Im Schatten, den das geschriebene Wort wirft, verbergen sich dessen Geschwister. Man ahnt ihre Körper, Gesichter, Gerüche und Stimmen, so wie man eine Familienähnlichkeit bei flüchtig Bekanntem zwar ausmachten, aber nicht orten kann. Folglich ist der ungeschriebene Text immer länger – aber nicht vollständiger – als der geschriebene. Fehlt das gegenseitige Verweisen von Hell und Dunkel, Ausgesprochenem und Unausgesprochenem aufeinander, das heißt, geht es um einen ganz und gar ausgeleuchteten Text, dann gibt es auch nichts mehr zu verstehen.*
Als ich vor einigen Jahren an einem heißen Sommertag ein nicht sehr anspruchsvolles Buch las, schien die Sonne von hinten durch die Buchseite hindurch, die ich gerade auf der Schattenseite las. Es war in dieser Lage nicht zu verhindern, dass der Text spiegelverkehrt als Schatten der Buchstaben und Worte hindurchschimmerte und ich mich dabei erwischte, den umseitigen Text entziffern zu wollen. Das war schwierig aber auch herausfordernd. Interessanterweise mischte sich die Bedeutung der stückweise entzifferten spiegelverkehrten Schattenworte in die Bedeutung des normal gelesenen Textes mit ein. Daraus gingen teilweise kreative und inspirierende Einsichten hervor, die vom Autor des Buches nicht im Entferntesten intendiert waren. Daran wurde ich erinnert als ich das anregende Buch* von Dagmar Leupold las.
* Dagmar Leupold. Destillate. Frankfurt 1996, S. 53
Du bist sehr belesen und auch ich streiche oft um Buchhandlungen herum, lese aber vergleichsweise wenig. Wieso das immer noch so ist?
In Japan, so las ich einst, gibt es eine Kaufsucht von Büchern. Der Besitz allein all dieser Bücher vermag ein Quäntchen an Spirit bereithalten.
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Nachdem was ich inzwischen von dir mitbekommen habe, schätze ich auch dich als sehr belesen ein. Ich selbst leide nicht unter Kaufsucht, freue mich aber immer, wenn ich mal wieder etwas wirklich Neues finde. Ich muss außerdem gestehen, dass der Berg unbewältigter Bücher bei mir relativ hoch ist. Vermutlich werde ich in Zukunft meine Aktivitäten beim Bloggen etwas herunterfahren müssen, um hier eine Lösung zu finden. 😉
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Ich spiele relativ viel online Schach, das raubt Stunden, aber sein lassen will ich das auch nicht.
Eine „Bücherdecke“ besitze ich auch, bei einem Freund wandern allerdings diese über Stapel am Boden sogar ins Bett unter die Decke, als letzte Auswahl vor dem Schlummer.
Spätabends kann ich nicht lesen, da reichen die angeschalteten Gehirnzellen nicht mehr aus , um das gelesene zu erhellen .
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Das ist schön gesagt. Mit der Taschenlampe unter der Decke lesen, das war früher 😉 Bei der Aufzählung hst du deine Töpferarbeiten gar nicht erwähnt. Ich stelle mir vor, dass du da auch viel Zeit und Kreativität investierst.
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das wäre schade, Joachim! Dies ist wieder ein sehr inspirierender Text!
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Danke Gerda! Das tut der Seele gut. Aber ich habe das Lesen in der letzten Zeit wirklich vernachlässigen müssen. 😉
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Die Stapel der ungelesenen Bücher runterzuknuspern ist Lust und Last zugleich. Da müssen andere Tätigkeiten mal zurücktreten.
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ICH RATE…. Die Schatten der Buchstaben fallen hier auf einen Fliesenfußboden. Die Schrift bleibt hier unsichtbar.
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Genau so ist es. Der Schatten des senkrecht angebrachten Schriftzugs wird hier waagerecht auf dem Boden projiziert.
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Das ist ja interessant: Daß der senkrechte Schriftzug auf dem Boden (spiegelverkehrt) waagerecht auf dem Boden erscheint.
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Ja, das macht einen Teil des Reizes dieses Phänomens aus.
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😊
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🙂
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Ein anregender Beitrag – und das Buch werde ich mir zulegen. Stets auf der Suche nach dergleichen. Danke!
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Vielen Dank! Nach den Beiträgen in deinem Blog zu urteilen, wird dir das Buch von Dagmar Leupold sicher gefallen.
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Genau das dachte ich beim Lesen deiner Kurzbesprechung auch! Schöne Grüße
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🙂
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Das Foto begeistert mich sehr. Man sieht und zugleich auch nicht, was auch an der Wahl des Ausschnitts liegt.
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Ja, die Wahl des Ausschnitts ist oft sehr wichtig. Meist treffe ich sie bereits beim Fotografieren, wenn es kein „Urlaubsfoto“ sein soll.
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Beim „richtigen“ Fotografieren ist das Denken meist fern von der Welt der „Urlaubsfotos“. Beides berechtigt, mit sehr verschiedenen Ergebnissen.
Bei dir gibt es ja noch die Gruppe der dokumentarischen Fotos, die nicht selten auch mal einen Fuß in der Tür zum einen oder anderen haben.
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Stimmt, die dokumentarischen Fotos nehmen bei mir immer noch einen großen Raum ein. Dabei geht es um „Phänomene“, meist alte in neuem Kontext oder besserer Qualität. Inzwischen leider sehr selten auch um neue Phänomene.
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Die Menge für die Menschheit neuer Phänomene ist ja vermutlich durch bereits Entdecktes nicht messbar geringer geworden – liegt es daran, dass die neuen schwieriger zu fotografieren sind?
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Es gibt immer wieder etwas Neues und sei es nur ein Altes in einem neuen Kontext. Aber auch Dinge, die z.B. von Schriftstellern beschrieben und üblicherweise als „dichterisch“ abgetan werden. Manchmal steckt wirklich etwas dahinter.
Natürlich kann man nicht hoffen, noch ein Phänomen vom Kaliber des Regenbogens zu entdecken, das nicht schon irgendwo beschrieben worden wäre.
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Phänomene aus der Literatur auf ihren physikalischen … Gehalt untersuchen? Eine spezielle Form der Verarbeitung von Lektüre!
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Ja, so kann man es sehen. Oft dienen Natur- und Phänomenbeschreibungen in literarischen Werken (z.B. Romanen) dazu eine bestimmte „Atmosphäre“ zu schaffen und es kommt für die meisten Leser gar nicht darauf an, ob es sehr pauschal gesagt wird oder sogar falsch ist (z.B. der Vollmond, der um Mitternacht aufgeht). Aber manchmal stecken auch sehr genaue Beobachtungen dahinter, die es wert sind genauer betrachtet zu werden. Das ist für mich immer ein schöner Nebengenuss.
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So wird erklärlich, warum du nicht mal eben flott deine Lektürestapel gelesen kriegst. Forschung hält auf …
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Das Problem ist, dass ich zu viele Interessen habe. Aber das geht vermutlich vielen so…
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Das kommt mir sehr bekannt vor. Universalamateuse bin und bleibe ich, mag aber auch nichts kappen.
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Genau, das glaubte ich „auf die Ferne“ von der mitbekommen zu haben 😉
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