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„Feurig geht der Vollmond um Mitternacht auf…“

Dürfen Schriftsteller und Poeten „lügen“, indem sie Situationen beschreiben, die es so nicht geben kann? Ich maße mir nicht an, dies beurteilen zu wollen. Das müssen die Poeten unter sich ausmachen. Arno Schmidt ( 1914 – 1979) ist einer unter ihnen, der seine Kollegen immer wieder tadelt, wenn sie seiner Meinung nach  in dieser Hinsicht Fehlverhalten zeigen. Dabei nimmt er ein Wort von Samuel Butler (1835 – 1902) zum Motto: „I don’t mind lying, but I hate inaccuracy!“. Diese Ungenauigkeit wirft Schmidt zum Beispiel einem seiner Lieblingsautoren vor:
„Leopold Schefer (1784 – 1862), bekanntlich einer meiner Lieblinge, kriegt das leider auch fertig, in seinem Gedicht „Nordlicht“ zu schwelgen:
Denn feurig geht der Vollmond gar nun auf,
bang ächzend schwirrt die Eule wieder um,
die alte Weide leuchtet wie ein Geist,
und nach der Sterne Stand ist’s Mitternacht.“
Sorry! : das, was um Mitternacht aufgeht, kann nur ein abnehmender Halbmond sein. (Und man komme mir, bitte, nicht mit ‚Stimmung‘ und ähnlich feinsinnigen Ausreden; da frage ich nur zurück : hätte er nicht auch sagen können, „denn feurig geht der Halbmond gar nun auf“?).

Ich erlaube mir Folgendes hinzuzufügen: Aus der Sterne Stand zu erschließen, dass Mitternacht ist, scheint mir wesentlich anspruchsvoller zu sein als zu wissen, dass der Vollmond der Sonne vis-à-vis gegenübersteht und daher genau genommen dann im Osten aufgeht, wenn die Sonne im Westen untergeht. Vermutlich waren Schefer die astronomischen Verhältnisse gar nicht so klar, dass er auf die von Schmidt vorgeschlagene Alternative gekommen wäre, vom feurig aufgehenden Halbmond zu sprechen.


Schmidt, Arno: Und es blitzten die Sterne… In: Aus julianischen Tagen. Frankfurt: Fischer 1979, S. 164.

Diskussionen

10 Gedanken zu “„Feurig geht der Vollmond um Mitternacht auf…“

  1. Du hast das Thema ja schon mal erörtert, und auch ich bin gegen die erfinderische Poesie ziemlich allergisch. Vollmond zu Mitternacht aufgehen lassen, kann eigentlich nur einem Stadtbewohner einfallen. Aber die gibts eben auch. Ich bin seit gestern wieder in Athen, und tatsächlich sah ich den Vollmond um Mitternacht endlich (!) über dem Nachbarhaus aufgehen. Vorher war er hinter dem Horizont des Hauses verborgen. vielleicht ist das eine Ehrenrettung auch für Dichter, die aus Sternenständen die Stunde errechnen wollen. Sie haben selten den halben Himmel über sich, meistens müssen sie mit einem Fitzelchen vorlieb nehmen.

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    Verfasst von gkazakou | 26. Mai 2021, 00:33
    • Als Arno-Schmidt-Fan werde ich vermutlich auch in Zukunft auf ähnliche Passagen, die zum Themenkreis „Physik und Literatur“ gehören, eingehen. Zum aktuellen Fall hast du vollkommen recht. Was heißt schon ‚aufgehen‘? Auch wenn Schefer sein Gedicht sicherlich nicht auf eine Stadt bezieht, so könnte ein hoher Berg einen ähnlichen Effekt wie ein hohes Haus haben. Vermutlich geht Schmidt davon aus, dass Schefer eh in seiner Stube gedichtet hat und die Situation nur vor seinem poetischen Auge vorhanden war. Und diesem Fall erwartet er Präzision. Aber das setzt voraus, dass die Dichter sich mit den Mondphasen in diesem Fall und anderen physikalischen Zusammenhängen in anderen Fällen gut auskennen. Und da fragt sich, ob man das erwarten kann.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 26. Mai 2021, 09:10
      • Ja freilich kann man das erwarten. Auch Dichter sollten sich in ihren Gegenständen auskennen, und der Mond ist ein geradezu klassischer poetischer Gegenstand.

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        Verfasst von gkazakou | 26. Mai 2021, 09:20
      • Der Mond wird uns sicher auch in Zukunft in der Literatur erhalten bleiben. Ich lese gerade einen literaturwissenschaftlichen Aufsatz dazu.

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 26. Mai 2021, 11:42
  2. Ein analogon fällt mir ein: bobby fischer hatte einmal einen schreibenden Kollegen, selbst grossmeister, sehr hart und öffentlich gerügt, weil er in der Kommentierung einer Meisterpartie eine Stellung falsch beurteilte. Zwar war diese Beurteilung sehr sehr naheliegend, aber dennoch falsch. Das konnte aber nur erkennen, wer eh alles tief anschaut.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 26. Mai 2021, 09:59
    • In einem solchen Fall würde ich die Beurteilung davon abhängig machen, ob die Wirkung auf die Rezipienten durch eine korrekte Beschreibung eine wesentlich andere gewesen wäre.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 26. Mai 2021, 11:46
      • Aber sicher doch, denke ich.
        Im Schach gibt es den Begriff „schlechter Läufer“ . Das war in diesem Falle einer. Aber im Zusammenspiel mit einem erstaunlich aktiven König wurde der schlechte Läufer plötzlich zu einem guten! Das heisst, man darf nicht nur ein Faktum betrachten. Alles wirkt zusammen.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 26. Mai 2021, 11:52
      • Das alles zusammenwirkt – manches mehr, manchen weniger stark – scheint mir klar zu sein. Um den Überblick zu behalten, muss ein beschränkter Geist (und einen solchen hat der Mensch nun mal) wissen, wo er die Grenzen zieht. Dabei kann man sich natürlich leicht täuschen…

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 26. Mai 2021, 13:37
      • In dem Fall wirkte ja noch was anderes mit: Fischer ging es nicht nur um Präzision. Ihm ging es wohl AUCH um zurückliegende Erfahrungen mit diesem Menschen.
        Erst gestern hörte ich von einem Match eines anderen, in dem dessen Sekundant keine einzige eigene Idee in die Vorbereitung eingebracht haben soll. Auch das muss man erstmal können …
        Ich schweife ab…wie so oft.

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        Verfasst von kopfundgestalt | 26. Mai 2021, 13:47
      • Deine Abschweifungen sind interessant. Ich selbst neige in Vorträgen u.Ä. auch zu Exkursen, was mich manchmal in Zeitbedrängnis bringt …

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 26. Mai 2021, 18:38

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