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Physik im Alltag und Naturphänomene, Rubrik: "Schlichting! "

Das Geheimnis der Sandburgen

Schlichting, H. Joachim. In: Spektrum der Wissenschaft 9 (2014), S. 44 – 45

Wer je ein Kind beseligt matschend im Sandkasten
oder am Meeresstrand beobachtete, der weiß,
daß in diesem glückhaft-tätigen Umgang
mit dem wäßrigen Erdenbrei
etwas Elementares geschieht.
Günter Altner (1936 – 2011)

Auch Kinder können stabile Sandburgen bauen, denn auf das genaue Mischungsverhältnis von Wasser und Sand kommt es kaum an. Warum das so ist, wissen Forscher aber erst seit wenigen Jahren!

Sand ist so schwer zu fassen wie eine Flüssigkeit. In trockenem Zustand rinnt er durch unsere Finger. Treibt ihn der Wind vor sich her, bildet er Dünen, die wie Wasserwellen – aber viel langsamer – zu wandern beginnen. In Gefäße gefüllt, nimmt er wie eine Flüssigkeit deren Form an. Kaum gerät Sand jedoch mit Wasser in Berührung, dem Inbegriff eines Fluids, ändert sich auf einen Schlag alles. Das System ist fortan mehr als die Summe seiner fluiden Teile: Feuchter Sand fließt nicht mehr, sondern lässt sich in nahezu beliebige feste Gestalt bringen.

Die Erklärung dafür ist auf den ersten Blick einfach. Wenn Sand unter Wasserzufuhr verklumpt, wird dabei verhältnismäßig viel Grenzflächenenergie an die Umgebung abgegeben. Wer die Form solcher Klumpen anschließend wieder verändern will, muss diese Energie reinvestieren. Doch während jeder Kuchen Zutaten mit genauestens aufeinander abgestimmten Mengenverhältnissen braucht, damit er die richtige Konsistenz bekommt, ist es kinderleicht, aus Sand und Wasser eine sandburgentaugliche Mischung zu erzeugen. Denn die wasserbedingte Steifigkeit des Sands ist über einen weiten Bereich nahezu unabhängig vom genauen Wassergehalt. Erst wenn dieser ein kritisches Maß übersteigt – etwa wenn auflaufendes Wasser am Strand die Fundamente der Burg umspült –, verflüssigt sich der Sand wieder. Dann »rieselt« er im flüssigen Medium ähnlich wie trockener Sand in der Luft. Warum ist das so?

Als Teilbereich der nichtlinearen Physik, die sich in den letzten Jahrzehnten als eigenständige Disziplin etabliert hat, erlangen feuchte Granulate in jüngerer Zeit immer mehr Aufmerksamkeit. Auch Wissenschaftler um Stephan Herminghaus vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation haben sich dieser Problematik angenommen. Ihre Ergebnisse gewinnen sie an winzigen Glaskügelchen; bei diesen müssen sie auf die unterschiedlichen Formen der »Sandkörner« keine Rücksicht nehmen, sondern können sich stattdessen auf ihre davon unabhängigen Eigenschaften konzentrieren.

Wenn sie ihre Resultate anschließend doch auf Sandkörner übertragen, müssen sie vor allem deren größere Rauigkeit berücksichtigen, die zu einem noch steiferen Endprodukt führt. Denn zum einen verhaken sich die Körner miteinander, zum anderen verfügen sie über mehr Kontaktstellen als Glaskugeln.

Sand und Wasser verbinden sich nach einem einfachen Grundprinzip miteinander. Zur Ausbildung einer Grenzfläche zwischen beiden Substanzen ist Grenzflächenenergie nötig. Dabei ist die Natur gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik bestrebt, möglichst wenig Energie zu investieren und stattdessen so viel davon wie möglich an die Umgebung abzugeben; sie tendiert also zur Ausbildung einer möglichst kleinen Grenzfläche. In der Realität führt dieses Prinzip zu einer gewissen Konkurrenz: Grenzflächen zwischen Sand und Wasser sind energetisch günstiger (bedürfen also weniger Energie) als die zwischen Wasser und Luft, so dass Erstere auf Kosten von Letzteren wachsen.
In unmittelbarer Nähe der Kontaktstellen zwischen den Sandkörnern ist der Konkurrenzvorteil besonders groß. Hier entstehen Grenzflächen zwischen Wasser und Sand mit nur wenig Wasser und benötigen damit noch weniger Grenzflächenenergie (Grafik links). Entsprechend viel Energie kann in die Umgebung abfließen. Dasselbe Prinzip lässt auch Wasser in einem dünnen Glasröhrchen – in einer Kapillare – gewissermaßen von selbst aufsteigen, weshalb man von Kapillarbrücken spricht. Diese fixieren die Sandkörner gegeneinander (Grafiken rechts), und der Sand beginnt fest zu werden. Wollte man die Körner wieder voneinander trennen oder sie auch nur gegeneinander verschieben, müsste man die vorher verloren gegangene Energie zurück in das System stecken, um die energiereicheren Grenzflächen zwischen Sand und Luft wiederherzustellen. Die Kraft, gegen die man dazu an arbeiten muss, macht die Steifigkeit und Festigkeit des nassen Sands aus.

Was in den Sandklumpen genau geschieht, beobachteten die Forscher mithilfe eines Röntgentomografen am Elektronensynchrotron des Institut Laue-Langevin in Grenoble. Wenn man die Kügelchen nach und nach befeuchtet, so stellten sie fest, steigt die Zahl der Kapillarbrücken pro Teilchen zunächst auf etwa sechs an. Bereits bei einem Flüssigkeitsanteil von etwa 2,5 Prozent Flüssigkeitsvolumen pro Granulatvolumen erreicht der Sand eine im folgenden nicht mehr steigerbare Stabilität. Bei weiterer Wasserzufuhr dehnen sich die Grenzflächen zwischen Teilchen und Flüssigkeit zwar soweit aus, dass sie mit benachbarten Kapillarbrücken zusammenfließen und größere Verbände bilden, die zu neuen, komplexeren Benetzungsstrukturen führen. Die mechanische Steifigkeit des Sandes bleibt aber bis etwa 16 Prozent Flüssigkeitsanteil im Wesentlichen konstant.

Die benetzten Flächen zwischen den kugelförmigen Teilchen treten erstmals dann miteinander in Verbindung, wenn sie einen Winkelbereich von 120 Grad einnehmen. Dabei fusionieren zunächst drei Kapillarbrücken zu einem Dreierverband. In dieser Situation ist es energetisch günstiger, wenn bei weiter zunehmender Wässerung das Wasser nun auch in die luftgefüllten Zwischenräume zwischen den Teilchen fließt. Denn dabei kann das System mehr Energie in die Umgebung abgeben, als wenn sich eine Grenzfläche mit eingeschlossenen Luftzwickeln ausbildete. Mit weiterer Wasserzufuhr wachsen die Dreiersysteme zu noch komplexeren Verbänden zusammen, während das zusätzliche Wasser einfach in den Zwischenräumen eingelagert wird. Die Steifigkeit und mechanische Stabilität des nassen Sands hängt also nicht mehr von der aufgenommenen Wassermenge ab, sondern stattdessen nur von der Größe der Teilchen und der Oberflächenspannung der Flüssigkeit – jedenfalls solange noch genügend Hohlräume zu füllen sind und das Wasser das Granulat nicht einfach überschwemmt.

Für spielende Kinder und erwachsene Burgenbauer ist dies ein Glücksfall, ohne den ihr Freizeitvergnügen wohl kaum so populär geworden wäre. Außerdem hilft die Pufferfähigkeit des Sands für Wasser, die Lebensdauer der Burgen zu erhöhen: Es genügt, sie in mehr oder weniger großen Abständen zu »wässern«, um sie vor Austrocknung und Verfall zu bewahren.

Natürlich werden die Untersuchungen nicht der Burgenbauer zuliebe durchgeführt, die das gar nicht wissen müssen. Die Ergebnisse, insbesondere die vom Wassergehalt eines feuchten Granulats weitgehend unabhängige Steifigkeit, sind für die Lebensmittel- und Pharmaindustrie von großer Bedeutung. Das Verständnis des Verhaltens granulathaltiger Boden kann beispielsweise helfen Erdrutsche vorherzusagen. Außerdem hofft man mit diesen und darauf aufbauenden Erkenntnissen dazu beitragen zu können, die Erdölförderung in porösen Gesteinen effektiver zu machen.

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