Ich saß in einem Straßencafe direkt am Hafen von Greetsiel und trank ein Glas Bier. Plötzlich sah ich, dass Leben in meinem Glas aufkam. Winzige Abbilder der vorbeigehenden Spaziergänger liefen in umgekehrter Richtung auf Spielzeuggröße verkleinert durch das Glas, wobei sie der Rundung des Glases entsprechend zur Mitte hin dicker und anschließend wieder dünner wurden. Im Bierglas lief das Geschehen sogar auf dem Kopf stehend ab; eine artistische Glanzleistung! Hier zeigte sich, dass Biertrinken verkehrt ist. Aber nicht deshalb zögerte ich, mein Glas zu leeren. Ich hatte Gefallen an dem Miniaturgeschehen gefunden, das mit jedem Zug dem Verschwinden ein wenig näher gebracht wurde.
Ein mit einer transparenten Flüssigkeit gefülltes Glas wirkt wie eine Sammellinse. Das nahezu zylindrische Wasserglas kommt einer Zylinderlinse, das bauchige Bierglas einer sphärischen Linse nahe. Macht man sich klar, wie das Licht durch eine Zylinderlinse läuft, so leuchtet unmittelbar ein, dass Links mit Rechts vertauscht wird (siehe zum Beispiel hier). Bei einer eher kugelförmigen Linse, die – so könnte man vereinfacht sagen – wie eine sowohl in horizontaler wie in vertikaler Richtung orientierte Zylinderlinse wirkt, werden zusätzlich auch noch Oben und Unten vertauscht. Und da wir als Beobachter und die Passanten als indirekt Beobachtete gemessen an der Brennweite dieser Alltags- bzw. Zufallslinsen weit entfernt sind, kommt es zu den Vertauschungen. Betrachtet man Gegenstände dicht hinter den Sammellinsen, so benehmen sie sich wie Lupen. Man sieht aufrecht stehende, vergrößerte Abbilder.
Manchmal registiert ein Bierglas ganz ungefragt sogar die Menge, die man pro Zug zu sich nimmt. Diese automatische Aufzeichnung hat jedoch nichts mit geometrischer Optik zu tun.
Man kann natürlich die Kurzlebigkeit solcher schönen Eindrücke und Phänomene beklagen, insbesondere dann wenn man sehr durstig ist. Wenn es jedoch gelingt, sie in Sätze zu verwandeln, sind sie nicht ganz verloren.
Danke für die Erinnerung an ein Wunder meiner Kindheit; damals bekam man nämlich beim Einkehren in deutschen (ländlichen) Gaststätten Apfelsaft in Römergläsern serviert, diesen weissen, bauchigen, mit dem breit ausschweifenden Fuss aus grünen, geriffelten Glas – normalerweise für glasweisen Ausschank von Wein oder Maibowle – und darin eben diese Miniaturwelt auf dem Kopf zu beobachten, hat mich noch mehr fasziniert als das „Erwachsenenglas“.
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An die „Römer“ kann ich mich auch noch gut erinnern. Ob mir auch die Spiegelungen aufgefallen sind, weiß ich nicht mehr. Aber die Abbildungen von Kerzenflammen als helle Flecken hinter den Gläsern, wie sie bei für uns Kinder meist langweiligen großen Feiern zu bestaunen waren, sind mir noch gut in Erinnerung geblieben.
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Ja! 🙂
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Nach ein paar Bier mehr erweitern sich oft die Eindrücke und Erkenntnisse
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Das ist wohl wahr. Da kommen dann noch andere Bewegungen ins Spiel.
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Gestern betrachtete (und fotografierte) ich die Lichtbilder, die Weinglas, Wasserglas und Karaffe auf ein weißes Tischtuch warfen – und dachte: wäre Joachim Schlichting hier, er könnte mir vielleicht erklären, wie diese Muster zustandenkommen…. Deine Spiegelungen sind freilich noch eindrucksvoller.
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Danke für das nette Kompliment. Solange man die Erklärung nicht im unpassenden Moment bringt und eine Situation dadurch entzaubert, will ich gern damit in Zusammehang gebracht werden.
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Sätze sind fürwahr unsere Rettung!
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