings stehen bei ihnen meist keine ästhetischen Kriterien im Vordergrund, sondern eher physiologisch-ökonomische Aspekte – auch wenn diese oft eine große Schönheit entfalten. Jedenfalls streife ich zurzeit durch die Natur und freue mich daran, die aufbrechenden Knospen zu betrachten und zu bewundern, wie sie Blätter oder Blüten zur Entfaltung bringen. Die kunstvolle Faltung ist die natürliche Lösung des Problems, die bei zahlreichen Pflanzen schon im Winter oder sogar noch davor ausgebildeten Blätter oder Blüten auf kleinem Raum mit kleiner Oberfläche unterzubringen. Denn da der Energieaustausch durch Wärme mit der Umgebung zwangsläufig durch die Oberfläche erfolgt, gilt es diese zu minimieren, um die Pflanze vor Erfrierungen zu schützen.
Schaut man sich im Frühling zum Beispiel die Knospe einer Kastanie im Verlauf einiger Tage genauer an, so kann man die schrittweise Entfaltung der Blätter beobachten und erkennen, wie diese äußerst platzsparend so gefaltet waren. Da eine Knospe im Prinzip aus der Knospenachse als Teil des späteren Stängels und den Knospenblättern besteht, sind die empfindlichen Teile dicht aufeinander um die Achse drapiert. Die äußeren Blätter sind in vielen Fällen schuppenförmig einander überlappend angeordnet – ähnlich wie Dachschnindeln in früheren Zeiten. Einen zusätzlichen Schutz bietet oft ein klebriger, harzähnlicher Überzug, durch den die Knospenschuppen fest miteinander verbunden sind. Da die Knospen bei zahlreichen Pflanzen so auch bei der Kastanie schon vor dem Winter gebildet werden, haben Eis und Schnee keine Chance hier einzudringen.
Das im Frühling ausgelöste Wachstum der Pflanzen treibt die „sorgfältig“ verpackten Blätter aus ihrem engen Behältnis heraus und bringt sie zur Entfaltung. Ich beobachte den Fortschritt von einem Tag zum anderen und bin erstaunt, wie schnell das ganze vonstatten geht.

Diskussionen

10 Gedanken zu “Frühling – die Pflanzen fahren aus ihrer Haut

  1. Ein feiner Artikel, mit sparsamer Physik 😉
    Aber sie schimmerte dennoch durch, denn ohne Physik läuft auf diesem Erdball nichts…

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    Verfasst von kopfundgestalt | 14. April 2020, 00:31
  2. Schöner Verpackungsvergleich. Es ist immer wieder faszinierend, diese Verwandlung in der Natur.

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    Verfasst von Xeniana | 14. April 2020, 07:08
  3. Es war ein Genuss zu lesen wie Verpackung, Natur und Mode und Kunst zusammenhängen, bei weit gespanntem Bogen, Liebe Grüße
    Juergen

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    Verfasst von juergenkuester | 14. April 2020, 09:03
  4. wenn man sorgfältig hinguckt (und eine gutes Macro-Objektiv hat) sieht am, wie behaart diese Hülsen sind: https://www.flickr.com/photos/rolfnoe/49768586112/in/dateposted-public/

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    Verfasst von rolfnoe | 15. April 2020, 20:29
  5. Toller Artikel! Bin immer auf der Suche nach neuen Erkenntnissen und Erfahrungen in der Pflanzenwelt! Grüße von http://www.stephaniaerecta.de/

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    Verfasst von PW | 4. Juni 2020, 12:29

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