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Marginalia, Physik im Alltag und Naturphänomene, Physik und Kultur

Früher Frühling

Der Knospen Frühling war annoch:
Man sah fast sichtbarlich, wie bey dem lauen Wetter,
Das grüne heer der jungen Blätter
Aus ihren röthlichen Behältern kroch.
Sie hingen erst annoch verwickelt unter sich;
Entwickelten sich aber nach und nach,
Und fingen allgemach,
An allen Seiten,
Sich auszudehnen, auszubreiten,
Sich auszuspannen an, und sanft sich zu erhöhn.
Der allerdünnste Tafft, ist nicht so sanft, so schön,
So klar, so glatt, so gläntzend, zart und fein,
Als neu-gebohrne Blätter seyn.
Die Aederchen sind selbst durchsichtig, und noch vielmehr
Das noch viel zärtere Gespinnst. Das Sonnen-Licht,
So ungehemmt fast, durch sie bricht,
Und durch ihr zart Gewebe strahlet;
Wird, echt als fiel es durch ein grünes Glas,
Auch grün bemahlet.
Hiedurch entstehen klare Schatte,
Die Wald und Garten, Lufft und Matten
Fast unaussprechlich lieblich füllen,
Sie zeigen manchen Schmuck, auch wann sie ihn verhüllen.*

Das obige Foto ist am 9. April 2013, das untere am 9. März 2020 aufgenommen worden. Beide Huflattischpflanzen haben etwa denselben Entwicklungsstand, die diesjährige ist also der von 2013 einen Monat voraus. Insofern kann man ganz im Sinne des Barockdichters Barthold Hinrich Brockes (1680 – 1747) von einem frühen Frühling sprechen, der heute mit der Tag-und-Nachtgleiche (Primär-Äquinoktium auf der Nordhalbkugel) beginnt. Geozentrisch gesehen ist die Sonne schon wieder auf dem halben Rückweg nach Norden – sie überquert heute um 4:49 Uhr MEZ den Äquator.


Aus: Brockes, Barthold, Hinrich. Im grünen Feuer glüht das Laub. Weimar 1975, S. 68

Diskussionen

8 Gedanken zu “Früher Frühling

  1. Die Pflanzen und Insekten kommen mit den wärmeren Tagen früher, der Virus schert sich leider darum nicht.
    Etwas trösten kann die üppig werdende Natur.

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    Verfasst von kopfundgestalt | 20. März 2020, 10:15
  2. Wobei gerade Huflattich ein extremer Frühblüher ist – der leuchtet schon im Februar los und blüht dann bis April. Da ist ein solcher Vergleich nicht unbedingt evident. Buschwindröschen fangen gerade an zu blühen – ab März wie jedes Jahr, genau wie’s Scharbockskraut. Bei denen „stimmt“ die Timeline 🙂
    Liebe Grüße und bleibt gesund!

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    Verfasst von simonsegur | 20. März 2020, 11:14
    • Du hast natürlich recht. Mein Beitrag war auch nicht im Sinne eines wissenschaftlichen Nachweises gemeint, sondern eher als ein Eindruck: Da ich seit vielen Jahren den Huflattich an einer bestimmten Stelle als Frühblüher erlebe, habe ich einfach mal die Aufnahmedaten verglichen und hier einen Monat Unterschied festgestellt. Dies wollte ich dem Gedicht Brockes unterstützend zur Seite stellen. Vielen Dank für deinen Kommentar und auch dir alles Gute. Liebe Grüße, Joachim.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 20. März 2020, 13:31
  3. eure Kommentare entheben mich der Versuchung, meinerseits über das Blühen des Huflattichs – und ob er zu früh blüht – meine Halbweisheiten zu gießen. So kann ich mich auf die Schönheit des Gedichts – seine erstaunliche Genauigkiet und den angenehmen Verzicht auf fromme Blicke zum Herrgott – konzentrieren. Auffällig bei den Fotos ist das unterschidliche Drumherum: einmal welke Blätter, einmal frisches Grün. Und die Blüten von 2013 wirken zärtlicher, kindlicher, „unreifer“ als die Blüte von diesem Jahr. Oder ist das unterschiedliche Tageslicht schuld?

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    Verfasst von gkazakou | 20. März 2020, 15:16
    • Du hast natürlich recht. Das Grün in dem jüngeren Bild bringt einen zusätzlichen Akzent in die Situation. Der Ort ist aber bis auf einige Meter (immerhin ist es 7 Jahre her) derselbe, weil ich auf meinem Spazierweg seit – gefühlt – Menschengedenken dort vorbeikomme. In einem Meter Entfernung von der diesjährigen Fundstelle sieht die Umgebung genauso aus wie auf dem alten Foto. Der Unterschied im Farbton mag daran liegen, dass 2013 die Sonne schien… Abgesehen von künstlerischen und gefühlsmäßigen Unterschieden ist der Entwicklungsstand aber doch derselbe. Ich werde am 9. April schauen, wie es dann aussieht. Zu Brockes: Er ist wirklich ein sehr exakter Beobachter und macht in manchen Situationen auf Details aufmerksam, die ich erst nach der Lektüre seiner Gedichte entdeckte. Den obligatorischen Dank an den Herrgott spart er sich für den Schluss auf – dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Gedicht.

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      Verfasst von Joachim Schlichting | 20. März 2020, 16:10
      • A ja, ich wunderte mich schon, dass dieses Dankeschön fehlte. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Früher sagte man vorm Essen ja auch ein Tischgebet und ein Dankeschön an „Gott, der alles wachsen lässt“, bevor man sich erhob. Heute neige ich dazu, den Menschen rund um den Globus zu danken, die die Ingredienzien meiner Mahlzeit anbauten, ernteten, schlachteten, vereisten, verarbeiteten, verpackten, heranschafften, zum Verkauf anboten, abrechneten….

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        Verfasst von gkazakou | 20. März 2020, 17:50
      • Wenn man an die Arbeitsbedingungen mancher Menschen denkt, die in aller Welt für uns arbeiten, so wäre so ein Dank in der Tat wenigstens so etwas wie eine symbolische Geste….

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        Verfasst von Joachim Schlichting | 20. März 2020, 18:36

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