Damit eine Pflanze senkrecht nach oben dem Licht entgegen wachsen kann, benötigt sie viel Energie und Material, um ein entsprechend stabiles „Bauwerk“ zustande zu bringen. Paradebeispiele dafür sind Bäume. Sie können bis über 100 m hoch werden, benötigen dafür aber auch eine sehr lange Zeit.
Manche Pflanzen, zum Beispiel die Waldrebe, konzentrieren sich lieber auf ein rasches Höhenwachstum und nutzen Bäume und andere Pflanzen als Stützgerüst. Einige von ihnen winden sich schraubenförmig um ihre Stütze und erlangen dadurch einen festen Halt und ein rasches Vorankommen. Die Windungen um einen jungen Baum behindern diesen nicht selten in seinem Dickenwachstum. Das linke Foto legt jedenfalls das Szenario nahe, dass der Baum von der Schlingpflanze gewissermaßen erdrosselt wurde. Das lässt auf eine enorme Kohäsionskraft der Längsfasern der Schlingpflanze schließen, die der Kraft des sich ausdehnenden Baums widersteht.
Erstaunlich groß ist auch die Reibungskraft dank der die Kletterpflanze am Baum haftet, was nicht unmittelbar plausibel erscheint. Denn wenn der Baum dicker wird, wäre doch denkbar, dass auch der Windungsradius der Schlinge entsprechend zunähme. Könnte die damit verbundene Längenzunahme der Kletterpflanze nicht einfach durch eine Abnahme der ihrer Höhe ausgeglichen werden.
Das passiert offenbar nicht, weil es durch eine sehr große Reibungskraft zwischen der Kletterpflanze und dem Baumstamm verhindert wird. Diese nimmt nämlich exponentiell mit ihrer Windungszahl zu. Ein relativ kleiner Reibungkoeffizient würde reichen, um enorme Reibungskräfte hervorzubringen.
Um sich eine Vorstellung von der exponentiellen Kräftesteigerung zu verschaffen, denke man etwa an die Befestigung eines Schiffes am Kai. Nur wenige Umschlingungen des Taus um den Poller reichen aus, damit ein am Tau ziehender Mensch ein Schiff zu fixieren vermag.
Die Ergebnisse eines möglicherweise erfolgten Kräftemessens zwischen Baum und Kletterpflanze sieht man in den Fotos. In beiden Fällen ist es nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Im rechten Foto ist zumindest der Baum noch intakt, auch wenn die Spuren der verheilten Verwundungen nicht zu übersehen sind.
Feines Beispiel einer aufreibenden Coexistenz 😉
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Danke, Gerhard! „Aufreibend“ im doppelten Wortsinn 🙂
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Kommt nicht noch hinzu, dass der „Aufsteiger“ im grünen Zustand windet und dann zunehmend verholzt, so dass auch ohne Reibung er sich nicht anpassen könnte?
Auch wenn der Aufsteiger sein zunehmendes Stärkenwachstum allein nach außen verlegte, würde die zunehmende Dicke des Stützgehölzes doch dazu führen, dass es sich selbst hineinpresst in das Umgebende und es sich quasi selbst erwürgt.
Hinzu kommt noch die eindringende Feuchtigkeit, die zwischen den beiden Pflanzen nicht abtrocknen kann und auf die Dauer zu Fäulnis führt. Aber das ist wohl ein eher biologischer, weniger physikalischer Aspekt.
Deine Betrachtungen finde ich außerordentlich anregend, Joachim.
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Vielen Dank, liebe Ule, für deine ergänzenden Bemerkungen. Vielleicht haben ja die von dir genannten Aspekte auch noch eine Rolle gespielt. Meine Ausführungen sind natürlich lediglich eine Interpretation der beiden so vorgefundenen Bäume. Klarheit über das, was in solchen Fällen wirklich passiert könnte nur eine Langzeitbeobachtung bringen. Und selbst dann kann man nicht sicher sein, ob nicht auch noch zufällige Einflüsse, wie Schädlinge u.Ä. bei derartig gestressten Pflanzen zu berücksichtigen wären. Jedenfalls zeugen die beiden Bäumchen von „Dramen“, die sich ganz im Stillen abspielen.
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O ja, Joachim, bei uns hat so ein stilles Drama dazu geführt, dass eine Eckstütze unbemerkt durch den Blauregenstamm ersetzt worden war. Die eigentliche Holzstütze war erst „erwürgt“ worden und der Rest dann weggefault.
Dabei fand ich es immer so schön, wenn der Blauregen blühend und grünend die Stütze verzierte …
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Eine lebende Stütze ist doch was ganz Besonderes – und wenn sie dann auch blüht… 🙂
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Das weiche Holz lebt allerdings nicht zuverlässig lange genug … wir haben das Naturereignis lieber durch weniger romantisches „Totholz“ ersetzt.
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Das kann ich gut verstehen. Sicher ist sicher.
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un wie so oft sind wir geneigt, solche Dramen in menschliche Verhältnisse zu übersetzen. der Scharotzer ist auch eine in der Literatur nicht sellten anzutreffende Figur – Dostojewski und Pirandello fallen mir grad ein …
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Der Schmarotzer wird erst dadurch zu einem, indem wir ihn aus der menschlichen Perspektive sehen. Wo du gerade Pirandello erwähnst. In seinem „Mattia Pascal“ sagt er an einer Stelle: „Gewiß doch, ja!“ dachte ich. „Diese Vergewaltigung, das ist der entscheidende Punkt. Jeder will den anderen die Welt aufzwingen, die er in sich trägt, als befände sie sich außerhalb seiner und als müßten alle sie auf seine Weise sehen, als könnten die anderen gar nicht anders sein, als er sie sieht.“
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O ja, das ist ein wunderbar passendes Zitat! Es charakterisiert, weit über die „Schmarotzerfrage“ hinaus, das Problem menschlicher Verständigung. So als ob die Hasenansicht der Welt des einen, die Fuchsansicht des anderen, die Wolfsansicht des Dritten, die Elefantenansicht des vierten, die Spatzenansicht des fünften etc absolut im Raum stünden, anstatt sie, wie es in der Natur ja geschieht, zu einem immer wieder durchgesetzten und immer auch gefährdeten Gleichgewicht zu bringen.
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Du hast es noch einmal schön auf den Punkt gebracht… 🙂
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Da schrieb letztens auch diese Baum Bestsellerautor drüber
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Meinst du Wohlleben? Weist du wo er darüber geschrieben hat?
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War auf Twitter, hier sein Tweet:
Drehwuchs ist für Bäume wichtig. Sie federn im Sturm besser, ohne zu brechen. Forstlich unerwünscht, da sich Bretter aus solchen Stämmen verziehen; diese Bäume werden oft gefällt, bevor sie sich vermehren. Wilde Reservate wichtig, um Genpool und damit gesunde Bäume zu erhalten.
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Vielen Dank für den Tweet! Den Drehwuchs hatte ich auch mal im ‚Programm‘: https://hjschlichting.wordpress.com/2018/10/08/drehwuchs-einer-laerche/
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